DIAGNOSE F

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Natürlich schäme ich mich auch, weil es einfach nur verrückt ist, was mir da passiert ist. Wie gesagt, ich bin keiner von diesen Fanatikern. Kein Gläubiger, wie sich diese Para-Heinis selbst nennen. War ich nie. Ich würde mich im Gegenteil als rationalen Menschen bezeichnen. Ich glaube nicht an Übernatürliches. Weder an Geister, Yetis noch das Ungeheuer von Loch Ness. An solche Sachen habe ich nie geglaubt. Auch nicht an kleine grüne Männchen. Wieso eigentlich grün? Sie sind doch grau.

Ich weiß selbst, wie irrsinnig das alles klingt. Was heißt klingt? Es ist irrsinnig. Aber es ist trotzdem passiert. Einfach so. Ich habe nichts provoziert. Keine verrückten Drogenexperimente. Keine Hypnoseregressionstherapie. Ich denke mir das alles auch nicht aus, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Welche denn, bitteschön? Ich hab ja keinem davon erzählt. Nicht mal Doktor Meier. Habe mir ihm gegenüber was von sexuellem Missbrauch in der Kindheit zusammengereimt. Hat ja auch irgendwie Parallelen. Die Angst. Die Hilflosigkeit. Der Ekel. Die Wut. Die Scham.

Es sind jetzt dreihunderteinundvierzig Tage, acht Stunden und zwölf Minuten, seit sie mich geholt haben. Nein, nicht seit sie mich geholt haben. Seit ich auf dem Schlafzimmerboden aufgewacht bin mit einem mörderischen Ziehen im Unterleib und falsch zugeknöpfter Schlafanzugjacke. Dreihunderteinundvierzig Nächte mit der Angst, dass es wieder passiert.

Die Summe aller Gräuel. So hat mal irgendein Schriftsteller den Akt der Vergewaltigung genannt. Weiß nicht mehr, wo genau ich das gelesen habe. Schlimmer als Mord, weil das Opfer gezwungen ist, mit der Erinnerung an das Verbrechen zu leben. Doktor Meier benutzt nie das Wort Opfer. Er sagt, ich bin eine Überlebende.

Was er wohl sagen würde, wenn ich ihm die Wahrheit erzählen würde? Dass gar kein böser Onkel nachts in mein Kinderzimmer geschlichen ist. Dass überhaupt niemand geschlichen ist. Dass die einfach neben meinem Bett standen. Wie aus dem Nichts. Dass mir niemand den Mund zugehalten hat, damit ich nicht schreie. Weil ich gar nicht schreien konnte. Dass plötzlich alles schwarz wurde, und als ich aufgewacht bin, war da nur dieses grelle, gleißende Licht über mir. Das kalte Metall. Ihre Hände … Die Nadel …

Wahrscheinlich würde Doktor Meier sachlich bleiben, wie immer. Verständnisvoll. Mitfühlend. Aber hinter seiner professionellen Anteilnahme würde ich es in seinem Blick lesen: eine Verrückte! Nicht, dass er dieses Wort jemals benutzen würde. Das ist ja nicht mehr pc. Schon gar nicht in seinem Berufsstand.

Schlafparalyse. Out-of-body experience. Hypnagoge Halluzinationen. Irgend so eine Erklärung würde er mir auftischen. Mich in wohlklingendes Fachchinesisch einlullen. Aber hinter seiner hohen Stirn mit dem zurückweichenden Haaransatz, hinter der Fassade von Verständnis und Mitgefühl, würde ein Stempel auf meine imaginäre Patientenakte niederknallen: bekloppt. In alarmroten Großbuchstaben.

Magensäure verbrennt mir die Schleimhäute. Steigt mir sengend die Speiseröhre herauf. Ich schmecke sie im Mund. Bitter und gallig. Ich muss was essen.

Wenn man die Sache mal rational betrachtet: Geschichten von kleinen, nichtmenschlichen Wesen hat es schon immer gegeben. Überall auf der Welt. Man denke nur an die Mythologie der Kelten: das Kleine Volk. Oder die isländischen Elfen. Das Wort Elfe bedeutet Lichtgestalt.

