Der Mann mit den 999 Gesichtern

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Da es etwa bei der Vernissage der ersten Nach-Wende-Triennale im Greizer Sommerpalais, im Jahr 1994, noch spürbar mächtige Verwerfungen zwischen den Ost-Künstlern und ihrer neuen Konkurrenz aus dem Westen gegeben hatte und Karikaturkultur-Chefideologe Kretzschmar per flammendem Donnerwort im Neuen Deutschland ein gutes Schöppchen Öl ins Feuer dieser so künstlichen wie sowieso unnötigen Erregung gegossen hatte, erfuhr Direktor Brandlers Coup, »den Alten« zur Absegnung der musealen Würdigung der Künstlerfreundschaft Bernstein/Bofinger sprechen zu lassen, schon im Vorfeld der Ereignisse viel vorfreudige Anerkennung. Auch Michel Rudolf war sich sicher: »So soll’s sein. Brigadier Kretzschmar, genau. Der wird reinhauen, da bleibt kein Auge trocken. Klasse!«

Harald Kretzschmar war schon am Vorabend der Eröffnung angereist, und schnell war klar, daß allein schon der Umstand, daß man ihn als Hagiographen des Künstlerduos Bernstein/Bofinger bestallt hatte, ihn restlos vom somit auch sauber eingelösten hohen Anspruch des Unternehmens überzeugt hatte.

Herr Kretzschmar zeigte sich, wie Gotthard Brandler und Michael Rudolf es hatten kommen sehen, beim vorabendlich präludierenden Umtrunk schon in aufgeräumtester Stimmung und übernahm obligatorisch und zu Recht eine Art Generalpräsidentschaft. Selbst Yvonne Kuschels und meine Anwesenheit juckte ihn nicht im geringsten. Die Beteiligung der Künstlerin an der 1994er Triennale in Greiz und meine Mitarbeit an dieser Ausstellung zählten damals zu den hauptsächlichen Anlässen seiner gewaltigen Erregung.



Greiz, Gartenweg, 1994.

Und nun, nein, für die kommende Vernissage brauchte man sich erst mal gar nicht auf ein Kretzschmarsches Massaker einzustellen, denn derart bombig gelaunt, fidel und freundlich zu allen, erzählte der Karikaturistenpapst schönste Geschichten aus der Welt der zum Komischen geneigten Bildenden Kunst – und keineswegs nur solche von gestern. Michel freute sich: »Tipptopp, der Oberchef ist saugut drauf, bestes Vernissagenwetter!«, und beim späten Abendspaziergang durch den Schloßpark, den früheren Leninpark, überlegten wir schon, wie gediegen der Doyen doch eigentlich auch mal in Programm des Weissen Steins Großes und Wertvolles bewirken könnte.

Am Morgen der Vernissage lag tatsächlich froh stimmendes Sommerlicht über Greiz. Einzig meine damalige Verlobte war am Frühstückstisch mit unnötigem Gezänk und stabiler Zickigkeit gegenüber aus meiner Heimat angereisten Freunden aufgefallen – in der ganzen Unangemessenheit ihres Affekts vielleicht ein Wetterleuchten kommender Verdunkelung. Die Eröffnung der Ausstellung verlief dann noch beseligender als je erhofft. Harald Kretzschmar schwelgte und strahlte, lobte das Zusammengehen von Ost und West unter dem Dach des Sommerpalais als ideales Modell innigsten deutsch-deutschen Einigwerdens überhaupt und machte gar klar, daß etwaige kulturpolitische und auch vielleicht mal leicht persönliche Verwerfungen nun längst wie von der Weißen Elster weggespült und obsolet seien wie Pulverqualm vergessener Schlachten. Selten schwappten im Sommerpalais güldene Wogen gemütlichsten Einigseins derart hoch. F. W. Bernstein und Bofinger strahlten, Gotthard Brandler und ich griffen erleichtert zu einem Arzneigläschen Jägermeister, denn alles war prima, und sogar meine Braut hatte sich inzwischen entspannt. Der Geist des Dr. Kohlschen Donnerworts von den demnächst hier blühenden Landschaften schwadete wie ein hier schon mustergültig eingelöstes Hohes Lied wenn schon nicht über ganz Greiz, so doch gewiß über den Köpfen der im Festsaal des Sommerpalais Versammelten. Beseligt konnte man zum formellen Mittagessen im Hotel Ambiente schreiten.

