DIAGNOSE F

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Komm runter, befahl sie sich selbst. Du bildest dir etwas ein! Aber ihr Kopf gehorchte ihr nicht. Kalter Schweiß überzog ihre Stirn und ihren Nacken.

Ich muss hier weg!

Mit beiden Armen rudernd, arbeitete sie sich durch den Menschenstrom auf den gegenüberliegenden Ausgang zu. Die empörten Rufe ignorierte sie.

Zu Hause griff sie nach einer Tablettenpackung und nahm zwei Beruhigungspillen ein. Dann kauerte sie sich auf ihr Bett. Langsam normalisierten sich Puls und Atmung. Einen Moment lang hatte sie tatsächlich geglaubt, dass man sich nach dem Fehlschlag in der Praxis in aller Öffentlichkeit an die Daten in ihrem Chip heranmachen wollte. Das war natürlich völliger Blödsinn. Sie war überreizt.

Wer sollte man sein?

Das Grübeln führte zu keiner Antwort. Ihr fielen die Augen zu.

Als sie wieder erwachte, war es draußen dunkel, und jemand hatte eine dünne, weiche Decke über sie gebreitet. Auf dem Nachttisch standen ein Teller mit belegten Broten und eine Flasche Limonade. Sie erinnerte sich daran, dass sich ihre Mutter angekündigt hatte. Francesca fühlte sich entspannt. Der Stress des Nachmittags war abgeklungen. Die Medikamente trugen sicherlich dazu bei.

Die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete sich, und ihre Mutter steckte den Kopf herein. »Wusste ich doch, dass ich etwas gehört habe. Bist du endlich aufgewacht? Hat dich der Arztbesuch so geschafft?«

Francesca atmete tief durch und berichtete von den Ereignissen. Während sie erzählte, schüttelte die Mutter mehrmals ungläubig den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Arzt so etwas vorhatte. Sonst hat er sich doch immer vernünftig verhalten.«

Francesca knetete ihre Hände. »Aber das ändert nichts daran, was ich gesehen habe.«

Ihre Mutter sah nachdenklich in eine Ecke des Raumes. »Und wenn du dich getäuscht hast? Wenn auf dem Bildschirm etwas ganz anderes stand?«

»Du meinst, weil ich mir etwas eingebildet habe?«

»Immerhin hast du mehrmals Dinge gesehen, die nicht da waren.«

»Klar!«, rief Francesca. »Ich bin die Verrückte, die sich alles einbildet. Mama, ich nehme jeden Tag gefühlt zwanzig Tabletten, um das zu unterdrücken. Das sind Scheinreize in meinem Gehirn. Abgespielte Gedächtnisinhalte. Visuelle Phantomschmerzen.« Ihre Stimme wurde eindringlich. »Heute waren es Worte auf einem Bildschirm!« Sie ging zum Fenster und sah hinaus auf die Straße drei Stockwerke unter ihr.

Ihre Mutter trat hinter sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Du bist momentan so empfindlich.«

»Schon gut, Mama.« Sie drückte die Hand ihrer Mutter. »Ich weiß, dass du es gut meinst.«

»Mir fällt einfach kein Grund ein, warum dein Arzt so etwas tun sollte.«

»Was weiß ich? Vielleicht hat ihn ja einer angestiftet.« Dieser Gedanke beunruhigte Francesca, kaum dass sie ihn ausgesprochen hatte. Sie schwieg aber, um die Diskussion mit ihrer Mutter nicht weiter anzuheizen.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite spazierte ein Mann in einem schwarzen Mantel und mit schwarzem Hut auf ihr Haus zu. Von der anderen Seite näherte sich eine Gestalt in dunkler Jacke und mit einer Mütze auf dem Kopf. Sie begannen ein Gespräch. Warf der mit dem Hut nicht immer wieder Blicke zu ihrem Fenster hinauf? Schlagartig verflog ihre innere Ruhe.

