Die Menschen verstehen: Grenzüberschreitende Kommunikation in Theorie und Praxis

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2 Das Fundament von Albert Raasch als Gründer: über zwei Jahrtausende

Man kann nicht umhin, für eine (vielleicht die) Antwort hierauf auf die oben zitierte Aussage von Albert Raasch vom GAL-Kongressbericht 1970 zu rekurrieren: Rückstand aufholen! Diese seine Diagnose der Zeit um 1970 war in zweifacher Weise berechtigt.

2.1 GAL – AILA

Albert Raasch ging es wohl um die Angewandte Linguistik. Gerade auch er wusste qua seines Lebenslaufs jedoch, dass Anwendung ohne Theorie ein Salto Mortale sein würde. So empfanden dies – vor Deutschland – zu Beginn der 1960er Jahre bereits andere Europäer. Ergo: Im Jahre 1964 wurde in Nancy (Frankreich) eine Organisation namens Association Internationale de Linguistique Appliquée (AILA) gegründet. Weltumfassend wollte sie sein und ist es ja denn auch geradezu exorbitant schnell geworden. Vorbereitet worden war sie von Antoine Culioli und Guy Capelle, also von romanistischen Kollegen unseres Jubilars. Ziel dieser Weltorganisation war und ist es, die wissenschaftliche Öffentlichkeit für die Angewandte Linguistik zu sensibilisieren und diese zu fördern. Dies geschah mit großartigem Erfolg: Bereits 1969 – mithin erst wenige Monate nach der Gründung der GAL – umfasste diese internationale Dachorganisation AILA bereits 28 Mitglieder, d.h. nationale Tochterorganisationen (sogenannte national affiliates) als jeweilige Repräsentantinnen ihres jeweiligen Landes / Staates.

Nun, wie oben qua Albert Raasch angedeutet: Fraglos hatte Deutschland einen Nachholbedarf in Angewandter Linguistik. Diesen aber weitgehend eben nur wegen eines gleichermaßen dringlichen Desiderates in dem Feld, das man um 1968 Moderne Linguistik nannte, d.h. Theoretische Linguistik (Kap. 2.2.1).

Ein bloß ein Jahrhundert zurückreichender Blick beantwortet die oben gestellte Frage „Ist die Theoretische Linguistik ein Teil der Angewandten Linguistik? somit wohl mit einem Nein. Ein über zwei Jahrtausende zurückreichender Blick hingegen beantwortetet sie – wenngleich nicht uneingeschränkt – mit einem Ja, so doch zumindest begründet mit einem Jein bzw. doch mit einem eher überwiegenden Ja (Kap. 2.2.2).

2.2 Theorie contra (?) Anwendung
2.2.1 Strukturalismus und Generativismus als Nachholbedarf

Die Komparativisten, die (Post-)Humboldtianer (bis zur Weltanschauungstheorie von Sprache) sowie die Zweige der sogenannten Psychologie der Sprache (vs. spätere Psycholinguistik) bis zur (strittigen) sogenannten Völkerpsychologie reichend, die positivistischen Junggrammatiker (Neogrammarians) waren als Erbe des späten 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts zur Kenntnis genommen worden und dominierten die Philologien. Indes: Was sollte man mit den gesammelten Daten dieser Bemühungen anfangen, wie sollte man sie interpretieren? Dafür versuchten linguistische Schulen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – also in etwa bis zur Gründung der GAL – Antworten zu geben. Ohne die jüngere Geschichte der Linguistik zu rekapitulieren, hier nachfolgend nur sogennante ‚Schulen‘, bzw. deren Schwerpunkte, die sich 1968ff. die Angewandte Linguistik – im Rahmen damals angenommener Möglichkeiten – zunutze zu machen vermochte. Da waren, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen:

 Der heute üblicherweise als Vater – aus unserer Sicht eher als Großvater – des Strukturalismus bezeichnete Ferdinand de Saussure (1857-1913) mit seiner Genfer Schule sowie in Paris mit der parole, mithin auch gesprochener / geschriebener Sprache versus der langue und ihrer jeweiligen Struktur, innerhalb derer jedes einzelne Element eines Systems seinen Stellenwert (valeur) erst bestimmen kann – sei es z.B. ein Laut im phonetischen System, sei es ein Lexem im semantischen System einer Sprache –, zudem mit Sprache als organisiertem System mit sozialer Funktion und mit auf Oppositionen beruhenden sprachlichen Systemen. Dabei ist das Erbe von Beaudouin de Courtenay (1945-1929) und dessen früher Kazaner Schule spürbar.