Dort dann schlug das deutsch-deutsche Verbrüderungspendel voll zurück, und zwar einzig und allein knallhart auf Michael Rudolf. Irgendwann während des Essens begann mein zum erstenmal in Greiz weilender Freund G., ein sonst ehrlich-lieber Mensch, der üblicherweise von Herzen gerne jeden nach jeder Fasson glücklich werden sieht, den und dessen Frau mein Frl. Braut morgens im Hotel so grundlos zänkisch genervt hatte, mit Michel einen zwar halblustig aufgezogenen, aber insgesamt zähkrampfigen Disput über »Wir im Westen – Ihr im Osten«, in dem er, deutlich im Sinne eines burschenschaftlichsportlichen Schwanzvergleichs, Michel wissen ließ, daß die DDR und der DDRerer von vornherein ideologisch, ökonomisch, alltagskulturell und vor allem sowieso und überhaupt nur in die Hosen geschissen hätten und daß es so kein Wunder sei, daß es nun so gekommen sei, wie man’s hier und überall zu sehen bekäme: Wir Westler müssen jetzt euren Dreck wegräumen und dann schnell aufbauen, was ihr alles verpennt habt, weil ihr nicht auf uns gehört habt. Michel zog in aller Freundlichkeit sämtliche Register guten Willens und sachlicher Darlegung, um dem Mahner zu zeigen, daß er, Michel, nie und nimmer ein Begeisterter der Sache der SED war und daß er seinerzeit schon gewußt und vor allem sehr gehofft habe, daß der komplette Schrott baldigst in sich zusammenrutsche und Ruhe gebe …

Es half nichts, er mußte sich die volle Ladung »Wir gut – ihr doof – ist aber nicht persönlich gemeint« vorlöffeln lassen und blieb dabei bis zur bitteren Neige nachsichtig, zeigte sich sachte bemüht um unaufdringliche Richtigstellung und steckte die Wirkungslosigkeit dieses Mühens mit einer Langmut weg, die jeden Buddhisten vor Neid kuttengelb hätte anlaufen lassen. Zumal Michel sowieso merkte, daß sein Gegenüber eh nur bluffte, sich nämlich eigentlich noch nie ernstlich mit seinem Würgerthema beschäftigt hatte.

Als es irgendwann gut war und sich nach dem Mittagessen die Gäste in alle Welt verkrümelt hatten, segnete Michel das just Erfahrene ganz auf seine Art ab: »Das hat er doch gar nicht fies gemeint – oder persönlich; und das deutsch-deutsche Backe-Kuchen, ach komm, da wird sowieso noch allerhand Rauch aufsteigen!«


Michael Rudolf, Gerhard Henschel, Kaiserslautern, 1992.



Heiko Arntz, Eugen Egner, Dieter Steinmann, Achim Frenz, Kriki, Frankfurter Buchmesse, 1994.

WANN I AMAL STIRB … – Es war auf der Frankfurter Buchmesse des Jahres 1991 oder ’92. Beim Herumlaufen war mir eine Koje aufgefallen, in der zwei sehr sympathische Personen saßen, umgeben von ausschließlich allerschönsten, feinen Büchern. Die beiden firmierten hier gemeinsam als die beiden Verlage Edition Plasma und Edition Sirene (von Kennern »Spedition Irene« genannt), niedergelassen in Fürstenwalde an der Spree, und hatten lauter Wunderwerke zu bieten: Bücher von Joris-Karl Huysmans und Albert Girauds Pierrot Lunaire, rare Texte des frühen Surrealismus, Johannes Ilmari Auerbachs Der Selbstmörder-Wettbewerb, Julien Gracqs Auf Schloß Argol, Pétrus Borels Passerau der Student, von Louis Flamel unter anderem Die Gotik der Schändung – Die Romantik der Schleier und allerhand aus der französischen Dichtergruppe Oulipo: Georges Perec, Eugen Helmlé, Harry Mathews.

Nachdem etliche Freunde und Kollegen mich im Maß meiner Freude an diesen Schätzen bestätigt hatten, schleppte ich auch Michael Rudolf aus seiner Weissen-Stein-Bude weg, hin zu dieser kleinen Wunderkammer. Alles dort, ausnahmslos, gefiel ihm sehr wohl. Die ausgefinkelt durchdachten Ausstattungen, von Buch zu Buch so gut wie immer höchst plausibel unterschiedlich inszeniert, die große Feinheit der nicht selten eigentlich einfachen, aber findig ausgesuchten Papiere, die perfekten Formate und meisterlichen Satzmuster bei souveränstem Verzicht auf Mätzchen beeindruckten ihn tief.