Francesca wich zurück und löschte das Licht. Ihr Herz hämmerte. Der Schein der Straßenbeleuchtung erhellte den Raum spärlich. Dennoch konnte sie den verwirrten Gesichtsausdruck ihrer Mutter erkennen.

»Ich glaube, dort draußen beobachtet uns jemand«, flüsterte Francesca, obwohl ihr das im nächsten Augenblick sinnlos vorkam. Sie ergriff die Hand ihrer Mutter und zog sie an die Wand neben dem Fenster. Die Spaziergänger hatten sich getrennt und entfernten sich in entgegengesetzte Richtungen. »Die beiden da.« Sie deutete nach unten. »Die haben sich unterhalten, und einer hat immer wieder zu mir hoch gesehen.«

Die Mutter warf nur einen kurzen Blick auf die Straße. Ihre mitleidsvolle Miene konnte sie nicht verbergen, als sie Francesca sanft zum Bett schob. »Ich glaube, du täuschst dich, mein Schatz. Ich schlage vor, du ruhst dich jetzt aus, und morgen sprichst du noch einmal mit deinem Arzt.«

Francesca wollte aufbegehren, aber ihre Mutter ließ nicht mit sich reden.

Bevor sie einschlief, entdeckte sie auf dem Smartdevice einen weiteren elektronischen Brief von DeepFlow. Die Firma bot ihr nunmehr eine Prämie an, wenn sie den Chip mit ihrer Unterstützung würde extrahieren lassen. Als Wiedergutmachung für die Unannehmlichkeiten. Sie löschte die Nachricht.

Am nächsten Morgen versuchte sie, das Erlebte einzuordnen. Sie hatte gestern sicher nicht die beste psychische Verfassung gehabt. Doch die Wahrnehmungen in der Praxis waren so plastisch gewesen, so ganz anders als die bisherigen Einbildungen. Und: Irgendetwas war mit ihrem Chip passiert. Danach hatte sie unter Stress gestanden. Das mochte die Empfindung, beobachtet zu werden, erklären.

Sie befolgte dennoch den Rat ihrer Mutter und telefonierte mit Doktor Malecha. Egal, ob er etwas damit zu tun hatte oder alles nur ein großes Missverständnis gewesen war – sie wollte diese dunkle Phase ihres Lebens endlich abschließen. Dieser Wunsch war stärker als alle Bedenken. Nur noch ein paar Sitzungen, und danach sah sie ihn ohnehin nicht wieder.

Schweigend hörte er sich an, was sie zu sagen hatte, und nahm ihre Entschuldigung an. Er schlug eine Überprüfung der Medikamentenzusammenstellung und weitere absichernde Untersuchungen vor. Für die Nanoinfusion wollte er einen Kollegen hinzuziehen. Francesca wunderte sich, aber schließlich konnte eine zweite Meinung nicht schaden. Sie stimmte zu.

Entspannungsmusik wehte sanft durch den fensterlosen Behandlungsraum, und wabernde Lichtflecken in warmen Farben glitten über Wände und Decke.

Francesca saß im Unterhemd auf dem Behandlungsstuhl und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen.

Sie studierte die Geräte auf dem Anbau des Stuhls. Zwei dünne Plastikschläuche führten aus dem glatten, weißen Gehäuse des Anbauteils zu der Infusionsspritze mit der feinen Nadel, die ihr die Nanoagenten in die Blutbahn jagen sollte. Durch einen der Schläuche wurden die Agenten in einer Salzlösung zugeführt. Der andere leitete ein Plasma mit Biobausteinen in die Spritze. Diese Bausteine waren das Material, mit dem die Agenten das geschädigte Nervengewebe rekonstituieren sollten.

Sie hörte raschelnden Stoff hinter sich und drehte den Kopf. Durch die offene Tür konnte sie beobachten, wie die Assistentin ihren Mantel überzog und die Praxis verließ. Francesca runzelte die Stirn. Ging die Frau schon in den Feierabend?