Das Licht in ihrem Operationssaal war so hell, so gleißend. So kalt …

Zwergenmärchen. Herr der Ringe. Ist es Zufall, dass Zwerge so oft meisterhafte Schmiede sind? Vielleicht konnten sich die Menschen früher nur so erklären, dass sie über fremdartiges Metall verfügen, das es auf der Erde nicht gibt? Glänzende Raumschiffe. Chirurgischer Stahl. Das kaltweiße Aufblitzen der Nadel …

Oder nehmen wir das Mittelalter: Inkuben. Sukkuben. Dämonen, die die Menschen nachts in ihren Schlafzimmern besuchen und zum Sex zwingen. Geschichten über den Hexenflug. Ja, selbst die Bibel berichtet von Ufo-Sichtungen und Entführungen: Hesekiels Thronwagen. Jakobs Leiter. Elias Himmelfahrt. Und was sind Engel anderes als außerirdische Lichtwesen …?

Chronisten zufolge flohen die Sachsen 775 bei der Sigiburg nahe Dortmund vor dem Heer Karls des Großen, weil sie zwei fliegende, feurige Schilde am Himmel sahen.

Ich muss weiterschreiben. Arbeiten. Geld verdienen. Ich habe verdammtes Glück, dass ich von zu Hause aus arbeiten kann. Nicht auszudenken, wenn ich mich jeden Tag ins Büro schleppen müsste. Aber ich kann mich so schlecht konzentrieren.

Doktor Meier hat mir Übungen empfohlen. Massenhaft Übungen: Über-Kreuz-Übungen, um das Zusammenspiel der Hirnhälften zu fördern. Meditationsübungen, um den präfrontalen Cortex zu stärken. Auf-dem-Kopf-Lesen. Spiegelverkehrt schreiben. In einer Fremdsprache denken. I was abducted by aliens and now my life is totally fucked up.

Nutzen Sie Ihren Aufenthalt im Hotel Rheingold, um auf Richard Wagners Spuren zu wandeln. Der Walk of Wagner führt Sie auf Ihrem Weg von der Villa Wahnfried zum Festspielhaus zu authentischen Wagner-Stätten … Der Walk of Wagner beginnt an Richard Wagners ehemaligem Wohnhaus, der Villa Wahnfried, in der das renommierte Richard-Wagner-Museum … Zu viel Wagner. Auf dem Walk of Wagner erwarten Sie Plastiken des renommierten Bildhauers Ottmar Hörl … Ach, scheiße!

Wen interessiert das denn? Meine Schädeldecke zerspringt gleich. Ich brauche ein Aspirin. Besser gleich zwei oder drei. Wird meinem Magen nicht gerade guttun, aber was soll’s? Schlucke ich halt nachher noch ein Rennie.

Mysteriöse Kreatur am Strand angespült. Ein See-Alien? Nein, das Ding, das da am australischen Leighton Beach angeschwemmt wurde, ist keiner von denen. So sehen sie nicht aus. Das ist nur eine verweste Robbe, von der die Fische ein paar Teile abgebissen haben.

Schon komisch: Seit den Vierzigerjahren sehen die Leute überall Außerirdische. Roswell. Der Gorman Dogfight. Betty und Barney Hill. Dann natürlich die Filme: Kampf der Welten. Unheimliche Begegnung der dritten Art. E. T. Muss wohl irgendwie einen Nerv getroffen haben, das Thema.

Erst Filme. Dann Fernsehserien. Star Trek. Akte X. Nicht zu vergessen: das Merchandising. Massenhaft liebenswert-niedliche oder abstoßend-grässliche Alien-Püppchen zum In-die-Vitrine-Stellen. Gummimasken mit riesigen schwarzen Augen. Zum Kotzen! Wenn die wüssten, wie es sich anfühlt, von solchen Augen angestarrt zu werden. Wie sie sich einem in die Seele bohren und man jegliche Kontrolle …

Außerirdische sind überall. In den Schaufenstern. Im TV. Auf T-Shirts. In Büchern. Es gibt Fachzeitschriften über Präastronautik und kleine Plastikfiguren mit winzigen Organen zum Autopsie-Spielen fürs Kinderzimmer. Sie stieren einem von graffitibeschmierten U-Bahn-Tunnels und Baseballmützen entgegen. Aber keiner glaubt an sie. Nur diese Spinner aus den Foren. Und ich.

Gibt es in Australien überhaupt Robben? Mal googeln. Australische Tierwelt. 15 Tiere, die es sonst nur in Zoos gibt. Koalas. Kängurus. Klar, kennt jeder. Gefährliche Tiere in Australien. Brown snakes. Würfelquallen. Angst vor Spinnen und Insekten? Sydney-Trichternetzspinne. Gespenstschrecke. Australische Riesenmantis …

O Gott! Diese Augen! Eine grüne Gottesanbeterin. Auch die Augen mit den stecknadelkopfgroßen Pupillen sind grün. Aber sonst … Genau wie bei ihnen. Riesige Insektenaugen, seelenlos, gefühllos – o Scheiße! Mir wird schlecht. So schlecht … Krieg keine Luft mehr. So übel … Kann nicht atmen … O Gott!