Als wir uns später zu einem Imbiß irgendwohin setzten und die paar Bücher auf dem Tisch ausbreiteten, die wir gerade gekauft hatten, blieb Michel an einem kleineren Büchlein länger hängen: Der Obstgarten – Erinnerungen an Georges Perec von Harry Mathews aus dem Jahr 1982, dem Todesjahr des großen französischen Dichters, nun übersetzt von Uli Becker, herausgegeben von Jürgen Ritte.

Auf einunddreißig Seiten stehen etliche Dutzend kurze und teils kürzeste Texte, mit denen Harry Mathews von seinem Freund, Kollegen und Oulipo-Bundesbruder Perec erzählt. Jedes dieser knapp und kühl gehaltenen Geschichtchen beginnt mit den Worten »Ich erinnere mich …«

Michel beschäftigte sich mit diesem Buch eingehender als mit den übrigen fünf, sechs Wunderdingen, die wir eben geschnappt hatten. Er las eine Reihe der Szenen, kommentierte sie, sichtlich erfreut an ihrem feinen Ton, und sagte etwa: »Wenn ich dann mal nimmer bin, macht ihr mir auch so was.« Wir witzelten noch ein wenig herum, wie der Titel eines solchen Denkmals lauten könnte, und kamen schlußendlich bald auf »Wann i amal stirb …«, nach dem Titel einer figürlich-plastischen Installation des zwischenzeitlich verschollenen Wandermalers Laertes Eisenbeiß aus dem Jahr 1974, einem Kunstwerk, das dem alten Themengespann Eros–Thanatos in ragender Klassizität so ewigkeitliche wie auch neue Glanzlicher aufträgt. Dann zerrten wieder die Buchmessepflichten in Form drängelnden schlechten Gewissens an Michel, der gleich auch flugs zu seinem Stand wetzte, um dort seinen Stellvertreter aus der Stallwächterpflicht zu entlassen.

 

WIE MICHAEL RUDOLF EINMAL MEIN ERSTES BUCH VERLEGTE

Susanne Fischer

Für mich hatte alles mit Kowalski angefangen, dieser »Titanic für Mopedfahrer«, wie Frau Müller gern sagte, aber Frau Müller kannte ich damals noch nicht. In Kowalski gab es die Lkw-Rubrik, auch genannt »Zeichen, Zeiten, Tage & Wunder«, da schrieben zum Beispiel Frau Müller, Herr Rudolf und Herr Egner, den ich ebenfalls noch nicht kannte. Das wirkte alles so sympathisch schülerzeitungsmäßig, daß ich dachte: »Kann ich auch.«

Natürlich stimmte das nicht, deswegen dachte ich als nächstes etwas bescheidener: »Will ich auch.« Gedruckt wurde ich dann irgendwann tatsächlich, weil ich einfach hartnäckig blieb. So entstanden im Lauf der Zeit eine Menge kurzer Texte. Als ich die erste längere Geschichte unterbringen konnte, illustriert von Eugen Egner, hielt ich mich für eine gemachte Frau, und irgendwie stimmte das ja auch, denn die Illustration hängt heute bei mir an der Wand, und wer hat schon Illustrationen von Eugen Egner an der Wand hängen? Nur gemachte Leute oder solche, die viel Geld dafür bezahlen. Beides trifft auf mich zu.

Es entstanden nun zügig immer neue Texte, kurze Geschichten, kleine Polemiken, Momentaufnahmen – ich schrieb und schrieb so, wie man nur etwas tut, von dem man gerade erst entdeckt hat, daß man es kann: begeistert, selbstverliebt und allzu kritiklos. Kowalski mußte das exklusive Glück meiner Autorschaft bald mit der Frankfurter Rundschau und dem Raben teilen. Zumindest die Frankfurter Rundschau hat überlebt.

