Der Mann mit den 999 Gesichtern

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BIERSELIG

Edo Reents

In diesen unübersichtlichen Zeiten war es gut zu wissen, daß es da jemanden gab, der herzhaft dagegenhielt: gegen die lächerlich vielen neuen Biersorten, die viel zu fruchtig schmecken und zu wenig Alkohol haben. Michael Rudolf machte das Beste aus seiner Zeit als Schichtleiter einer ostdeutschen Brauerei und aus vielen Bierbildungsreisen; er vertrat einen absolut schnörkellosen, unbestechlichen Purismus, der mit manchem Mißverständnis aufräumte und den er gern, witzig und kompetent zum besten gab – Motto: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Braugesetzgebung gelten kann.

Ewig unentbehrlich wird dem ernst- und gewissenhaften Trinker Rudolfs Bieratlas sein, der eine herb-kulturpessimistische Note über den allgemeinen Niedergang seines Leibgetränks nicht unterschlägt. Der auch im Titanic-Umfeld Wohlgelittene schrieb den autobiographischen, hochkomischen Roman Morgenbillich über einen gewissen Holger Sudau und dessen rätselhaftes Verschwinden – leider prophetisch: Jetzt, nach langer Suche, hat man Michael Rudolf in seiner thüringischen Heimat tot aufgefunden. Der Fünfundvierzigjährige beging offenbar Selbstmord.

FAZ, 11. Juli 2007

IN LOHN UND FLÜSSIG BROT

Michael Rudolf

Auf den Tag genau ist es nun fünf Jahre her, daß ich meinen Abschied von der Kleinstadtbrauerei nahm. Denn daß immer die gleichen Menschen sich zu ewig gleicher Zeit und Stelle einfinden sollten, nur um den Begriff Lohnarbeit in der Zone mit Leben zu erfüllen, war oftmals Gegenstand meiner Beanstandung.

Am meisten formte mich die Zeit, in der ich als Hilfsschichtmeister über ein Rudel Ungelernter gebot, um Flaschen abzufüllen. Viele der nicht in jeder Hinsicht Arbeitswilligen mußten erst mit dem Lieferwagen geholt werden, da sie des Uhrenlesens nicht mächtig waren. Andere verliefen sich bei Spätschicht zuvor ins Wirtshaus, wo ich sie aufzuspüren hatte. Wortkargheit und verschlossenes Wesen war man von ihnen nicht gewohnt. Oft streiften ihre Äußerungen das weite Feld der Verächtlichmachung, und in bezug auf Gewaltanwendung vertraten sie alles andere als zurückhaltende Positionen. Meist aber bekam ich die Schicht doch noch voll.

Vor allem wortblinde Weibspersonen bildeten den Stamm der doppelt freien Lohnarbeiter, die am Flaschenabfüllband Mehrwert schufen. Unverzüglich nach Schichtbeginn gingen sie daran, anderen Kollegen unzüchtige Praktiken in Aussicht zu stellen, um sie von der Steigerung der Arbeitsproduktivität abzubringen. Mir blökten sie in schrillem Diskant unsittliche Angebote ins Ohr oder brachten stark derangierte erotische Kampfliteratur in Umlauf.

Leise-langsam wich die Luft gen Abend aus dem Sonnenballon. Wundersame Parabel beschrieb die gezielt geworfene Bierflasche, kühnen Bogen dieser oder jener gebrauchte Damenhygieneartikel. Auch mit dem beiläufigen Hinweis auf ihre Verantwortung als Inhaber der Produktionsmittel mit Hilfe leicht verständlicher Wendungen (einfacher Ausrufesatz) waren sie nicht davon abzuhalten, selbst Schimpfwörter wurden nur anerkennend von ihnen wiederholt. Die Adressaten ihrer ehebrecherischen Absichten gefielen sich nicht minder in Eigentums- und Sittendelikten. Da wurde auch Weibes und Geldes halber gerauft und in den Flaschenscherben gesielt und gesuhlt, denn die von Affektlabilität und psychomotorischen Störungen heraufbeschworenen Situationen schienen selten geeignet, die Auseinandersetzungen auf sachlicher Ebene fortzusetzen.

