Der Mann mit den 999 Gesichtern

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Aber zunächst machten wir Station vor den zierlich dekorierten Schaufenstern eines an Tradition reichen, hochangesehenen Bekleidungs- und Wäschefachgeschäfts an unserer Hauptstraße. Der Inhaber präsentiert hier nicht nur erste Qualitäten erfreulich souverän fernab alberner Modeaktualitäten, sondern versieht seine Auslagen originell mit kleinen Hinweisschildern aus schwarzem Karton. Darauf stehen, in weißer Tusche stets akkurat ausgeführt, hilfreichinformative Präzisierungen wie »Chice Strickweste«, »Flotter Pullover«, »Modisches Hemd«, »Klassisches Hemd«, »Hemd, Leinen«, »Elegante Krawatte«, »Sportlicher Pyjama«, »Socken, Wolle«, aber durchaus auch »Sexy Top«, »Modischer BH«, »Flottes Nachthemd« bis hin zu »Baby Doll, Synthetik«. Michel war hin und weg. So konzentriert eingedampfte Poesie – Arno Schmidts leuchtfeuerhaftes Postulat vom Dehydrieren der Sprache fiel ihm ein – bei gleichzeitig enorm konzise in Kongruenz gesetztem Bezug zu Tiefendimensionen des allermenschlichst Realen hatte er schon länger nicht mehr vor der Nase.


Zeichnung: Birgit Bysiak.

Ergriffen und gespannt drängte er weiter. Denn ich hatte Michel, der zu jener Zeit schon den Plan seiner später dann so avancierten bierkulturellen Forschungen auf der Pfanne hatte, von einem kleinen Gassenensemble erzählt, von Kennern der sozialhistorischen Materie gerne »das Tal des Todes« genannt, in dem es, namentlich auch in beschaulichen Traditionslokalen, meist dergestalt hoch herging, daß man dort um Ohrfeigen oder schärfere Prügel nie groß betteln mußte. Michel kannte eine Anekdote, in der ein Fremder, ein Durchreisender vermutlich, die Hauptrolle spielt, der offenbar aus Versehen dort einst, und zwar im Auge des Orkans, in der legendenumwaberten Gaststube Zwickerstube, um ein Bier nachgesucht hatte. Der Mann hatte sein Glas Parkbräu scheinbar auch ohne weiteres bekommen, wollte allerdings dann bald zahlen und sich empfehlen; fatalerweise, noch bevor er sein Glas geleert hatte. Seitens der Leitung des Etablissements wies man ihn in aller Sachlichkeit darauf hin, daß hier die Gläser leergetrunken würden, hier mache man keine Reste. Daran solle er sich halten. Der Fremdling widersprach höflich, es habe ihm durchaus geschmeckt und gut gefallen, alles sei prima, nur durstig sei er nicht mehr, und so sei alles bestens.

Eine Selbsttäuschung, denn so leicht ließ man ihn nicht ziehen. Um die vermutlich noch etwas umständlichere Geschichte abzukürzen: Auf der Klimax der Affäre wurde der Unbelehrbare derart wüst verprügelt, daß er sich an die Behörden wandte und seinen Fall zu guter Letzt vors Gericht brachte. Immerhin sah er sich als Opfer dessen, was andernorts als Körperverletzung verboten ist und zu entsprechenden Ahndungen führen kann. Am zuständigen Gericht allerdings ging die Chose dann zum zweitenmal ins Auge, indem der zur Abrundung seines Biergenusses verdroschene und arg gedemütigte Reisende nun auch noch erfahren mußte, daß man juristischerseits in seinem Fall nicht groß zu Konsequenzen schreiten wolle, da er sein Bier nämlich nun mal an proletarisch geprägtem Ort zu sich genommen habe, in einer Welt, in der man zwar auch allerhand ver- und wegschüttet oder auch mal stehen läßt, aber sicherlich kein Bier, das noch zum Verzehr geeignet erscheint. Das sei nun mal so, praktisch Tradition, da habe auch der Fremde sich zu fügen und anzupassen. Einstellung des Verfahrens aus Gründen offenbarer Geringfügigkeit.