Ein paar Minuten lang nahm sie nur den Klangteppich wahr. Hatte man sie vergessen? Die Atmosphäre des Alleinseins trug nicht zu ihrer Entspannung bei. Musik und Farbenspiel änderten daran nichts.

Als ihr das Hintergrundgedudel langsam auf die Nerven ging, hörte sie Schritte auf dem Gang. Doktor Malecha betrat in Begleitung eines weiteren Mannes, ebenfalls in einen Kittel gekleidet, das Behandlungszimmer. Der Kittel des Fremden saß bemerkenswert schlecht. Das breite Kinn war mit einem ungepflegten Dreitagebart bedeckt, dafür lagen die schwarzen Haare perfekt.

»Entschuldigen Sie die Verspätung, Frau Ivorno. Ich habe eben mit meinem Kollegen Ihre Untersuchungsergebnisse begutachtet«, begrüßte sie ihr Arzt. Der andere Mann nickte ihr betont freundlich zu. »Er wird bei Ihrem Eingriff dabei sein.«

Hat der Kollege auch einen Namen?, dachte Francesca unwillig.

Malecha setzte sich an das Bedienpult des Behandlungsstuhls und nahm Einstellungen vor. Sein Kollege sah ihm interessiert zu. Er hielt die Hände vor dem Bauch gefaltet. An mehreren der fleischigen Finger steckten goldene Ringe. Einer davon trug einen markanten schwarzen Edelstein.

Nimmt er vor dem Eingriff den Schmuck nicht ab?

Francescas Arzt zog sich Latexhandschuhe über und griff nach der Infusionsspritze. »Dann wollen wir mal.« Sein Versuch eines beruhigenden Lächelns misslang. Er machte eher ein verkniffenes Gesicht, als ob er etwas Verdorbenes gegessen hatte. Die Spritze in seiner Hand zitterte leicht.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Francesca. Sie dachte an ihren letzten Termin, und ihre Hände wurden feucht.

»Natürlich geht es mir gut. Es ist nur …«

»Er hat einen Notfall in der Familie«, unterbrach sein Kollege. Die Stimme klang tief und grollend. »Wir sollten es schnell hinter uns bringen.« Er legte dem Arzt die Hand auf die Schulter.

»Sollen wir das noch einmal versch…«, begann Francesca.

»Wir ziehen das jetzt durch«, fiel ihr der Schwarzhaarige grob ins Wort. Er schien keinen Wert darauf zu legen, einfühlsam mit seiner Patientin zu kommunizieren.

Malecha fügte sich und schickte sich weiterhin an, die Infusion durchzuführen.

»Ich glaube, ich möchte das nicht.« Francesca wollte sich aufrichten, aber der Schwarzhaarige drückte sie an der Brust zurück auf den Stuhl.

»Seien Sie nicht albern!«, schnauzte er sie an. »Es gibt keinen Grund für eine Kurzschlusspanik. Sie müssen da jetzt durch.«

»Aber ich …«

»Ruhe jetzt! Los, gib ihr die Injektion!«

Während der bärtige Mann mit einem Arm ihren Oberkörper in den Sitz drückte und ihr die andere Hand auf den Mund presste, setzte der Arzt die Infusionsspritze an ihren Hals. Der Stein des Fingerrings bohrte sich in ihr linkes Nasenloch. Francesca bekam kaum noch Luft. Sie zerrte an der Pranke auf ihrem Gesicht und versuchte aufzustehen, doch der Griff blieb unbarmherzig. Bunte Punkte tanzten vor ihren Augen. Es zischte, als die Infusionsflüssigkeit durch die winzige Nadel in ihren Körper schoss.

 

Der Druck des Arms auf ihrer Brust löste sich. Die Hand gab ihren Mund wieder frei. Gierig nahm sie einen kräftigen Atemzug. Tränen flossen ihre Wangen hinab. Sie wollte protestieren, aber sie war zu keinem Wort fähig. Der Schock über den rüden Umgang saß tief. Nur Schluchzer brachen zwischen ihren Lippen hervor. Sie presste beide Hände vor das Gesicht.