Fanny Müller, von mir teils bewundernd und teils neidisch beäugt, hatte inzwischen ihr erstes Buch beim Verlag Weisser Stein verlegt – Geschichten von Frau K. Damals konnte sich kein anderer Verlag dazu durchringen, Deppen, die sie alle waren und immer noch sind. Frau K., die alte, knatschige, anbetungswürdige Hamburger Trutsche, verhalf Michael Rudolfs Verlag wohl zum größten Erfolg. Auch Gerhard Henschel, heute ein gefragter Starautor, ließ seine ersten Bücher beim Weissen Stein erscheinen. Als Henschel mich damals fragte, ob ich nicht einen Beitrag zum Wörterbuch des Gutmenschen schreiben wollte (das allerdings bei der Edition Tiamat erschien), wußte ich, daß ich nun bestimmt eine gemachte Frau war. Fleißig wühlte ich in meinen Manuskripten herum und wollte endlich ein eigenes Buch, schließlich schrieb ich ja schon seit zwei Jahren jede Menge Quatsch zusammen.

Jetzt hätte der Höhepunkt dieses kleinen Rechenschaftsberichts zu folgen: Die erste Begegnung mit dem Verleger. Tatsächlich gibt sich die Erinnerung hier eher verschwommen – in meiner Kristallkugel sehe ich eine Buchmesse, einen Gemeinschaftsstand (?), ein von Michael Rudolf verdienstvollerweise herausgebrachtes Büchlein von Johann Karl Wezel, einer meiner abseitigeren literarischen Lieben, und uns beide im Gespräch darüber. Ich sehe Michael Rudolf mit seinem Autor Henschel im Schlepptau, einem Henschel, noch nicht so versiert und abgebrüht wie heute, noch ohne Maßanzug und Budapester Schuhe, sondern eher lampenfiebrig und ein bißchen zappelig. Ich sehe uns alle und noch viele andere bei der Triennale Greiz in einem Absud aus Bier, grünen Klößen und sinnlosem Krakeelen untergehen. Dort erfuhr ich auch, was längst alle Welt wußte – daß Michael eigentlich Bierbrauer, Fahrradfahrer und Pilzsammler war.

Wie es nun genau voranging mit meinem ersten Buch Kauft keine Frauen aus Bodenhaltung, habe ich vergessen. Hätte Michael mich gefragt, ob er mein Verleger sein dürfe – ich hätte es mir bestimmt gemerkt. Viel wahrscheinlicher ist, daß ich begeistert, selbstverliebt, kritiklos und mit abgeschaltetem Peinlichkeitsempfinden den stillen, freundlichen Mann so lange belabert habe, bis er »ja« sagte. An das »Ja« kann ich mich natürlich wieder erinnern, war es doch ein Grund zum Feiern: Mein Buch würde beim Weissen Stein erscheinen! Beim Verlag von Müller, Egner, Henschel und Wezel! Ich war schon wieder eine gemachte Frau. Toll!

Eugen Egner zeichnete dann den Umschlag und half bei der Findung des Titels – er hat sich inzwischen längst eine lukrative Existenz als Titelberater aufgebaut. Er malt, schreibt und jazzt inzwischen nur noch zum reinen Spaßvergnügen, und wem hat er das zu verdanken? Michael Rudolf. Und natürlich mir, die aus purer Ideenlosigkeit einen ganz neuen Beruf ins Leben rief.

Michael Rudolf war ein guter Verleger – die Bücher sahen anständig aus und wurden, gemessen an den bescheidenen Möglichkeiten eines Greizer Kleinverlags, erstaunlich gut wahrgenommen. Manchmal wunderte ich mich, daß dort im hintersten Winkel überhaupt etwas gelingen konnte. Briefpost an Michael kam schon einmal zurück mit dem Vermerk, der Empfänger sei in Graz, Österreich, unbekannt, und im übrigen sei der Brief unterfrankiert. Es schien, als gehöre Greiz zumindest für die Post nicht recht in unsere Welt. Immerhin hat Michael es aber häufig geschafft, den verwunschenen Ort reisend zu verlassen. Einmal kam er, bierforschend, auch zu einem Besuch in meine Provinz, zu Currywurst und Wittinger Pils im Gasthaus Bangemann in Bargfeld, einer sonderbaren Diät, die dem literarisch Interessierten Pflicht und Notwendigkeit ist. So erfuhr ich auch, daß Michael schon zu DDR-Zeiten Arno-Schmidt-Leser war und heimlich in der Bibliothek Arno Schmidts großformatiges Werk Abend mit Goldrand kopiert und seinem Vater geschenkt hatte. Das selbst gebundene Buch liegt heute im Archiv der Arno Schmidt Stiftung neben anderen Sonderausgaben.