Fleißig hatte ich als Unparteiischer die Verstümmelten zum Hallenausgang zu tragen, da sich die DRK-Wagenfahrer entschlossen weigerten, diesen unreinen Ort zu betreten. Die geschulterte Menschenlast tönte meine Arbeitsschutzbekleidung in der Farbe, die an den Verkehrsampeln dem Motorwagen gemeinhin Einhalt in der Anmut der Bewegung gebietet: Rot war der Kittel von Arbeiterblut, aus Wunden, gehauen im ehrlichen Streit, Mann gegen Mann, Mann gegen Frau, Mensch gegen Glasscherbe und Fallgesetz.

Da verstand ich, warum die Praxis als Kriterium der Wahrheit gilt. Eine Behauptung, die die Bierfabrikarbeit jener Zeit zu den reizvollen zählt, verdiente es jedoch mit Recht, unzutreffend genannt zu werden. Nach neun Jahren in Lohn und flüssig Brot reduzierte ich mein Mitwirken an der Verworfenheit der objektiven Realität auf beschreibende Tätigkeiten. Punktum.

taz, 20. September 1995

DER MODERNE HAUSMANN

Michael Rudolf

Das Schicksal hat befunden, daß ich mich freiberuflich den Belangen des Nahrungserwerbes widmen darf, mit dem Vorteil, daß der Haushalt inklusive Aufzucht seines Vorstandes (zwei Jahre, weiblich) auch im wesentlichen in meinen Zuständigkeitsbereich fällt. Nun sind Kinder, wie es heißt, eine schöne Sache. Verwandte, Freunde und ehemalige Mitschüler werden nicht müde, die Segnungen des Nachwuchses zu preisen, und geizen nicht mit praktischen Ratschlägen.

Freilich darf man jetzt, mit dem Kinde unterwegs, schon mal sein Geld vergessen haben oder das, was man überhaupt einkaufen wollte; nachsichtige und mitfühlende Mienen der Verkäuferinnen gleiten auch über meine Kleidung, an der man ohne Schwierigkeit den Speiseplan des Winzlings erkennen kann, die aber jeden anderen Mann dem Verdikt fortgeschrittener Verwahrlosung ausgeliefert hätte. Automobilisten gewähren aus freien Stücken unserem Fahrradzweierpack die Vorfahrt. Die Welt scheint aus den Fugen.

O ja. Seit das gute Mädchen nämlich über die Kenntnis besitzanzeigender Fürwörter verfügt, ist die Sache so einfach nicht mehr. Eben bestellt die und die Redaktion einen Dreiseitentext, am besten bis gestern, möglichst lustig und mit Metaebene, da verkündet das Kind, den Rest des Tages turnend auf dem Faxgerät verbringen zu wollen.

Also gut, dann erst die Plattenrezensionen. Konservierter Tonkunst aber begegnet es stets mit einer Kaskade verschiedener hochoktaviger Quetschlaute. Prompt wird auf irgendeiner schrillen Kinderlieder-CD bestanden. Kein Wohlklang ist es auch, wenn tischhohe CD-Stapel einstürzen und sich in das orgiastische Zerreißen von Faxpapier mischen. Plötzlich, anderen Sinnes, muß eine Suppe aus Buntstiften mit Fahrradfeinmechaniköl angerührt werden – die ausgerechnet auf meinen mit Textbauplänen und millionenschweren Pointen bemalten Notizzetteln angerichtet wird.

Das Saubermachen erscheint mir manchmal nur mehr als unzureichend motiviertes Platzmachen für neuen Dreck. Auch hat sich bereits seit Monaten der gestalterische Schwerpunkt unserer Behausung immer weiter nach oben verlagert, nachdem der Nachwuchs versucht, das Interieur mit eigenen ästhetischen Auffassungen in Einklang zu bringen.