»Und? Wie läuft es?«, hörte sie die grollende Stimme.

»Wie vorgesehen«, antwortete ihr Arzt matt. »Die Injektion wird gleich wirken.«

Francesca horchte in sich hinein. Spürte sie irgendetwas? Schmerz? Irgendwelche Erscheinungen? Nein, da war gar nichts. Nur ein Gefühl der Leere.

Sie löste die Hände vom Gesicht. Der Tränenschleier vor ihren Augen verzerrte die Umrisse der Männer. Sie wischte die Tränen fort. Ihre Sicht blieb trotzdem verschwommen.

»Gleich bekommen Sie nichts mehr mit.« Der Fremde lachte.

Francesca sah ihren Arzt an. Der starrte zu Boden.

»Was … was bedeutet …?«, stammelte sie. Die Worte zu formen fiel ihr seltsam schwer.

Der bärtige Mann lachte erneut. »Das bedeutet, dass du gleich friedlich schläfst, während wir den Chip aus deinem Schädel holen.«

Eine frühere Feststellung von Doktor Malecha wühlte ihre trägen Gedanken auf: Die Gefahr weiterer Verletzungen durch eine Extraktion des Chips ist viel zu hoch.

Francesca wollte erneut aufspringen und fliehen. Aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Kein Muskel reagierte, ihre Finger fühlten sich taub an. An den Rändern ihres Sichtfeldes waberten schwarze Schatten als Vorboten der Bewusstlosigkeit.

Eine Erkenntnis leuchtete in der schwammigen Emotionsemulsion auf, in der ihr Geist jetzt trieb. Die Injektion hatte keine Nanoagenten enthalten, sondern ein Betäubungsmittel. Dessen Wirkung war unausweichlich, so sehr sie sich auch dagegen wehrte.

Immer kleiner wurde der Ausschnitt der Wirklichkeit, den sie wahrnahm. Francesca fiel durch tiefe Dunkelheit. Regenbogenfarbene Streifen schossen vorüber, markierten eine Achterbahn, auf der sie dahinraste. Bilder tauchten schlaglichtartig links und rechts der Strecke auf. Abstrakte Darstellungen, Szenen wie aus einem Film.

Ein Stoß warf ihren Körper aus der Bahn. Ein Schrei dröhnte durch den stockfinsteren Raum. Ein zweiter Schrei, der den ersten überlagerte, ihn auslöschte. Keuchen. Ein weiterer Stoß.

Francesca öffnete die Augen und sah, wie der Schwarzhaarige ihren Arzt gegen ein Schrankregal drückte. Wie in einem Zerrspiegel verschwammen die Konturen der Männer.

Sie glitt zurück in die Schwärze, kämpfte, tauchte wieder empor. Zwang ihre Augenlider nach oben.

Ein weiteres verschwommenes Bild. Der fremde Mann brach mit blutverschmierter Stirn zusammen. Malecha hielt einen schmalen Gegenstand in der erhobenen Hand. Er wartete einige Augenblicke ab. Als sich sein Gegner nicht mehr rührte, humpelte er zu Francesca herüber.

Blut sickerte aus seinem Haaransatz hervor und rann über sein Gesicht. Er weinte. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Können Sie mich hören?«

Francesca nickte.

Er fummelte etwas aus einem Fach in dem Bedienpult. Eine Spritze. Die junge Frau zuckte zusammen. »Das hebt die Betäubung auf«, erklärte er und stach die Nadel in ihren Oberarm, drückte den Kolben in den Zylinder. Bereits nach Sekunden klärten sich Francescas Sinne, und Gefühl kehrte in ihre Gliedmaßen zurück. Lippen und Zunge waren trocken.

Ihr Retter brach vor ihrem Behandlungsstuhl auf die Knie. »Sie hätten das Angebot annehmen sollen.« Er atmete schwer.