Dieses Geschichtchen hatte Michel sehr behagt, und es war klar, daß er den Ort dieses Geschehens mit eigenen Augen sehen wolle. So waren wir ins Tal des Todes vorgestoßen und fanden, werktags kurz nach Mitternacht, dort dann allerdings, gemäß der Faustregel vom alles vermasselnden Vorführeffekt, rein gar nichts Bemerkenswertes vor. Zu allem Jammer war besagte Wirtschaft samt ihrem konzeptionell ähnlich orientierten Nachbarinstitut auch noch gerade geschlossen, sozusagen temporär außer Betrieb, und pittoreske Randalierwillige waren auch weit und breit nicht zu sehen, nicht mal zu hören. Mehr enttäuscht als erleichtert, man will schließlich auch mal was erleben und sowieso dem Gast etwas bieten, trottelten wir noch ein paar düstere Altstadtgassen entlang, um bald vor das Schaufenster einer Metzgerei zu geraten, in dem ein Ensemble possierlicher, teils sachte anthropomorphisierter Keramikschweinchen und zwei, drei Rindviehfiguren artig zu beinahe biedermeierlich anmutenden Gruppen traulich solidarischer Wesen arrangiert standen. Von fahlem Licht notdürftig beleuchtet, lungerten diese Dekorationsstücke, Inkunabeln der Tierplastik, so nonchalant-vergammelt zwischen einer Auswahl repräsentativer Wurstwaren herum, als versammele sich Eugen Egnersches Groteskenpersonal zu schwer konspirativem Einsatz. Und mitten zwischen diesen fast epiphanisch aufragenden Vergegenwärtigungen dessen, wovon all das stammt, das es beim Metzger zu kaufen gibt, prangte auch noch auf einem von Kunstblumen umkränzten, leberwurstfarbenen Marmorpodestchen eine leicht protzige, mit ebenfalls goldbräunlich wie Brathendlhaut glänzenden Ringelwülsten garnierte Steingutvase, in der ein prall-dichter Gestrüppstrauch steckte, dessen Verästelungen kleine, noch prallere, satt-fettige Miniwürstchen hielten – wie ein komplett wahnsinnig gewordener Weihnachtsbaum seinen verkehrten Schmuck. Das Ganze stand korrekt versehen mit einem Preisschild: »Wurststräuße, DM 9,80 bis 14,80, ideal zum Bier«.

»Ideal zum Bier« – ich dachte, den Michel träfe der Schlag. Nach der ernüchternd toten Hose im Tal des Todes entschädigte diese feierliche, beinahe sakrale Installation ihn doch sehr für vergebens erhoffte Abenteuer. Zumal sich die unbedingte Dignität und Aktualität des Vorgefundenen im Handumdrehen verifizieren ließ. Die Überprüfung der Schaufenster einer führenden Wurstboutique ein paar Straßen weiter trug nämlich gleichermaßen Frucht. Auch dort blühten derart flotte Wurststräuße, daß man fast von Bouquets reden mochte, allerdings ohne Verweis auf die anderen Orts so plausibel beschworene Idealität begleitenden Biergenusses. Ich will den Mund nicht zu voll nehmen: aber das, was Michel und ich uns angesichts dieser Wurststraußprächtigkeiten über das trauliche Hand-in-Hand-Wirken von Metzgersmann und Metzgersgattin im Spannungsfeld zwischen Wurstteigkonsistenz und neuzeitlicher Wohn- respektive Präsentkultur zurechtsinnierten, würde heutzutage an jeder Uni geradewegs zu tadelloser Habilitation auf dem Felde avanciertester Gender-Studies führen.