 Die Prager Schule um und nach Roman Jakobson (später Harvard / USA), N. Trubetzkoy, V. Mathesius u.a. mit ihrer Betonung sprachenspezifischer Phonologie und dann auch der Morphonologie, der Sprache als Kommunikationsinstrument.

 Die Kopenhagener Schule der Glossematik von, um und nach Viggo Broendal und Louis Hjelmslev, in der Logik und Grammatik verbunden wurden, die aber sprachübergreifend auf die allgemeine Semiotizität von Zeichen ausgriff.

 Da waren auch und nicht zuletzt die diversen Ausdifferenzierungen US-amerikanischer Richtungen des Strukturalismus, so die YALE-Schule um Leonard Bloomfield, in deren Rahmen auf der Basis des Behaviorismus analytische Deskriptionsinstrumentarien für Sprachstruktur geschaffen wurden – allerdings um den Preis der semantischen Dimension. Der Nachdruck lag hier indes auf Deskription statt Präskription.

 Dagegen aber auch die von Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf begründete anthropologische Richtung, die über den innersprachlich analysierbaren Distributionalismus auf die Dimension der Wahrnehmung ausgriff: Sprache bedinge das Denken und dieses die Wahrnehmung der Wirklichkeit.

 Sodann die Generative Transformationsgrammatik mit ihrem Begründer Noam Chomsky. Erwachsen aus der YALE-Tradition von Zellig Sabbettai Harris griff er jedoch bereits in seinen Syntactic Structures (1957) über Sprache als ergon, also eines Strukturwesens, beschreibbar im hier und jetzt, hinaus und orientierte sich hin zu Sprache als energeia, mithin auf das Werden grammatischer Strukturen bezüglich deren logischer Organisation – unterstützt von Chomskys Herkunftsdisziplin, der Mathematik.

 Da war – in späteren Übersichten oft vergessen – auch die Britische Schule des Kontextualismus von und nach John Rupert Firth. Begründet auf der weltweit vergleichenden Anthropologie / Ethnologie (als Vertreter z.B. Malinowski (1986) oder Mead) wurde bereits erkannt, wie Sprachäußerungen vom verbalen, weiter physischen und noch weiter vom kulturellen Kontext abhängig sein mögen. Im Ergebnis stellte M.A.K. Halliday Sapir und Whorf auf den Kopf qua seiner Soziosemiotik, gemäß derer die sozial bedingte Wahrnehmung der Wirklichkeit das Denken und dieses erst dessen sprachlichen Ausdruck bestimme.

Fazit bis hier: Das oben zitierte Nachholen und Weiterentwickeln dieser theoretisch-linguistischen Ansätze ist unbestreitbar gelungen. Gilt dies indes auch für deren Anwendung(en)?

Man muss konzedieren: Für Anwendung – in welchen der eingangs für die GAL-Gründung genannten Fachbereiche bzw. Sektionen auch immer – waren die o.a. bahnbrechenden Errungenschaften keineswegs konstitutiver Impuls, noch waren sie Forschungsziele.

Dennoch zeitigten sie bei Anwendern, die sich wohlmeinend und oft mühsam mit den strukturalistischen, und also neuen Modellen vertraut gemacht hatten, bedingte Erfolge.

Diese zeigten sich etwa:

 in dem auf die Wandtafel projizierten oder an diese geschriebenen Viereck des Vokaldiagramms für den Fremdsprachenunterricht für 12-jährige Lerner oder

 im generativ-transformationellen Stammbaum für den Wechsel eines Aktiv- in einen Passivsatz beim Lernziel für 13-jährige Lerner.

Dies alles war wohl fortschrittlich und gut gemeint gewesen, aber aus heutiger angewandter Sicht gilt wohl eher: Die Theoretische Linguistik gehört in die Küche des Kochs, nicht aber auf den Teller des Kellners!

Der Ansatz Theorie contra Anwendung war also wohl kein wirklicher Fortschritt.

Dessen war sich sehr früh unser Jubilar bewusst – in Jahrtausende währender Tradition!