Ich sehe meinen Laptop. Den Schreibtisch. Die Topfpflanze. Ich höre das Summen des Modems. Das Ticken der Wanduhr. Die Fernsehstimmen im Hintergrund. Ich spüre die Tischplatte unter meinen Händen. Die Sessellehne im Rücken. Den Boden unter den Füßen.

Ich sehe den Bildschirm. Ich sehe die Topfpflanze, eine Grünlilie. Ich höre ein Auto unten auf der Straße. Die Wanduhr. Ich spüre die Maserung der Schreibtischplatte unter den Fingerspitzen. Den Stoffbezug der Armstützen an den Ellenbogen. Ich sehe meine leere Kaffeetasse. Ich höre, wie jemand hupt. Ich spüre das glatte Porzellan der Tasse in meiner Handfläche.

5–4–3–2–1. Hat mir Doktor Meier beigebracht. Eine Stabilisierungstechnik für Traumatisierte: bewusste Wahrnehmung der Außenwelt, um dem Abdriften in Flashbacks entgegenzusteuern, sich durch die Konzentration auf unmittelbare Sinneseindrücke wieder in der Gegenwart zu verankern. Reorientierung, wie Meier dazu sagt.

Es hilft. Ich kann wieder atmen. Bin wieder im Hier und Jetzt. Nicht mehr bei denen. Langsam beruhigt sich mein Herzschlag wieder. Ein klein wenig zumindest. Meine Hände sind schweißnass. Ich wische sie an meiner Hose trocken. Fühle den Jeansstoff unter den Handballen. Rau. Vertraut. Gut.

Die Nächte sind schlimm. Aber die Flashbacks sind die Hölle. Warum tun die mir das an? Kranke kleine graue Wichser. Ich hasse sie. Auserwählt – am Arsch!

Mich hasse ich auch. Meinen Körper. So hilflos. Nutzlos. Wertlos. Konnte mich nicht bewegen. Die haben mich angefasst. Überall. Ich bin besudelt. Dreckig. Ich würde mir am liebsten die Haut abziehen. Abziehen und verbrennen.

Es tut mir leid. Doktor Meier sagt, ich soll lieb zu mir sein. Meine Haut kann nichts dafür. Mein Körper ist nicht schuld an dem, was die mit ihm gemacht haben. Ich bin nicht schuld. Ich bin unschuldig. Ich kann nichts dafür. Ich kann überhaupt nichts dafür, verdammt. Ich weiß das. Aber ich hasse mich trotzdem.

 

Und ich schäme mich so. Das vor allem. Es ist eine Sache, zu wissen, dass die Scham unbegründet ist. Natürlich weiß ich das. Ich. Konnte. Nichts. Dafür. Eine andere Sache aber, eine ganz andere, ist es, das auch zu fühlen.

Die haben mich erniedrigt. Gedemütigt. Benutzt haben sie mich. Die haben mich benutzt! Nicht als Sexualobjekt, wie etwas Begehrenswertes, sondern wie … wie Vieh. Als Laborratte. Die haben mich nicht als Mensch wahrgenommen. Oder doch? Sind wir Menschen für sie das, was für uns Labortiere sind? Dann gnade Gott uns allen.

Nach den Flashbacks bin ich immer hellwach. Das Adrenalin schießt noch durch meine Adern, putscht mich auf. Mein Puls ist zu schnell. Hat mir auch Doktor Meier gezeigt: Pulsmessen.

Ist gar nicht so einfach wie in den Filmen. Ich habe meine Finger früher mittig auf die Pulsadern gepresst. Dabei muss man unterhalb des Daumens fühlen. Arteria radialis. Nicht zu fest drücken. Dann dreißig Sekunden lang zählen. Dabei komme ich oft raus. Anschließend mal zwei und das ergibt den Puls pro Minute. Siebenundsechzig Schläge habe ich gezählt, mal zwei … hundertvierunddreißig.

Ich muss mich beruhigen. Ich gehe zum Fenster. Öffne es. Schaue runter auf die Straße. Die parkenden Autos. Eine Frau führt ihren Hund Gassi. Ein Shih-Tzu. Oder ein Havaneser. So was Wuscheliges halt. Pinkelt an die Laterne. Der Hund, nicht die Frau. Haha. Ich kann ja richtig witzig sein. Dann ist ja alles nur halb so schlimm, oder?