Gerade deutete in schrecklicher Gurgeldiktion bekundeter Unmut darauf, daß er sich zum wiederholten Male mit Zettel’s Traum angelegt hat, der als allerletztes Printerzeugnis noch einen Ehrenplatz, auf dem Fußboden stehend, genießt. Die folgenden zwanzig Minuten wären mühelos in Noten zu setzen, zeitgenössischer Kammermusik nicht unähnlich.

Eine abrupte Wendung erfahren meine Beruhigungsversuche, als stechender Geruch davon Kunde gibt, daß dem Mädchen nun auch die Bedienung des Backofens keine Schwierigkeit mehr bereitet: Ich betrachte das gerne als Ausdruck unseres Interessengegensatzes, denn gegarter Anorak zählt nicht zu meinen Vorlieben. Das Kleinkind aber wischt meine flüchtig formulierten Flüche mit einem himmlisch anmutenden Lächeln weg.

Bald kommt die Mutter heim, und wieder ist ein Tag geschafft. Nur keiner von den bestellten Artikeln.

taz, 9. November 1995

ZWEI EINSAME ZEUGEN

Thomas Gsella

Schau, er lächelt. Nein, es scheint

eher so, als ob er weint.

(Seine Freude ist gestorben.)

Hat ihm wohl den Schlaf verdorben. –

Schau, er wandert. Nein, er zwängt sich

durchs Gehölz. Mit einem Seil?

Warum das denn? Er erhängt sich.

Und wieso? Ich glaube, weil

seine Freude ist gestorben.

Schau, er knotet. Nein, er hängt.

Und so still – was er wohl denkt?

Nichts, mein Freund. Er ist gestorben.

Aber solln wir nicht …? Zu spät.

Höchste Zeit für – Pietät?

Kommt sie heut’ nicht, kommt sie morgen.

Sag mal: Kanntest du den Mann?

Darauf kommt es nicht mehr an.

Er ist tot, wir sind lebendig.

Aber schau, so ist es ständig:

Manche sterben, manche leben,

bis sie sich die Kugel geben,

ohne offenbaren Grund

einfach sterben und … Was und?

… keiner da ist, der versteht,

der wie wir vorübergeht,

ahnend, was da hängen macht.

Jo. Bis morgen! Tschüs, gut’ Nacht!

WIE ICH VOM RECHTEN GLAUBEN ABFIEL

Michael Rudolf

Drei Begebnisse waren es, die mich darin bestärkten, es habe Gott sein Angesicht von mir abgewandt. Das Laub der seither verronnenen Herbste hat allerdings schon eine gewisse Stapelhöhe erreicht.

Mit zwölf stand nämlich die Frage für mich, wann der Gottesbub denn nun endlich einmal aufgegessen sein würde. Zudem wollte ich in Gestalt von Hostien Teile seines Leibes in meine Gewalt bringen und hernach meistbietend versteigern. Davon nahm ich Abstand, hatte ich doch nach eingehender Inspektion schlampige Verarbeitung monieren müssen; die Oblaten waren unsauber ausgestanzt, und ich wähnte mich schon einem Hostienfälschersyndikat auf der Spur.

 

Der christliche Fundamentalist Th., der den ruchlosen Vorgang dem Pfarrer hinterbrachte, rechnete fest damit, daß sich die Erde auftäte und Sittenlosigkeit und Seuchen über die Gemeinde kämen.