2.2.2 2000 und mehr Jahre Anwendung

Setzen wir nun die kurze Periode von der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Mitte des 20. Jahrhunderts (wie oben in 2.2.1.) in ihren sprachwissenschaftshistorischen Rahmen, dann fällt auf, dass die Schulen dieses Zeitabschnitts sich sprachbezüglich um Erkenntnis um der Erkenntnis selbst willen bemüht hatten. M.a.W. war der Forschungsgegenstand ‚Sprache‘ identisch mit dem Forschungsziel ‚Sprache‘, genauer also mit dessen Methoden zu seiner Analyse und Beschreibung. Dies geschah im Gegensatz zu langwährender Tradition. Für diese war Anwendung durchaus oft extralinguistisch konstitutiv, sowie häufig auch finalisierend. So – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – etwa:

 Sehr früh die Indische grammatische Schule von Panini (ca. 4. Jh. v.Chr.) und dessen Nachfolger: Sprache als System wurde erfasst mit Erkenntnissen, die (mor)phonologisch erst das 19. Jahrhundert wiederentdeckte. Dies indes mit dem konstitutiven Forschungsziel, die Gesetzmäßigkeiten der alten Vedatexte des Sanskrit festzuhalten – ein religiös bedingtes Forschungsziel also.

 Im antiken Griechenland fragte man sich, ob die Welt chaos oder cosmos sei. Ein Schlüssel zur Antwort sei Sprache gewesen, ist Sprache ja doch Teil der Wirklichkeit. Was mithin für Sprache als pars pro toto gelten mag, konnte auf die gesamte Wirklichkeit generalisiert werden. Die Beschäftigung mit Sprache musste somit als Test herhalten: Ist die Beziehung zwischen Laut und Bedeutung willkürlich (arbitrary), also von zwischenmenschlicher Konvention abhängig (so die sogenannten Anomalisten) oder ist sie natur- und damit göttergegeben (so die sogenannten Analogisten)? Konstitutiv für die sprachwissenschaftliche Reflexion war mithin ein angewandtes Ziel: Es war philosophischer und übergreifend sogar theologischer Natur.

 

 Die frühen arabischen Schulen: Ihnen ging es bei allen strukturellen linguistischen Erkenntnissen letztlich nicht um Erkenntnis um ihrer selbst willen, sondern ganz gezielt um den Fremdsprachenunterricht für Angehörige unterjochter Gruppen, denen man die Lektüre des Koran ermöglichen wollte, der in andere Sprachen halt nicht übersetzt werden durfte. Konstitutiv und hier auch klar finalisierend war wieder ein angewandtes Ziel linguistischen Tuns.

 Das Mittelalter Europas: Neben einer Betonung des Verhältnisses zwischen Grammatik und Logik war hier die Stufung philologia ancilla theologiae von Bedeutung, und mithin auch hier wieder ein der Religion dienendes, angewandtes Ziel.

 Die Entwicklung der Philologien von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis zu den Komparativisten und Junggrammatikern des 19. Jahrhunderts war letztlich gleichermaßen angewandt motiviert. Die Erkundung und Beschreibung von Sprachen außerhalb der eigenen Sprache sowie des Griechischen und Lateinischen lieferte zwar ein nicht überschätzbares Fundament für deren historische sowie synchrone Analysen mittels der theoretisch-methodischen Instrumentarien der gegenwärtigen Linguistik. Indes waren diesen übergeordnete, angewandte Interessen der Auslöser für jene bahnbrechenden sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse: Wo stehe ich mit meiner Sprache, meinem Denken, meiner Kultur im Verhältnis zu anderen? Verstärkt durch die Romantik ergab sich beispielsweise auch die Frage: Was sagt mir die nunmehr thematisierte Geschichte meiner Sprache über meine sprachlich-kulturellen Wurzeln?

3 Albert Raasch: frühe Schwerpunkte und Wegweisungen für heute

Wer sich des Titels dieser Festschrift bewusst ist und mit der Biobibliographie des Jubilars einigermaßen vertraut ist, wird (kritisch) erkannt haben, dass die Absätze 1 und 2 dieses Beitrages in ihrer Auswahl auf Anwendungen die Arbeiten von Albert Raasch bereits im Blick hatten.