Die Luft ist angenehm kühl. Klärt meine Gedanken. Ich wüsste gern, ob das irgendwann aufhört. Nicht nur die Flashbacks. Nicht nur dieser Ekel vor mir selbst. Das alles. Die durchwachten Nächte. Die Konzentrationsschwäche. Die ganze unnütze Grübelei. Grübele ich gerade darüber nach, ob die Grübelei aufhört?

Ich frage mich, ob ich mich jemals wieder auf eine Toilette setzen kann. Oder mich im Winter am Treppengeländer der U-Bahn-Unterführung festhalten. Vermeidungsstrategie nennt man das, was ich mache beziehungsweise nicht mache. Habe ich gelesen. Doktor Meier kann ich ja nichts davon erzählen. Von dem Metalltisch. Verträgt sich nicht mit der Böser-Onkel-Story.

Ich glaube, ich gehe mal wieder zurück an den Computer. Sonst wird dieser Scheißwerbetext nie fertig.

Ich bin plötzlich so müde. Meine Gedanken kreisen. Kann kaum noch die Augen offen halten. Ich muss schlafen gehen. Habe mir ein extrabreites Sofa gekauft. Das Bett ist auf dem Sperrmüll gelandet. Dort habe ich mich nicht mehr wohlgefühlt, ausgeliefert irgendwie. Noch so eine Vermeidungsstrategie

Es ist erst 19:28 Uhr. Das wird wieder eine beschissene Nacht werden. Eine beschissene Nacht nach einem ganz normalen Tag. In der Hölle.

Ich schlüpfe in mein Nachthemd. Ich trage keine Schlafanzüge mehr. Kann ich nicht. Ich würde immer an die Knöpfe denken. An den dritten Knopf von oben im vierten Loch. Und an den Knopf ganz unten, der keinen Platz zum Reinschlüpfen mehr gefunden hat. An die Falte zwischen Knopf zwei und Knopf drei, wo sich der Stoff aufbläht wie ein Segel.

Durchs All reisen, aber ein einfaches Pyjamaoberteil nicht zuknöpfen können. Das sind mir die Richtigen. Ganz schön schlampig, solche Beweise zu hinterlassen. Oder war das Absicht? Wollen die vielleicht, dass ich mich erinnere? Um mir zu sagen, dass das nicht alles war? Dass sie wieder kommen? Ich darf jetzt nicht an sowas denken.

Mir ist so komisch. Ich bin so müde, dass ich kaum die Augen aufhalten kann. Andererseits kribbelt alles in mir, als würden Ameisen durch meine Blutbahn kriechen. Ich vibriere geradezu vor Unruhe. Das ist nicht normal. Scheiße, das ist nicht normal! Es ist wie damals …

Beruhig dich! Ich denke an Doktor Meier. 5–4–3–2–1.

Ich sehe das bläuliche Flimmern des Fernsehers. Das Fußende der Couch. Die Leuchtziffern des Weckers. Den Umriss des Fensters. Das Licht der Straßenlaterne davor. Ich höre die Fernsehstimmen. Das Brummen des Kühlschranks aus der Küche. Das Ticken der Wanduhr. Ein Auto fährt vorbei. Hupen.

Ich spüre das Sitzpolster an meinem Rücken. Das Kopfkissen an meiner Wange. Das Gewicht der Daunendecke. Die glatte Oberfläche des Nachttischchens unter meinen Fingerspitzen. Das Wasserglas. Ich sehe das Fernsehflimmern. Das Fensterkreuz. Das Laternenlicht. Die Sofalehne.

Ich höre … nichts. Nichts! Es ist totenstill. Der Fernseher flimmert nicht mehr. Nur noch ein starrer blauer Schein wie vom Testbild fällt durch die Tür.

Die Atmosphäre im Zimmer ist plötzlich dichter. Eine seltsame Schwere liegt in der Luft. Drückt nach unten. Wie vor einem Gewitter. Meine Haut juckt. Überall.

Nein! Nein!! Bitte nicht. Nicht nochmal. Nicht nochmal, bitte! Jemand steht neben mir. O Gott!! Sie sind da. Wie aus dem Nichts. Bin wie gelähmt. Kann nicht schreien. Geht weg! Bitte! Geht weg!

Einer von ihnen kommt näher. Nicht! Weg, bitte geh weg! Sein Gesicht ist so nah. Die Augen. So groß. So dunkel. Kann nicht wegsehen. Er starrt mich an. Starrt in mich hinein. Diese Augen. Saugen mich auf wie schwarze Löcher. So dunkel. So tief … Ich versinke …

Licht. Hell. Gleißend. Wie beim letzten Mal. Aber ich liege nicht. Kein Stahltisch. Ich stehe. Bin angezogen. Kaltes Metall unter meinen nackten Fußsohlen. Ich blinzele. Blinzele nochmal. Meine Sicht klärt sich.