»Was für ein Angebot?«

»Den Chip zu entfernen. Sie haben Ihnen doch sogar Geld geboten.«

Francesca fuhr sich verwirrt durch die Haare. Ein Angebot? Geld? DeepFlow! »Sie meinen die Firma?«

Er nickte schwach. Sein Kittel war an der Seite aufgerissen. Blut troff aus dem Riss, und etwas Längliches ragte daraus hervor.

»Sie sind ja verletzt! Was ist überhaupt passiert? Wer ist das?« Sie deutete auf den reglosen Körper auf dem Boden.

»Er arbeitet für DeepFlow. Sie haben mich gezwungen.« Sie verstand ihn kaum, so leise redete er.

»Zu was gezwungen?«

»Die Daten auf dem Chip. Es gab Hunderte Ausfälle in letzter Zeit. Bei allen Herstellern. Keiner weiß, warum.« Malecha brach ab. Sein Kopf sackte nach unten auf ihren Schoß.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Francescas Gehirn die Mosaiksteinchen geordnet hatte. Es ging nicht nur um Vertuschung. Wenn eine Firma die Ursache für die Ausfälle herausfand, gewann sie einen wertvollen Wettbewerbsvorteil. Für die Analyse benötigten sie die defekten Chips der Kunden. Wer nicht wollte, wurde mit Geld geködert oder mit Gewalt gezwungen. Ob die Patienten bei der Extraktion der Chips den Verstand verloren oder draufgingen, war egal. Hauptsache, die Zahlen stimmten am Ende. Sie rechtfertigten jedes Mittel.

Francesca war wie vom Donner gerührt. Also war man tatsächlich hinter ihr her gewesen. Sie hatte sich das nicht eingebildet.

Das Gegenmittel wirkte. Der Versuch aufzustehen gelang. Den Körper ihres Arztes ließ sie dabei zu Boden gleiten. Sie kniete sich neben ihn und ertastete seine Halsschlagader. Kein Puls. Sofort sprang sie auf und rannte zur Tür. Nach wenigen Schritten überkam sie Übelkeit. Sie stützte die Hände auf den Knien ab und atmete mehrmals tief durch, bevor sie endlich nach dem Fernsprecher am Empfang griff.

Die Ermittlungen verliefen im Sande. Da sowohl Doktor Marcin Malecha als auch sein Kollege die Auseinandersetzung nicht überlebt hatten, gab es niemanden, der Francescas Schilderung der Geschehnisse bestätigen konnte. Die Auswertung der Spuren belegte zumindest, dass sie selbst als Täterin nicht infrage kam.

So stand ihre Aussage gegen die Ausführungen der bestens ausgestatteten Rechtsabteilung der Firma DeepFlow. Ein von der Firma bezahlter Gutachter bestätigte nach Analyse der Krankenakte, dass Francesca kognitive Beeinträchtigungen aufwies und Wahnvorstellungen zu ihren Symptomen gehörten. Sie war eine traumatisierte Multilinkuserin, die unter dem Einfluss starker Medikamente stand. Ihre Aussage war somit zweifelhaft.

Außerdem fanden sich angebliche Indizien, nach denen ihr Arzt Kontakte in die kriminelle Szene gepflegt hatte. Er hatte in mittelgroßem Stil verschreibungspflichtige Medikamente verkauft und so Spielschulden beglichen. Scheinbar war ihm das zum Verhängnis geworden, man hatte ihn beseitigt. Der Schwarzhaarige war nicht polizeibekannt, die Behörden sahen aber eine Verbindung zum organisierten Verbrechen als wahrscheinlich an. In Summe hatte all das dazu geführt, dass die Fallakte schnell geschlossen wurde.

Francesca glaubte kein Wort der Darstellungen von DeepFlow. Konzerne legten sich die Dinge so zurecht, dass sie unbeschadet aus jeder Krise hervorgingen. Ihr war das mittlerweile egal. Sie wollte ein normales Leben ohne Medikamente und Psychologengespräche haben. Die Erlebnisse in der Arztpraxis hatten den Leidensdruck verstärkt. Der Chip musste weg. Das Wie war zweitrangig.