Mit seiner vorangehend nur knapp umrissenen angewandten Tradition verbinden ihn – wie auch aus seinem sehr umfänglichen Schrifttum gut entnehmbar – insbesondere:

 Die Sprachwissenschaft als Schlüssel zu Kulturen und deren Interaktion, so für den deutsch-französischen Grenzraum seines Saarbrücker Wirkungskreises als Ordentlicher Professor an der Universität des Saarlands von 1973 bis 1999. Somit war als konstitutives Element seiner Forschung das grenzübergreifende Verstehen ein finalisierendes Element. Als Handlungsanweisungen dieses konstituierenden Ziels als dessen präzisierende Finalisierung ergaben sich konkret vorgeschlagene Verbesserungen des Fremdsprachenunterrichts.

 Die Sprachwissenschaft als ancilla der Politik – so Deutschland, insbesondere sein Saarland, und dessen westliche Nachbarn sowie auch (damals noch selten!) dessen östliche Nachbarn, besonders Polen, als konstituierender Auslöser seiner Arbeiten mit konkret finalisierenden Handlungszielen und -materialien innerhalb der Fremdsprachendidaktik.

 Die Sprachwissenschaft als Kern für weiterreichende, anzustrebende interkulturelle Kompetenz, stets wieder in konkrete sprachdidaktische Handlungsanweisungen als Finalisierung mündend.

 Die Betonung des Altersparameters der Lernenden, so insbesondere sein für viele Seminare, Vorträge und Publikationen konstituierendes angewandtes Element: ‚Spezifika des Erlernens einer Fremdsprache als Erwachsene‘, die zu stets wieder konkreten Anweisungen für einen derart differenzierten Fremdsprachenunterricht führten, dessen es so noch ermangelt(e).

 Ein auch bildungspolitisch durchgängiges Plädoyer für die Angewandte Linguistik in ihrem derzeitigen und erstrebenswerten Verhältnis zur Theoretischen Linguistik. Allein in diesem Kontext agierte er als Co-Autor – meist aber als Co-Editor – mit dem Verfasser in circa zehn Buchpublikationen, meist mehrbändigen GAL-Kongressberichten.

Fazit: Albert Raasch weist Anwendungs-Wege – dies aber nicht im Sinne direkter Projektionen theoretischer Linguistik ins Klassenzimmer oder auf den Computer. Sein sprachwissenschaftliches Tun war und ist vielmehr stets geleitet von einem jeweils gesellschaftsrelevanten Problem als konstitutiver Motivation, sondierte dann die aktuell von linguistischen Theorien bereitgestellten Instrumente bezüglich deren Tauglichkeit zur Handhabung des jeweiligen Problems und führte qua bereitgestellter, ausgewählter Theorien zu konkreter Finalisierung, d.h. zu nachvollziehbaren Handlungsanweisungen.

Ergo: die derzeitige Angewandte Linguistik tut gut daran, dem Jubilar Albert Raasch als Wegweiser weiterhin zu folgen.

Literatur

Althaus, H. P. et al. (21980) (Hrsg.). Lexikon der Germanistischen Linguistik. Tübingen: Niemeyer.

Chomsky, Noam (1957). Syntactic Structures. 's-Gravenhage: Mouton.

Firth, John R. (1934-1951). Papers in Linguistics. Oxfort: OUP.

Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL e.V.) (n.d.). (https://gal-ev.de/; 21.04.2020).

Ivić, Milka. (1965). Trends in Linguistics. London, The Hague & Paris: Mouton.

Kühlwein, Wolfgang (1980). Angewandte Linguistik. In: Althaus, H. P. et al. 1980: 761-768.

Malinowski, Bronislaw (1986). Schriften zur Anthropologie. Frankfurt am Main: Syndikat.

Sapir, Edward (1921 / 2014). Language: An Introduction to the Study of Speech. London et al.: Oxford Univ. Press / Cambridge et al.: Cambridge Univ. Press.

Saussure, Ferdinand de (31949). Cours de linguistique générale. Paris : Payot.

Whorf, Benjamin Lee (51962). Language, Thought, and Reality: Selected Writings of Benjamin Lee Whorf. Cambridge, Mass.: M.I.T. Press.