Da sind sie. Es sind so viele. Sie reichen mir nicht mal bis zur Brust. Da ist auch der Tisch. Etwas liegt darauf. Nein. Es sitzt. Jemand. Jemand sitzt darauf. Jemand, der noch viel kleiner ist als sie.

Taubengraue glatte Haut. Ein birnenförmiger Kopf. Lippenloser Mund. Zwei schlitzförmige Nasenlöcher ohne Knorpel. Genau wie sie.

Aber die Augen … die sehen aus wie meine.

Diagnostischer Kommentar

In dieser Geschichte wird in der Ich-Form erschreckend plastisch und nachfühlbar (soweit das überhaupt für Nichtbetroffene möglich ist) von einer Traumatisierung und ihren Folgen erzählt. Hier ist die Traumatisierung Folge einer Entführung durch Aliens und eines Eingriffs in den Körper der Protagonistin gegen ihren Willen, verbunden mit massiver Angst und Hilflosigkeit.

Auch ohne die Entführung Außerirdischer finden auf unserem Planeten tagtäglich Traumatisierungen statt, infolge von körperlichem und/oder sexuellem Missbrauch. Natürlich kann es noch weitere Ursachen von Traumatisierungen geben, wie schreckliche Unfälle, Kriegserlebnisse, Folter, Naturkatastrophen usw., bei denen das eigene oder das Leben nahestehender Personen oder die psychische und körperliche Unversehrtheit in Gefahr gesehen wurde.

Die ICD-10 vergibt beim Vorliegen typischer traumaspezifischer Symptome die Diagnose F43.1, die posttraumatische Belastungsstörung.

Traumaspezifische Symptome können verzögert, manchmal erst nach Monaten oder sogar Jahren auftreten. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind die sogenannten Flashbacks bekannt. Damit ist eine Form des Wiedererlebens gemeint, die so stark sein kann, dass die betroffene Person glaubt, das Trauma noch einmal zu erleben. Meist geht das mit massivem Angsterleben und starken körperlichen Reaktionen einher.

Auch Albträume sind häufig. Verdrängte Erinnerungen treten gegen den eigenen Willen trotzdem auf, man spricht von intrusiven Erinnerungen. All das zermürbt verständlicherweise. Es kann sein, dass Betroffene nicht mehr fähig sind, arbeiten zu gehen. Oft ziehen sie sich zurück, entwickeln depressive Symptome und einen düsteren Blick in die Zukunft.

Belastend ist auch eine Übererregung, Hypervigilanz genannt. Traumatisierte können sehr schreckhaft sein, als sei ihr Unterbewusstes ständig wachsam und fluchtbereit, so, als könnte jederzeit erneut eine Katastrophe hereinbrechen.

All diese Symptome und weitere sind bedrückend realistisch in der Story beschrieben, weshalb ich mir und dem Leser eine weitere Aufzählung erspare.


Michael Knabe: Elektrokrampftherapie

»Der Androide tut was?« Professor Doktor Sigmund Mauz zog überrascht die Brauen hoch.

Seine Assistentin, Doktor Meftaler, konsultierte mal wieder ihr Tab. »Er steht den lieben langen Tag vor dem Klo und drückt die Toilettenspülung, Herr Professor. Wenn seine Besitzerin nach dem Zubettgehen mal raus muss, kann sie anschließend nicht mehr schlafen, weil die restliche Nacht hindurch die Spülung rauscht.«

Und auf Doktor Mauz’ skeptischen Blick: »Ich habe mir das selbst einmal angesehen. Der Mülleimer ist bis zum Überlaufen gefüllt mit leeren Desinfektionsmittelflaschen. Die richtig harten, nicht das Zeug aus dem Drogeriemarkt. Die Wohnung riecht beißend nach Reinigungsmitteln, und er ordert ständig nach. Eine Zwangsstörung dieses Ausmaßes haben sogar die drüben in der Abteilung für Menschen eher selten.«

Die Meftaler ging also auf Hausbesuche, anstatt sich um die nächste Veröffentlichung in der Cybernetic Neuroscience zu kümmern? Er wartete schon seit Wochen auf ihren Artikel, auf dem an vorderster Stelle sein Name prangen sollte. Verfolgte sie auf einmal eigene Ziele, anstatt sich um seine Aufträge zu kümmern? Er würde sie ein wenig bremsen müssen. Mauz machte sich eine mentale Notiz, bevor er sich der Kyb-Einheit zuwandte, die reglos zwischen ihnen wartete.