Die Erde tat sich nicht auf, vielmehr fand der Pfarrer bald trügerischen Halt, indem er sich überpustelte Buben aufs Zimmer zitierte und ihr Beichtstuhlverhalten zu beeinflussen suchte. Deren erste jugendliche Schritte im Reich der fleischlichen Versuchung ließen ihm die Brillengläser vom angestauten Ejakulat beschlagen, und seine zudringliche Wißbegierde lief mit Sicherheit auf Rektalkommunion hinaus. Als er aber anhob, auch wankelmütigen und einfältigen Hausfrauen in zuchtwidriger und sittenloser Absicht nachzustellen, sagte das Bistum, die Luft in L. sei milder und würde ihm gewißlich libidinöse Abkühlung bringen. Sprach’s und versetzte ihn wie verheißen.

Etwas später half ich als Gitarrissimus eine Rockkapelle formen, die sich dem Triogedanken verpflichtet fühlte (wie ihn Cream, Trapeze oder Grand Funk Railroad eindrucksvoll praktizierten). Dazu probten wir im katholischen Gemeindesaal. Als Verzerrer gebrauchte ich ein bewährtes ungarisches Tonbandgerät, das meiner dampfbetriebenen tschechischen Kindergitarre (»Jolana«) Traumhaftes entlockte und überdies nur ab einer bestimmten Lautstärke zu voller Entfaltung kam, unter deren Einwirkung jedoch die Gasheizungsrohre des gesamten Klerikalanwesens zu lecken begannen.

Wir versuchten uns gerade einzustimmen, indem wir eine zwanzigminütige Weise der Mothers of Invention nachempfanden und dazu selbdritt entschlossen eine Dreiliterflasche Dujardin leerten. Aber noch ehe sich meine Haare wieder zwischen den Saiten verheddern konnten, kam der neue Kaplan heftig propellernd herzugelaufen, begleitet von einer übelwollenden Schar Jesusesser, sprach uns von der Seuche Rock ’n’ Roll und verbot uns seine Räumlichkeiten auf Lebenszeit. Wir konnten wenigstens noch freien Abzug erwirken, nachdem wir ihm mit bewegenden Worten einen Abriß der örtlichen Probenraummisere vorgestellt und den von der Decke herausgefallenen Putz zusammengekehrt hatten.

Beim Kotzen in die Betonmischer, die den Kirchenumbau mit rumpelndem Spiel begleiteten, versank ich in stille Betrachtung, ob der Dreieinige ein guter Gott sei, wenn er seinen Sohn von solchen Dummbeuteln aufessen läßt. Dann aber fiel ich in tiefen Schlaf und auch endgültig vom rechten Glauben ab.

taz, 29. November 1995


Coverzeichnung: Ernst Kahl.

DER BARBIER VON BEBRA

Wiglaf Droste/Gerhard Henschel

Was bisher geschah: In den fünf neuen Bundesländern ließen Wiglaf Droste und Gerhard Henschel 1996 einen Mörder umgehen, der in dem Roman Der Barbier von Bebra prominente Bartträger wie Wolfgang Thierse, Markus Meckel, Jürgen Fuchs und Rainer Eppelmann rasierte und auf heimtückische Weise ins Jenseits beförderte. Nachdem der Täter auch die Puhdys öffentlich fritiert hat, kommt ihm die Kommissarin Gisela Güzel von der SoKo Gilette auf die Schliche. Er gesteht der Kommissarin, daß er Michael Rudolf heißt, und sie lädt ihn zu einem Umtrunk ein …

Die Kommissarin und der Bartmörder saßen im Roten Salon der Volksbühne und waren beim dritten Martini. Gisela Güzel hatte ihr schönes Geständnis bekommen. Michael Rudolf war ein bibliophiler Sumsebold aus Thüringen, der es eines Tages nicht mehr ausgehalten hatte, von bärtigen Nullen, Dichtern und Christen kujoniert zu werden.

»Als ob es im Osten nur Spitzel oder Dissidenten gäbe, die nicht schreiben und sich nicht rasieren können!« sagte er. »Man muß sich ja schämen, einer von denen zu sein – einer vom doofen Rest.«

»Ich kenne das Gefühl«, erwiderte Gisela Güzel. »Meine ganze bucklige Verwandtschaft kommt aus Schlesien.«

Michael Rudolf schüttelte sich. »Am Anfang dachte ich bloß: Es gibt Dinge, die ein Mann tun muß. Aber dann hab’ ich allmählich Geschmack an der Sache gefunden. Es ist schön, wenn man sein Hobby zum Beruf machen kann.«

Gisela Güzel lachte.