Ein Wettbewerber von DeepFlow nutzte die Gunst der Stunde und wartete mit einer Überraschung auf. Er bot ihr eine kostenfreie Desintegration des Chips durch Nanoagenten an, vermittelte Francesca einen Topexperten für das neue Post-Multilink-Syndrom und bereitete das Ganze medial auf. Eine Firma, die Verantwortung übernahm und sich besser als andere um die Konsumenten sorgte, war ein großartiges Werbevehikel.

Francescas anfängliches Misstrauen schwand nach und nach. Im Vorfeld bat sie der Experte zu mehreren Gesprächen und änderte dabei auch ihre Medikation ab. Seitdem fühlte sie sich klarer im Kopf, wacher, fitter. Ihr Tagesablauf war strukturierter, und sie fand die Kraft, sich über ihre Zukunft Gedanken zu machen.

Also saß sie wieder in einem steril weißen Stuhl und wartete darauf, dass der Spezialist die Infusion durchführte. Ihr neuer Arzt betrat den Raum. »Wie geht es Ihnen, Frau Ivorno?«, begrüßte er sie mit einem breiten Lächeln.

»Gut, danke der Nachfrage.«

»Wie läuft es mit der Jobsuche?«, fragte er, während er das Bedienfeld aktivierte.

»Ebenfalls gut. Langsam weiß ich, auf was ich hinauswill.«

»Und das wäre?«

»Irgendetwas zwischen Medizinstudium und Suchtberaterin«, lachte sie.

Er fiel in das Lachen ein. Dann griff er nach der Infusionsspritze und setzte sie an ihren Hals.

Es zischte. Schweigend beobachtete er sie mit professionell-analytischem Blick.

Am Rande von Francescas Gesichtsfeld wallten Schatten. Die Dunkelheit glitt langsam heran. »Ich glaube, mir wird schlecht«, stammelte sie.

Ihr neuer Arzt schlug die Beine übereinander und umgriff sein Knie mit verschränkten Fingern. An einem der Finger steckte ein goldener Ring. Dieser trug einen markanten schwarzen Stein.

Dann fiel Francesca ins Nichts.

Diagnostischer Kommentar

In dieser Story können gleich mehrere Diagnosen differenzialdiagnostisch diskutiert werden. Die Protagonistin weist Halluzinationen auf. Die Diagnose einer wahnhaften Störung, F22.0, wäre allerdings fraglich, weil die Halluzinationen auf den defekten Gehirnchip zurückgehen. Übertragen auf die Gegenwartsrealität wäre ihre Ursache am ehesten hirnorganisch zuzuordnen, was mit der F06.2, einer organischen wahnhaften Störung, codiert wird.

Zudem leidet Francesca unter Entzugssymptomen sowie unter einer depressiven Symptomatik. Letztere kann man, je nach Auslöser und Schweregrad, als F43.2, Anpassungsstörung, und/oder als F32.1, mittelgradige depressive Episode, codieren.

Die Codierung einer Entzugssymptomatik gemäß ICD-10 dürfte hier schwerfallen, da die mit ihr einhergehenden psychischen und Verhaltensauffälligkeiten derzeit (noch?) ausschließlich mit psychotropen Substanzen in Verbindung gebracht werden (F10–F19: von Alkohol über andere Drogen bis hin zu Lösungsmitteln), nicht jedoch mit einem Hirnchip, wie er in der Story beschrieben wird. Hier bleibt der technische Fortschritt und die Aufnahme entsprechender Diagnosen in zukünftigen Ausgaben der ICD abzuwarten.

Den Verfolgungswahn der Protagonistin lasse ich diagnostisch undiskutiert, da dieser im Verlauf der Geschichte nicht bestätigt wird; Francesca wird tatsächlich verfolgt und manipuliert.

Der Autor selbst sieht die Hauptsymptomatik seiner Protagonistin in den zuerst genannten Halluzinationen und Wahnvorstellungen seiner Protagonistin.