»Kyb Tony!«

Der Androide wandte sich ihm zu. »Was kann ich für Sie tun, Herr Professor?« Seine Stimme klang voll und melodiös, wie die eines Nachrichtensprechers aus alter Zeit. Der Blick seiner metallischen Facettenaugen ruhte unverwandt auf Mauz.

Der rang sich ein Lächeln ab. »Weißt du, wer du bist, welches Datum wir heute haben und wo du dich befindest?«

»Ja, Herr Professor.« Und als Mauz lange genug schwieg: »Kyb-Einheit Tony. Es ist der vierte August 2034, elf Uhr sechzehn Mitteleuropäischer Zeit. Ich befinde mich auf der Station für klinische Kybernetik der Klinik für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie der Charité Berlin, Bonhoefferweg 78 …«

»In Ordnung. Wach, bewusstseinsklar, orientiert«, setzte Mauz zum Diktat an, doch seine Assistenzärztin hackte bereits die Angaben ins Tab. Noch wehrte sie sich nicht gegen solche Hilfsarbeiten. Er ahnte, dass sich das ändern würde, sobald er ihre Habilitationsschrift geprüft und abgezeichnet hatte. Hungrig waren sie, die Jungen, genau wie seinerzeit er selbst.

Die Abfrage der Stimmung entfiel bei Androiden, den Rest hatte die Meftaler sicher schon perfekt erfragt. Als ob sie selbst unter Zwängen litt wie die Blechbüchse zwischen ihnen. Nur ihre Formen sahen weit erfreulicher aus als die des Androiden. Er lächelte in sich hinein und fuhr mit den spontan berichteten und erfragten Beschwerden fort.

Es reichte längst nicht mehr aus, die Maschine an eine Diagnoseeinheit anzudocken und ein paar Parameter auszulesen. In dem Maß, in dem Roboter menschenähnliche Fertigkeiten erreichten und selbstlernend vorgingen, verließen sie die Pfade nachvollziehbarer Algorithmen. Die Kyb-Psychiatrie wurde zunehmend unexakt, genau wie die Behandlung von Menschen, und Medikamente für Maschinen gab es natürlich keine.

»Kyb Tony, erkläre, warum du das mit der Spülung machst.«

»Meinen Sie das repetitive Betätigen der Spültaste im WC meiner Besitzerin, Herr Professor?«

Mauz’ Antwort beschränkte sich auf eine ungeduldige Handbewegung.

Augenblicklich fuhr der Androide fort: »Ich muss jedes Risiko ausschließen oder zumindest minimieren, dass meine Besitzerin sich durch infektiöse Keime in Gefahr bringt.«

»Keime?«, fragte Mauz. »Welche denn?«

Die Meftaler lächelte und nickte. Offenbar wähnte sie ihn auf der richtigen Spur, und genauso offenbar war ihm selbst das nicht egal. Alter Gockel! Verärgert unterdrückte Mauz das Gefühl der Wärme in der Bauchgegend und konzentrierte sich auf den Androiden, der ebenfalls nickte.

»Krankheitskeime, Herr Professor. Das sind winzige Lebensformen …«

»Danke, ich kenne mich in dem Gebiet aus«, unterbrach Mauz ihn und rief sich gleich darauf zur Zurückhaltung auf. Persönliche Gefühle hatten im diagnostischen Interview mit einem Androiden nichts verloren. »Kyb Tony, berechne die Wahrscheinlichkeit, sich auf der eigenen Toilette mit gefährlichen Krankheitskeimen anzustecken.«

 

»Eine genaue Antwort ist unmöglich«, antwortete der Androide. »Ich berechne stattdessen ein fünfundneunzigprozentiges Konfidenzintervall. Die Fachaufsätze in den letzten zwei Jahren, welche die gemittelte Wahrscheinlichkeit einer folgenschweren bakteriellen Infektion behandeln …«

Aha. Der Androide hatte offenbar alle einschlägigen Datenbanken konsultiert, kannte die Tücken der Statistik – und hantierte trotzdem exzessiv mit Desinfektionsmitteln.

»Beziehe dich ausschließlich auf die Toilette deiner Besitzerin, Kyb Tony.«

Ein beinahe unhörbares Brummen signalisierte eine Vibration der Einheit. Die Kühlung war angesprungen, um den zentralen Prozessor vor dem Überhitzen zu schützen – das maschinelle Gegenstück zu einer starken Emotion.