»Die anderen haben schließlich angefangen«, sagte Michael Rudolf. »Und wo steht geschrieben, daß der Klügere immer nachgeben muß?«

»Und wieso die Puhdys? Nicht daß deshalb jetzt die Gondeln Trauer trügen, aber neugierig bin ich schon.«

»Neulich hat sich doch dieser Pinsel in Hamburg als Bartmörder ausgegeben. Der wollte sich auf meinen Lorbeeren ausruhen! Nun mal halblang, hab’ ich gedacht. Der Mörder bin immer noch ich! Da kamen mir die Puhdys gerade recht. Vielleicht kennen Sie dieses Lied von ihnen?« Er sang: »Das ist keine Ente – wir spielen bis zur Rockerrente!«

»Aber zum Glück auch keine Minute länger«, sagte die Kommissarin. »Wie beim Fähnlein Fieselschweif. Jeden Tag eine gute Tat! Darf ich mich erkenntlich zeigen? Noch ein Freigetränk vielleicht?«

Im Treppenaufgang rumorte es bedrohlich. »Höre ich da Freigetränk?« Achim Gresers absolutem Gehör war das verheißungsvolle Wort nicht entgangen. Im Verein mit seinen Freunden Lenz und Juhnke kam er in den Salon gestrunkelt. »Dieses Wort, meine liebe Dame, das Sie hier soeben ausgesprochen haben, steht leider, gleich nach Herzensbildung, Kamasutra oder Feldgottesdienst, auf der Liste der aussterbenden Vokabeln, während solch ein häßlicher Begriff wie beispielsweise Letzte Runde deutschlandweit in aller Munde ist!« Damit beugte sich der Galan aus dem Land der Franken über Gisela Güzels Hand und küßte sie.

Lenz und Juhnke standen bereits am Tresen und taten sich am Schnabus gütlich. »Ich bin zwei Öltanks!« behauptete Juhnke.

»Und ich bin zwei Kurschatten!« rief Greser und schloß zu seinen Gefährten auf, während sich Gisela Güzel wieder Michael Rudolf zuwandte. »Ich glaube, ich lasse Sie laufen. Unter drei Bedingungen. Erstens: Hansa Rostock muß zwangsabsteigen.«

Michael Rudolf nickte. »Das kann ich in die Wege leiten.«

»Zweitens: Heribert Faßbender.«

»Wird erledigt.«

»Drittens: Geben Sie den Jungs da vorn am Tresen noch was aus. Die gefallen mir.«

Heribert Lenz sang: »Einmal um die ganze Welt und die Taschen voller Geld, davon hab’ ich schon als kleiner Bupp geträumt …«

»Dreimal alles mit Schuß!« Das war die Bestellung, die Michael Rudolf aufgab, bevor er mit der Kommissarin den Roten Salon verließ.

»Och komm! Dreimal alles? Mit Schuß? Das ist Berlin!« Achim Greser konnte sein Glück nicht fassen. Und tanzte noch die ganze Nacht Lambada.

Wiglaf Droste/Gerhard Henschel: Der Barbier von Bebra, Hamburg: Edition Nautilus 1996