Und keine drei Tage später rief Michel aus Greiz an. Auch bei ihm daheim standen, wie ums kreuzweise Arschlecken, die Metzgereiauslagen voller feudaler Wurstgebinde in Straußform, alles auf höchstem Niveau. Es lag uns abermals auf der Hand: Hier formierten sich nicht nur ehemals diverse Sparten bodenständigen Handwerks vorwärts zu neuen Horizonten wohlständiger Prosperität im Zeichen eines gesamtdeutschen, vermutlich paneuropäischen Lifestilbewirtschaftens – hier Floristik, da Schlachterei; nein, hier trat in ihre Rechte die Avantgarde des von Kanzler und Preßwurstfreund Dr. Helmut Kohl so flott gestifteten Zusammenwachsens dessen, was in eins gehört. Michel und ich standen innerlich stramm vor dem bonsaiformatigen Idealtypusmodell nahrhaft dünstender und gleichermaßen im Ästhetischen prall florierender Landschaften: einleuchtende Beschwörung hoher Unio mystica alles füglich Seienden aus Metzgershand. Heilig, heilig.


In meiner Schilderung der allgemeinen großen Gefährlichkeit des Daseins im sogenannten Tal des Todes hatte ich gegenüber Michael Rudolf nicht übertrieben. Unlängst berichtete Freund Kurt Stephan, ein mir in lokalhistoriographischen Belangen als äußerst zuverlässig bekannter Herr, der seine Kindheits- und Jugendjahre in einem Wohnhaus just am Rande des in Rede stehenden Quartiers erlebt hat, daß sein Bruder in den sechziger Jahren, als es dort noch regelmäßig etwas turbulenter zuging, sicherheitshalber auf dem Fuß kehrtmachte, wenn er bei der Annäherung an seine Heimstatt zwischenmenschlicher Aufrüttelungen vor den diesbezüglich renommierten Kneipen gewahr werden mußte. Er lief dann schnell zum nahen Taxistand, nahm sich eine Droschke und ließ sich, um etliche Ecken herum, die knapp zweihundert Meter bis genau vor seine Haustür fahren, um so auf sicherem Weg den Schutz des Hauses zu erreichen.

BESONNTE TAGE – Am Vorabend der Eröffnungsfeier zur Greizer Triennale des Jahres 1994 waren schon zahlreich Gäste rund ums Sommerpalais versammelt. Bald traf ich die Autorin Fanny Müller und konnte renommieren: »Ich habe schon die große Zeichnerin Yvonne Kuschel persönlich getroffen, ‚im Fleische’, wie Eugen Egner sagen würde, und die schöne Frau Passig – Anmut und Liebreiz, wohin man nur blickt, wenn ich’s dir sage, und rate mal, mit wem ich mein Appartement teile …« Frau Müller freute sich mit mir, sie ist nämlich eine ausgesprochen kluge Dame mit großem Herzen, mit der man als Mann auch unbedingt erkenntnisträchtig über Frauen reden kann, und hatte sich ebenfalls schon umgesehen: »Ja, und ich habe schon den berühmten Verleger Michael Rudolf leibhaftig kennengelernt!«

Den traf ich nur Minuten später, und auch er strahlte und sprach: »Ah, die Müller Fanny, meine Autorin, was für eine Freude, und Yvonne und Fritz Tietz, und mit Kathrin müssen wir reden, die muß mir was zum Verlegen schreiben.« Im Weissen Stein war damals nämlich schon Fanny Müllers Debüt, der Erzählungsband Geschichten von Frau K., erschienen, ein Ereignis, dessen Eintritt Michel mir telefonisch beim freudigen Bücherauspacken so gemeldet hatte: »Ein Festtag im Verlegerleben, Fanny Müller, vivat!«, und Kathrin Passig hatte, hier sozusagen als Kollegin von Michel, in Kowalski kurze Prosatexte von ganz erheblicher Prachtentfaltung veröffentlicht, beispielsweise die in schier attisch zu nennendem Ebenmaß erfunkelnde, enorm reife Etüde »Verkommenheit«, ein Lieblingstextchen von Michel.