»Besagtes Konfidenzintervall zeigt eine Wahrscheinlichkeit zwischen null und einem halben Prozent. Aber bei Feldversuchen muss von einer zusätzlichen Messungenauigkeit ausgegangen werden. Das Risiko kann theoretisch höher liegen.«

»Mit anderen Worten, deine Besitzerin könnte sich im schlimmsten anzunehmenden Fall bei jedem zweihundertsten Toilettenbesuch eine Infektion zuziehen?«

»Das ist dann korrekt, wenn man das zusätzliche Risiko des Feldversuchs ignoriert, Herr Professor.« Der Androide schwankte etwas. Es blieb unklar, ob er lediglich auf einen Luftzug reagierte oder heimlich versuchte, Abstand von Mauz zu bekommen. Die Datenverarbeitung der Androiden war einfach zu komplex geworden. Manchmal verhielten sie sich unlogisch, geradezu emotional.

»Kyb Tony, welche Infektionen genau ziehst du in Betracht?«

»Nun, Infektionen eben, Herr Professor.«

Mauz warf der Meftaler einen bedeutsamen Blick zu. Hier tat sich der erste Blick auf einen Fehler in der Informationsverarbeitung auf, die das Verhalten des Androiden steuerte.

Meftaler, die fleißig auf ihrem Tab mitgeschrieben hatte, schien das bereits zu wissen. Sie wischte hektisch durch die gespeicherten Seiten und reichte das Gerät an Mauz weiter. »Das sind die Aufzeichnungen der kognitiven Verhaltenstherapie der letzten acht Monate. Auf der zweiten Seite finden Sie die Ergebnisse der Datenbanktherapien sowie die Betriebssystemeingriffe von vorvergangener Woche.«

Mauz überflog die Seiten. Donnerwetter, die Meftaler hatte sich ganz schön reingehängt und eine lückenlose Dokumentation nicht nur des Problemverhaltens, sondern auch der kyberkognitiven Interventionen vorgelegt. Manchmal war sie ihm unheimlich in ihrer gnadenlosen Effizienz.

Er würde sie nahe bei sich halten, um an ihren Erfolgen teilzuhaben – immerhin prangte dank ihr sein Name auf jedem zweiten Artikel, der zu Kernfragen der kybernetischen Psychiatrie erschien. Gleichzeitig musste er dafür sorgen, dass kleine Bäume nicht allzu schnell in den Himmel wuchsen. Auf keinen Fall würde er sich eine Konkurrentin an den Fördertöpfen der Forschungsgesellschaften heranzüchten.

Sein Blick blieb an der Tabelle hängen, in der Doktor Meftaler die Ergebnisse auf Verhaltensebene festgehalten hatte, und seine Brauen wanderten in die Höhe.

»Keine Verbesserung?«

»Nicht das kleinste Bisschen, Herr Professor.« Ihre Stimme klang gepresst. Offenbar nahm sie sich den Misserfolg zu Herzen und suchte den Fehler bei sich selbst. Gut so. Das bot Chancen, sie noch besser zu kontrollieren und ein Höchstmaß an Output zu fordern.

Er fasste sie scharf ins Auge. »Frau Meftaler, habe ich Sie da richtig verstanden? Seit acht, ich betone: acht Monaten therapieren Sie diese Einheit – und erst jetzt erfahre ich davon?«

»Nicht ganz, Herr Professor. Auf der nächsten Seite finden Sie unsere bisherigen Supervisionstermine. Vielleicht könnten Sie mir die bei der Gelegenheit gleich abzeichnen?«

Verdammt! Das Miststück hatte sich vorbereitet und darauf gesetzt, dass er sich nicht an die lästigen Termine erinnerte.

Mauz zeichnete mit einem lässigen Schlenker die Protokolle ab und durchforstete sie gleichzeitig auf der Suche nach einem Fehler, mit dem er sie ein wenig herunterputzen konnte. Sie hatte gemeinsam mit der Kyb-Einheit Wahrscheinlichkeitsrechnungen vorgenommen, Risikoanalysen für Infektionen abgeprüft und sogar mit mehreren Zentralrechnern abgeglichen, um die Thesen des Androiden zu hinterfragen.

Die Konfrontation mit dem Auslösereiz (die Besitzerin war aufs Klo gegangen) und die Verhinderung des Zwangsverhaltens (der Androide hatte sich vom WC fernhalten müssen) waren so präzise durchgeführt und protokolliert, als hätte die Meftaler sein Lehrbuch nicht gelernt, sondern gefressen. Update des Betriebssystems unter Einbezug der universitären Rechenzentren – abgezeichnet von ihm selbst.