„Die Nachbarn verstehen” … in der grenzüberschreitenden Berufsbildung

Sprachenpolitik, Praktiken und Projekte in der Großregion SaarLorLux

Claudia Polzin-Haumann

1 Einführung und Vorüberlegungen

Der Aachener Vertrag (2019), Nachfolger des Élysée-Vertrags von 1963, unterstreicht die Bedeutung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sowie den spezifischen Charakter von Grenzregionen. Er bringt in Kapitel 4 („Regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit“), Artikel 13 und 15, die Absicht zum Ausdruck, Schwierigkeiten zu überwinden, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit behindern könnten. Darüber hinaus verweist er ausdrücklich auf das Ziel der Zweisprachigkeit und formuliert die Verpflichtung der beiden Unterzeichnerstaaten, die lokalen Akteure bei der Entwicklung geeigneter Strategien zu unterstützen, um dieses Ziel zu erreichen (Bundesregierung 2019).

Einer der vielen Themenbereiche, die sich durch das Lebenswerk von Albert Raasch ziehen, ist das (Fremd)Sprachenlernen in Grenzregionen. Ab dem Ende der 1990er Jahre betont der Jubilar die Notwendigkeit einer spezifischen Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen (Raasch 1998 und 1999, 2002) im Kontext einer europäischen Bildungs- und Sprachenpolitik, die sich immer stärker dem Phänomen der Mehrsprachigkeit und seinen verschiedenen Facetten öffnet. Dieses Thema soll daher – ausgehend von Raasch (2003) – im vorliegenden Beitrag aufgegriffen und auf einen gerade in der Gegenwart wichtigen Bereich ausgedehnt werden: die grenzüberschreitende Berufsausbildung. Ganz im Sinne des Jubilars geht es also um Sprachenpolitiken und ihre Umsetzung bzw. die Frage, wie sich politische Programmatiken und Vorgaben in der alltäglichen Kommunikationspraxis spiegeln.

Die grenzüberschreitende Berufsausbildung steht ebenfalls seit langem im Fokus der europäischen Wirtschafts- und Bildungspolitik. So heißt es etwa schon in der Lissabon-Erklärung aus dem Jahr 2000 unter Punkt 26:

Bis Ende 2000 sollten die Mittel zur Förderung der Mobilität von Schülern und Studenten, Lehrern sowie Ausbildungs- und Forschungspersonal sowohl durch eine optimale Nutzung der bestehenden Gemeinschaftsprogramme (Sokrates, Leonardo, Jugend) – durch die Beseitigung von Hindernissen – als auch durch mehr Transparenz bei der Anerkennung von Abschlüssen sowie Studien- und Ausbildungszeiten bestimmt werden. (Europarat 2000)

Auch 20 Jahre später hat der Anspruch der „Beseitigung von Hindernissen“ nichts von seiner Aktualität verloren. Wie noch genauer gezeigt werden wird, spielt hier gerade die Sprachenfrage eine wichtige Rolle. Im Folgenden soll der Blick auf die Region SaarLorLux gerichtet werden, wobei ein besonderer Fokus auf dem deutsch-französischen (saarländisch-lothringischen) Grenzraum liegt.

2 Grenzüberschreitende Berufsbildung in der Großregion SaarLorLux I: Strukturen, Programme, Akteure

Die Großregion SaarLorLux besteht auf deutscher Seite aus dem Saarland und Teilen von Rheinland-Pfalz, in Frankreich aus der ehemaligen französischen Region Lothringen (Departements Moselle, Meurthe-et-Moselle, Meuse und Vosges), dem Großherzogtum Luxemburg sowie der Wallonie (französische Gemeinschaft und deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien). Mit einer Fläche von 65.401 km² und einer Bevölkerung von 11,6 Millionen Einwohnern gilt sie als größte grenzüberschreitende Region Europas (http://www.granderegion.net/; 07.05.2020). Sie ist nicht nur die größte grenzüberschreitende Region in Bezug auf Fläche und Bevölkerung, sondern auch die Region mit der höchsten Anzahl von Grenzgängern in der EU (täglich rund 240.000 Pendler; ebd.). Die überwiegende Mehrheit der Grenzgänger, im Jahr 2018 ca. 170.000, pendelt dabei ins Großherzogtum Luxemburg. Das Saarland zieht täglich 16.300 lothringische Pendler an, wohingegen die Zahl in umgekehrter Richtung sehr viel geringer ausfällt (Les offices statistiques de la Grande Région 2018: 17).