ANDROGYNE ALKOHOLIKER

Michael Rudolf

Immer wieder aufs neue lehrt uns die Welt der Strommusik die Wunder der Langsamkeit verstehen. Früher brachten die Bands in einem Jahr fünf LPs heraus, jetzt in fünf Jahren eine. Die Beatles brauchten sogar fünfundzwanzig Jahre, um ein, genauer: zwei neue Lieder zu produzieren. Gut, das mag zum gewissen Teil daran liegen, daß einer von ihnen tot ist, aber das Geschäft ist ja in solchen Fragen unerbittlich. In Zeiten seelenloser Techno- und unverständlicher Rapmusik ist die Leitbildfunktion von toten Kunstschaffenden wie Freddy Mercury, Michael Jackson und John Lennon nicht mehr wegzudenken. »Es genügt ja, daß es zwischen den Generationen außer Bach und Beethoven noch andere musikalische Brücken gibt. Die Beatles sind eine. Über Zeiten, Moden und Katastrophen hinweg«, räumt Beatles-Kenner Peter Boenisch ein und vergißt, daß die vier Liverpooler mit ihren »neuen Songs« selbst eine Katastrophe ersten Ranges hingelegt haben.

Aus Gründen notorisch leerer Kassen beim Plattenmulti EMI erwächst aber die berechtigte Forderung, wegen eines oder zwei Liedern nicht gleich aus dem Häuschen zu geraten. Also werden die ins Werk zu setzenden CDs mit allerlei Outtakes und Rarem umfüttert oder eben, umgekehrt, Anthology genannt und, wie es der Zufall will, am 20. November dieses Jahres rechtzeitig vor Weihnachten in die Läden gepumpt. Diese Anthologie gehorcht dann streng chronologischen Gesichtspunkten, besteht aus dreimal zwei Stück und bietet 123 »Lieder« des britischen Quartetts, die niemand hören will. Und eben die beiden neuen: »Free As A Bird« und »Real Love«, die, rückwärts abgespielt, wie wir uns denken können, sicher wieder geheimnisvolle Botschaften enthalten. Außerdem wird mit einer Filmdokumentation nachgelegt, der der abendländische Kulturkreis unterm Christbaum entgegenfiebern möge.

Dürften wir Paul McCartney glauben, habe man sich einfach nur mal so aus Spaß zu dem Projekt entschlossen, weil er vor zwei Jahren Yoko Ono ein gesundes Neues Jahr gewünscht hatte, die ihm im Gegenzug Stücker drei Demos mit nasalen Zumutungen ihres Nickelbrillenpantoffelhelden zuspielte. Glauben dürfen wir ihm aber nicht, dann doch lieber George Harrison. »Wenn wir noch einmal zusammenspielen, dann nur, weil wir alle pleite sind«, hatte dieser schon 1974 vorausschauend verkündet. Die 50 Millionen, die Michael Jackson für die Rechte an den 251 bisher veröffentlichten Beatles-Songs hinterlegt hatte, waren offensichtlich für ein paar Kleinigkeiten draufgegangen.

Da trafen sich die drei zur Zeit lebenden Beatles also Anfang 1994 in der nächstbesten Lennon-Gedächtnis-Gemeinschaftsdusche, damit Ringo erneut die Trommelstöcke verwechseln, Paul die Basisgitarre verkehrt umhängen und George für seine Slides anstelle eines Flaschenhalses eine gar nicht mal bißfeste Nudel über den Finger streifen konnte. Dem habituellen Segelohrenträger war es darum zu tun, »daß wir jemanden mit einem erstklassigen Gehör hatten«, und dazu verfiel er ausgerechnet auf Jeff Lynne, der recht eigentlich schon durch seine Urheberschaft an allen E.L.O.-Platten gepfählt und aufs Glücksrad geflochten gehörte. Und – bumm! – schon nach einem Jahr a new Beatles-Song was born. Alle Achtung! »Nun ja, alles hat erstaunlich gut geklappt, und ein Jahr später machten wir uns an den nächsten Song. Es dauerte tatsächlich ein ganzes Jahr, bis wir wieder genügend Energie hatten, um uns noch einmal dranzuwagen«, gesteht Paul. »Ursprünglich schwebte mir dabei ein Arrangement im Stil der vierziger Jahre vor, ein schon fast orchestrales Arrangement, aber es sollte mal wieder ganz anders kommen […]. Ich dachte mehr an George Gershwin.« Spürbare Erleichterung war ihnen zudem anzumerken, daß die Putzfrauen der Abbey Road Studios die 400 Stunden Archivmaterial freigegeben haben. Mit dessen Aufbereitung sind die Arbeitsplätze aller Beatles-Familienmitglieder bis ins siebte Glied gesichert. Was uns mitnichten vor Ergriffenheit aufheulen läßt, wohl aber vor Entsetzen.