Er fand einfach nichts, das er ihr vorwerfen konnte, und musste sich darauf beschränken, bedeutsam die Brauen hochzuziehen. »Und nun?«

Das genügte, um die scheinbar so kontrollierte Fassade der jungen Ärztin bröckeln zu lassen. Ihre Schultern sackten nach unten, die Finger nestelten nervös am Aufschlag des vorgeschriebenen staubabweisenden Kittels, und die Zehen in den Dienstschuhen trommelten förmlich Samba.

»Ich weiß einfach nicht mehr weiter«, brach es aus ihr heraus. »Ich habe alles, wirklich alles versucht, was Sie mir vorgeschlagen haben. Auch die Fachliteratur gibt nichts mehr her, nicht einmal die brasilianischen und chinesischen Datenbanken. Ich bin ratlos, völlig ratlos. Möglicherweise müssen wir ihn ungebessert nach Hause schicken.«

»Nun, nun.« Mauz gönnte sich einen Moment der Erleichterung. Hatte die Meftaler tatsächlich vergessen, woran er hier arbeitete? Noch konnte sie ihm nicht das Wasser reichen. Die Zeit für den väterlich-jovialen Ton war gekommen.

»Heike, meine Liebe, das ist doch ganz normal. Wir kommen alle mal an unsere Grenzen. Ich erinnere mich nur zu gut …« Er unterbrach sich, als keine Reaktion von ihr kam. Sie schien so gefangen in ihrem Misserfolg, dass sie ihm nicht einmal zuhörte.

Missgestimmt räusperte er sich, und die Meftaler fuhr hoch. »Verzeihung, Herr Professor. Ich war wohl gerade nicht bei der Sache.«

»Das habe ich bemerkt.« Mauz wandte sich wieder dem Androiden zu, der reglos den Austausch verfolgt hatte. »Kyb Tony, berechne die Wahrscheinlichkeit, dass dein Verhalten eine Zwangsstörung darstellt.«

»Zwischen achtundachtzig und achtundneunzig Prozent, Herr Professor.« Noch immer klang die Stimme des Androiden angenehm moduliert und unangestrengt, als ob er sich lediglich einer Wartung unterzog und nicht seit acht Monaten als nutzloser Haufen Schrott durch die Gegend stapfte. Doch der Lüfter in seinem Kopf lief weiter mit hoher Leistung.

»Und wie beeinflusst das deine Berechnungen von vorhin? Über das Risiko einer Ansteckung?«

»Gar nicht, Herr Professor.« Die Einheit stand nun völlig still. »Das nicht abzuschätzende Restrisiko besteht unabhängig von einer möglichen Einschränkung meiner kognitiven Fähigkeiten.«

Himmel! Mauz ertappte sich dabei, sich den Kopf zu kratzen wie ein Pennäler, und nahm hastig die Hand zurück, während er im Kopf Therapiemöglichkeiten durchging. Die Meftaler hatte an alles gedacht.

Außer an die eine Option, die auf der Hand lag.

Er hob den Kopf und fand sich von seiner Assistentin beobachtet, die mit halb geöffnetem Mund auf seine Einschätzung wartete. Zeit, den Trumpf auszuspielen.

»Haben Sie nicht eine Behandlungsmethode übersehen, Heike?« Jetzt, wo seine Assistentin ihm an den Lippen hing, konnte er gefahrlos beim Vornamen bleiben, ohne dass sie anschließend zur Gleichstellungsbeauftragten rannte. »Unser Verfahren hatte viel zu lange einen schlechten Ruf. Dabei sind wir hier echte Pioniere auf dem Gebiet.« Er warf einen bedeutungsvollen Blick zur Tür hinüber, die zu den Hardware-OPs führte.

Verständnislos blickte sie ihn an, bis sich auf einmal ihre Augen weiteten. »Sie meinen … nein! Eine Elektrokrampftherapie halte ich für keinesfalls angemessen. Die Datenlage für Androiden der Baureihe 185B17 ist viel zu dünn. Wir haben keine Ahnung, was alles passieren kann!«

»Sie haben keine Ahnung.« Mauz verschränkte die Arme und sah sie abschätzig von oben bis unten an. »Aber natürlich können Sie mit einer alternativen Behandlungsmethode aufwarten. Also? Ich warte. Oder glauben Sie allen Ernstes noch an die Mythen von der Patientenfolter?« Er beobachtete, wie sie schmerzhaft das Gesicht verzog.