Mein nächstes Werk erschien nicht mehr beim Weissen Stein, denn ein Verleger, der lieber selbst Autor sein wollte, war mir ein bißchen suspekt. Es ist das Schicksal kleiner Verlage, Autoren groß zu machen und dann, wenn sich die Arbeit allmählich rentiert, an größere Häuser zu verlieren. Fanny Müller, Gerhard Henschel, Eugen Egner – sie alle tanzen heute auf den Partys der literarischen Bundesliga, versinken in den weichen Fauteuils der großen Häuser und schnappen erfolgreich nach den buchdicken Brieftaschen der Mittel- und Großverleger. Wegen chronischer Metaphernsucht hechle ich auch nach dem siebten Buch immer noch hinterher, wobei ich eine Spur des Grauens hinterlasse. Haffmans habe ich im Handstreich erledigt, die Edition Tiamat gerade noch rechtzeitig verlassen, damit sie sich erholen konnte, Eichborn schaffe ich gerade, und bei Suhrkamp kriselt es immerhin schon fast so lange, wie meine Bücher dort verlegt werden.

Durch meinen Verlagswechsel konnte ich Michael, der als Verleger so bewundernswert stur seine eigenen Vorlieben pflegte, jedenfalls nicht komplett ruinieren. Diesen schmutzigen Job mußte ich anderen überlassen. Die Liquidation des Verlags mag man mit gutem Grund betrauern, die damit einhergehende Entfaltung des Autors Michael Rudolf konnte man als Leser nur begrüßen.


Bernd Rauschenbach, Susanne Fischer, Michael Rudolf, Greiz, 1994.

DIEDERICHSEN UND TOMAYER

Michael Rudolf

Gerade auf Jahresende beehren den Buchmarkt zwei Musikjournalisten mit ihren gesammelten Kolumnen. Zum einen Diedrich Diederichsen (Freiheit macht arm – Das Leben nach dem Rock ’n’ Roll 1990–1993, Köln 1993), der, nachdem er seine Platt(en)kritiken zu Literatur erklärte, verzweifelt neue Affirmationsmodelle für sein linksradikales Spießertum sucht. Not for regular folks! Daneben gab er jahrelang den Spex-Redakteur (Sie wissen schon: das ubiquitäre WG-Klo-Triumvirat konkret/Titanic/Spex), der Zeitung also, nach deren Lesen man sich prinzipiell blöder vorkommt als zuvor. Und zum anderen das bürgerliche Pendant Karl Bruckmaier, früher Zündfunk-Redakteur bei Bayern 2 und regelmäßiger Kolumnist für die Süddeutsche Zeitung (I’m Only In It For The Zeilenhonorar – Kritiken, Aufsätze, Interviews 1983–1993, Augsburg 1993). Beide konstatieren: Pop ist tot. Aber während sich Bruckmaier wohltuend nur bei der Analyse aufhält resp. sich in einem Beitrag über die unerklärliche Kohärenz von Jazz und Lyrik amüsiert, muß Diederichsen fremdwortüberfrachtete Essays hervorquetschen, in denen er für HipHop die legitime Nachfolge des Rock ’n’ Roll postuliert und in selben »Grundbedingungen neuen linken Denkens« ausmacht. Das ist dann die politische Korrektheit, der wir die Existenz von Gesinnungsmusikanten wie Ice-T oder Rage Against The Machine zu verdanken haben. Bruckmaier zählt hingegen genüßlich seine Feindbilder auf. Und da gehe ich voll mit: »Videos mit obdachlosen und hungernden Kindern […] Senatsbeauftragte für Rockmusik […] Winselnde Weltanschauungswachteln […] ABM-Rocker […] Classic Rock […] Gewaltvideoverbieter […] Jazzmessen […]«. Will man Popkritik auch als Zeitdokument begreifen, sollte man beide Bücher haben. Und lesen.

Auch voll zum Mitgehen ist das schon etwas betagte Bändchen von Horst Tomayer, Hirnverbranntes und Feinziseliertes (Hamburg 1990), mit einer Sammlung seiner Arbeiten für das altultralinke, aber sympathische Magazin konkret. Tomayer kennen wir zudem als Kleindarsteller in Otto-Filmen, als begnadeten Kleinschriftsteller, als Rennradler, der mühelos 200 km/d abbürstelt, und einen, der sich aufs Remittieren von altbackenen Hostien und aufs Pilzezubereiten versteht wie keiner sonst (na gut, außer Wiglaf Droste und mir). Illustriert ist der ganze Spaß auch noch von Ernst Kahl, und das ist schon Grund allein.