Und was »meinen« die Beatles-Experten in Bild dazu? »Ich bin begeistert!« (WOM-Chef Thomas Reichardt, 35), »Super!« (RTL-Moderator Hans Meiser, 49), »Einer der schönsten Songs, die jemals geschrieben wurden!« (Claudia Schiffer, 25), »Superproduktion!« (Helmut Zacharias, 75).

Das reicht jedoch nicht ganz hin, um von einer Beatlemania zu sprechen, wie es die Medien allerorten tun, soweit die Ohren reichen. Bisher, so viel scheint sicher, ist sie nur in deren Hohlköpfen ausgebrochen. Zwar werden laut dpa täglich 30000 dieser Scheibletten von den Händlern geordert, aber in den Geschäften geht es allenthalben verhalten zu. Was Wunder, sind doch die Beatles-Fans in ihrer Totalität fast kongruent mit der Ilja-Rogoff-Zielgruppe. In dem Alter hat man es nicht mehr so eilig. Nun stellte die Liverpooler Viererbande schon zu Zeiten, als die Haare noch wachsen konnten, wohin sie wollten, nichts anderes als eine wohlkalkulierte, etwas karnevalesk anmutende Rumpelkiste der Affirmation dar. Ein paar aufgekratzte Bürschlein, die, bei aller Sympathie für schöne Melodien, das Mittelmaß zum Stilmittel erhoben und die Ideen richtiger Musiker für den Massengeschmack breitleierten. Als Inkarnation all dessen, was Rock- und Popmusik gerade nicht sein sollte, sind diese Männer auch heute noch mit der Umschreibung Hampelmänner am besten charakterisiert.

 

So wie Das goldene Blatt seiner Klientel das Phänomen Techno erklären würde, rekapituliert Bild noch einmal alles, was es zu den Beatles selbst nicht weiß. Das braucht uns nicht zu verwundern. Auch nicht der Schulterschluß der Gerontologen von Spiegel, Focus bis Bunte und der Zweit- und Drittligablätter, die von ihnen abmalen. Da feiert sich die Gesellschaft in ihrer Langeweile und Lustlosigkeit selbst. Die Höhe der Umsatzerwartungen mißt sich daran, wieviel Druckseiten die Anzeigenblätter der Musikindustrie dieser imaginierten Beatlemania einräumen. Der Musikexpress nimmt das sogar zum Anlaß, ganze sechzehn Seiten mit Tinnef abzufüllen. Natürlich schon einen Monat vorab, damit’s auch der Dümmste mitkriegt. Ian McDonald läßt man darüber spekulieren, was denn auf den CDs so drauf sein könnte, und von Paul McCartney läßt man sich einen Bären nach dem anderen aufbinden. »Es war erst der Erfolg der Beatles, der eine veritable Popindustrie ins Leben rief«, schreibt der verantwortliche Redakteur. »Wie soll man nun den Beatles entgegentreten? Mit ein bißchen Ehrfurcht […]. Und etwas Dankbarkeit scheint auch angebracht.« EMI rechnet schließlich mit einer halben Milliarde Mark. »Die Songs werden deshalb nicht schlechter.«

Ebensowenig wie die Visagen. Heute zeigen uns die Promofotos die Fab Three als einen Sprung androgyner Alkoholiker, die wie die Zuhälter ihrer eigenen Töchter aussehen und vor Lachen nicht in den Schlaf kommen. Das allerdings seit über dreißig Jahren.

konkret 1/1996



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