Die Durchlässigkeit der nationalen Berufsbildungssysteme und die Öffnung dieser Systeme, die durch die oben erwähnte EU-Politik ermöglicht wurde, ist zweifellos in den Arbeits- und Wirtschaftsregionen am deutlichsten spürbar, die jeweils an der Peripherie ihrer Nationalstaaten liegen.1 Das größte Potenzial für berufliche Mobilität zwischen benachbarten Regionen besteht dann, wenn bei geringer geographischer Entfernung deren wirtschaftliche Situation (z.B. Arbeitslosenquote) und demographische Strukturen voneinander abweichen, wie dies im Raum SaarLorLux der Fall ist (Les offices statistiques de la Grande Région 2018: 18). So sind etwa angesichts der alternden Bevölkerung im Saarland Anstrengungen erforderlich, um junge Menschen für eine (grenzüberschreitende) Berufsausbildung zu gewinnen; zugleich ist die Jugendarbeitslosigkeit in Lothringen vergleichsweise hoch. Eine Arbeitsmarktpolitik, die auf grenzüberschreitende Mobilität setzt, liegt daher nahe. Mit der im November 2014 unterzeichneten Rahmenvereinbarung über die grenzüberschreitende Berufsbildung in der Großregion (RVGR 2014)2 wurde hierfür ein politischer Rahmen3 geschaffen, der sowohl die Aus- als auch die Weiterbildung betrifft, und auf dessen Grundlage umfassendere Programme entwickelt werden konnten.4

Mittlerweile hat sich auf unterschiedlichen Ebenen ein dichtes Netz an grenzüberschreitenden Strukturen und Programmen etabliert, von Bildungseinrichtungen (Sekundarschulen, berufliche Schulen, Universitäten) über Arbeitsagenturen und Verbände bis hin zu einzelnen Unternehmen (vgl. auch Dörrenbächer 2018). Alle tragen zur Umsetzung, Ausweitung und Gestaltung grenzüberschreitender Ausbildungsmobilität auf ihrer Ebene bei.

Beispielhaft sollen im Folgenden einige dieser Akteure aus dem Schulbereich mit ihren Aktivitäten kurz vorgestellt werden, um das Spektrum der Kooperationen im deutsch-französischen (saarländisch-lothringischen) Grenzraum zu illustrieren.

Verschiedene berufliche Schulen im Saarland bieten grenzüberschreitende Ausbildungsgänge an. So arbeitet etwa das Berufsbildungszentrum (BBZ) St. Ingbert im Bereich Automobil mit dem Lycée André Citroën in Marly zusammen. Die Auszubildenden erhalten im Rahmen dieser Kooperation eigenen Französischunterricht, auch im fachsprachlichen Bereich. Vorgesehen im Ausbildungsprogramm sind außerdem zwei Tagesbesuche und ein einwöchiger Aufenthalt sowie zwei dreiwöchige Praktika in einem französischen Betrieb.5

 

Ein anderes Format wird beispielsweise im Technisch-gewerblichen Berufsbildungszentrum (TGBBZ) Dillingen praktiziert. Hier wird in der Abteilung Elektrotechnik regelmäßig ein Schüleraustausch mit der Partnerschule in Freyming-Merlebach organisiert. So haben im Januar 2020 sieben Schüler des Lycée Ernest Cuvelette in Freyming-Merlebach das TGBBZ Dillingen besucht. Die gemeinsame Arbeit umfasste fachliche (Installationsschaltungen) und metasprachliche Aspekte (Entwicklung eines deutsch-französischen Fachwörterbuchs). Eine ähnliche Veranstaltung ist demnächst an der lothringischen Partnerschule geplant.6

Eine dritte Variante ist schließlich z.B. im Technisch-gewerblichen Berufsbildungszentrum (TGBBZ 2) in Saarbrücken anzutreffen. Schülerinnen und Schüler im Ausbildungszweig Hotel- und Gaststättengewerbe haben die Möglichkeit, an einem deutsch-französischen Zweig teilzunehmen, in dessen Rahmen sie zusätzlich zum normalen Schulprogramm mindestens einmal an einem dreiwöchigen Azubi-Austausch mit Montpellier (inklusive Betriebspraktikum), regelmäßig an einem zweistündigen Zusatz-Sprachkurs Französisch sowie an mindestens einer Exkursion ins französischsprachige Ausland teilnehmen. Die Aktivitäten werden eigens bescheinigt.7