Konkret ist übrigens das Heftchen, welches ostdeutschen Versifexen gelegentlich die Kommata nachzählt. Diese revanchieren sich dann, indem sie den Namen des Herausgebers Gremliza permanent falsch (mit tz) schreiben. So was kann auch unterhaltsam sein. In etwa so unterhaltsam wie die Variante, die mir neulich Harry Rowohlt anbot, um sich für sein Falschschreiben der Ortsnamen Schleiz und Greiz (beides ebenfalls mit tz) zu rehabilitieren. Und dem lasse ich alles durch. Verraten wird hier aber nix von.

Brocken/Kickelhuhn/Pulverturm 11/1993

DER HALBKURZE

Michael Rudolf

Hans, auch der Halbkurze geheißen, ist zweiundfünfzig. Man ginge nicht fehl zu behaupten, sein Ringen um Erkenntnis verlöre sich im Detail. Ihm ist es nicht vergönnt, gegen seine unglaubliche Transpiration auch nur Teilerfolge zu erringen; ebenso niederschmetternd sind die Ergebnisse seiner täglichen Rasuren. Und eine etwas zu kurz geratene Anatomie verwehrt ihm weitestgehend die Lautbildung, wie wir sie üblicherweise kennen, die wir die Sprache zur Verständigung nutzen. Schon frühzeitig hatte er eine Abneigung gegen die Welt, so wie sie sich ihm darbot, gefaßt und fiel daher zuweilen über sich selbst her. In summa: Er hat schwer einen an der Klatsche.

Hans siedelt um die Ecke im Kellergelaß einer zur Seniorenresidenz umgewidmeten ehemaligen Fabrikantenvilla. Hans hat sich rundum Milchglasscheiben eingebaut, die er ständig mit lauwarmer Milch nacharbeitet, damit ihm keiner auf den Tisch gucken kann. Hans vertritt aber auch die Ansicht, wenn er die Heizung hochdreht und Fenster und Türen aufreißt, den kleinen Grundstückstümpel den gesamten Winter über am Einfrieren hindern zu können. Hans kann auch große und kleine Beträge Geldes nicht auseinanderhalten, denn es gebricht ihm am Wissen um Buchstabe und Zahl. Seine mit der Lötlampe heimlich gegrillten Kleinnager hingegen genießen bei den Heiminsassen den Ruf einer Spezialität.

Gestern lud mich der mildtätige Hans »auf einen Schluck« Selbstgebrannten in sein kryptisches Gemach. Allerhand Wichtiges habe er mir zu eröffnen. Hans bekundete alle möglichen Arten von Ausgelassenheit, schenkte fleißig nach und zitierte einfallsreich aus seinem Einfallsreich. Hans will seinem Leben eine abschließende Wendung geben. Gutes wolle er der Welt antun, denn sie sei im Grunde schlecht, darum habe er auch geheimnisvolle Kräuter in das Destillat getan. Meine ausgesucht höflich vorgetragenen Einwände schmetterte er im Wildwestidiom ab, keine Ahnung hätte ich. Dafür begann mir sein Fusel Ungelegenheiten zu bereiten und mich auf sein Lager zu werfen.

Von einer namhaften Eisenbahnbrücke der Region wolle er »für den guten Zweck« springen und beschrieb mir schon in eindrucksvollen Bildern die vor Staunen offenen, triefenden Mäuler der spendenbereiten Menge. Die wichtigsten Probleme der Menschheit habe er sich bereits auf das Bettlaken gemalt, worin gewandet er den großen finalen Sprung ins Werk setzen wolle. Sprach’s und verschwand. Ihn davon abhalten? So abgebrannt, wie ich gerade zwischen den Heizungsrohren dahinsiechte?

 

Verzweiflung kam mich an und ein nicht geringer Schrecken. Mit rasselndem Atem keuchte ich, so gut es ging, Hans dem Halbkurzen hinterher und rief und rief …

Ein besorgter Schutzmann war es, der mich weckte und auf meine vom Tau benäßten Schürfwunden und Schründe wies. Ob ich über die um mich verteilte Blechinstallation, die ad exemplum ein Fahrrad oder auch Teile eines Gartenzaunes vorstellen könne, das Eigentumsrecht ausübte – und ob ich schon die ganze Nacht so liege und schrie. Er heiße übrigens Hans. Und bei der Gelegenheit: Welches besoffene Aas sich denn bitte da hinten in bunt bekritzeltem Linnen wälze.

taz, 6. September 1995