Ebenfalls u.a. mit Montpellier unterhält das Kaufmännische Berufsbildungszentrum (KBBZ) Halberg Austauschprogramme, die durch ProTandem (vormals das deutsch-französische Sekretariat für den Austausch in der beruflichen Bildung, DFS) finanziert und gerahmt werden. „Die Austausche in der beruflichen Bildung sind elementarer Bestandteil unserer Frankreichstrategie“, schreibt die Schule auf ihrer Homepage (http://kbbz-halberg.de/austausch/; 07.05.2020). Vorbereitet werden die Teilnehmenden des deutsch-französischen Berufsschulzweigs Tourismus darauf u.a. in einem Kurs „Maîtriser la communication professionnelle – Französisch mit Schwerpunkt: Sprechen“.8

Dieser kurze Blick auf bestehende Programme und Initiativen auf der Ebene der beruflichen Schulen9 verdeutlicht nicht nur die unterschiedlichen Branchen, sondern auch die verschiedenen Formate, in denen grenzüberschreitende Ausbildung im hier betrachteten Raum stattfindet:

 grenznah vs. grenzfern

 sporadische gegenseitige Besuche vs. strukturierte Programme

 durch die Schulen bzw. die jeweiligen Lehrkräfte organisiert vs. im Rahmen von spezifischen Mobilitätsprogrammen

 gestützt vs. nicht gestützt durch spezielle Sprachlehrangebote

 mit vs. ohne externe Zertifizierung.

Jedes dieser Formate impliziert spezifische Anforderungen an die sprachlichen Kompetenzen der Auszubildenden und folglich auch an die Lehr- / Lernszenarien, um sie angemessen auf solche grenzüberschreitenden Mobilitätserlebnisse vorzubereiten.

Im Unterschied zu den Schulen agiert die Fachstelle für grenzüberschreitende Ausbildung (FagA; frz.: Centre d’aide à la mobilité transfrontalière, CAMT) – ein Zweig der unternehmerischen Initiative Verbundausbildung Untere Saar e.V. (VAUS) – auf übergeordneter Ebene. Die FagA / CAMT, die seit 2016 im Rahmen eines Interreg-Projekts besteht (vgl. auch Dörrenbächer 2018: 292f.), organisiert und fördert Praktika für Jugendliche aus Lothringen, dem Saarland und der Westpfalz in den jeweiligen Nachbarländern, mit dem Ziel, durch konkrete organisatorische und finanzielle Unterstützung von Praktika und Ausbildungsaufenthalten im gewählten Land die Bereitschaft der Jugendlichen zu erhöhen, praktische Erfahrungen in den Nachbarländern zu sammeln. Damit soll letztlich ihre Beschäftigungsfähigkeit für den grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt gestärkt werden.10 Die FagA / CAMT arbeitet vor allem grenznah und kann mittlerweile als wichtigster Akteur im Bereich der grenzüberschreitenden Berufsausbildung in der Großregion angesehen werden. Die Zahl der organisierten Praktika, insbesondere von Frankreich nach Deutschland, ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Der Erfolg des Angebots ist offensichtlich darauf zurückzuführen, dass es nicht nur grenzüberschreitende Praktikumsangebote sammelt, kommuniziert und finanzielle Unterstützung leistet, sondern auch aktiv auf alle relevanten Akteure zugeht. Dabei bewegen sich die Leistungen auf vielerlei Ebenen – vom Abschluss vertraglicher Vereinbarungen mit den Berufsschulen über den Kontakt zu Gastunternehmen bis hin zu einer sehr engen Begleitung der Jugendlichen (vgl. Nienaber et al. (im Druck)). Während allerdings bei den Aktivitäten und Programmen in den beruflichen Schulen der Aspekt des Sprachenlernens – wenn auch in unterschiedlichen Formen – mitgedacht wird, ist dies bei der FagA / CAMT zumindest bislang nicht der Fall. Entsprechend wird hier die Sprachbarriere als ein erhebliches Hindernis wahrgenommen: Ein großer Teil der Jugendlichen, die mit Unterstützung von FagA / CAMT ein Praktikum in einem Nachbarland absolviert haben, verfügte über geringe oder gar keine Sprachkenntnisse (A1-A2; ebd.).

Hier deutet sich an, dass für die Umsetzung des Slogans „Ab ins Nachbarland! – Grenzüberschreitende Ausbildung Saarland-Lothringen“, mit dem die IHK Saarland für eine grenzüberschreitende Ausbildung wirbt11, noch wichtige Arbeiten zu leisten sind.