 

1994! Von wegen Kathrin Passigs brillante Erzählung »Sie befinden sich hier«, mit der sie 2006 den Bachmannpreis gleich doppelt gewann, sei der überhaupt »erste Prosatext« dieser Autorin. Da lachen die sprichwörtlichen Hühner.

ÖNOLOGIE – Ebenfalls, als Michel zum erstenmal die Pfalz besuchte, erlebten wir gemeinsam ein Naturschauspiel, das dem 1992 sich langsam dieser künftigen Profession bewußt werdenden späteren Bierphilologen einen Heidenspaß bereitete. Während wir, aus der Vorderpfalz kommend, in Richtung Kaiserslautern auf der Autobahn wegen einer Baustelle langsam dahinfuhren, kamen wir nahe Neuleinigen an prominenten Weinbergen vorbei, die dort bis knapp an die Straße gepflanzt stehen. Am Rande einer dieser Plantagen ging ein Herr mit seinem Hund spazieren, und dieses Tier war gerade dabei, sein Geschäft, ein größeres, artig zwischen den Rebstöcken der ersten und zweiten Reihe zu verrichten.

Michel war begeistert: Das war nun mal eindeutig ein Fall höherer Segensstiftung dort, wo der Hund drauf scheißt. Ich hatte ihm eh gerade ein paar Minuten zuvor erzählt, daß neuerdings in südwestdeutschen Lokalen auch weibliche Sommeliers, wir nannten sie zart antikorrektermaßen Sommelieusen, ihren Dienst tun und einem mit ihrem sülzig-blöden Bluffergelaber noch mehr Kopfweh bereiten als mit dem sudeligsten Wein, den sie einem so affektiert einschenken. Eingedenk dieses braven Tiers nun war wunderschön zu phantasieren, wie sortenrein sich dessen Hinterlassenschaft auf allernatürlichsten Wegen in den dort reifenden Jahrgang verstoffwechseln würde und wie leicht man in den kommenden Jahren einen wahrhaft nuancensicheren Weinkenner oder gar -kellner daran erkennen könne, daß er diese Eigenheit des Bouquets genau erkennen und in möglichst aufgeblasene Euphemismen zu verklausulieren wüßte, während ihm sein noch kundigerer Gast barsch das Wort abschneidet: »Nee, isch schmeck’ do oindeutisch Schappi-Premium-Wildterrine und Latz-Dinkelleckerli, gell, mache Se mer nix vor, do hat en Terrier in de Wingert gschiss!«

Für Michel stand das Resümee fest: »Das kann dir beim Bier nicht passieren, der Hund kackt nicht ins Hopfenfeld!«

AM FICKOMAT VON MAINZ – Wenn ich mich recht erinnere, habe unseligerweise ich Michael Rudolf dazu angestiftet, die damals noch ganz kurze Geschichte und das Programm seines Verlages Weisser Stein bei der Mainzer Minipressenmesse des Jahres 1993 vorzustellen. Michels Teilnahme an dieser Veranstaltung zur Würdigung literarischer Kleinverlage – er durfte unter dem Motto »Verlegerträume« das Konzept seines Verlages vorstellen, neben Benno Käsmayr, der für Maro anzutreten hatte – erwies sich für ihn insoweit als Reinfall auf ganzer Linie, als daß diese überschaubar dimensionierte Buchmesse, deren speziellen Charme Michel irgendwo zwischen Ökomarkt-Impertinenz und Esoterik-Budenzauber ausmachte, dem jungen Verleger außer Kosten, Mühen und vergeudeter Zeit nur wenig einbrachte, zumal zu Hause am Greizer Schreibtisch sich das Pensum nützlicherer Arbeiten gewaltig häufte.

Gerhard Henschel, dessen Buch Moselfahrten der Seele – Referate und Räuberpistolen gerade als Titel Nummer 11 bei Michel erschienen war, trat im Lesungsprogramm der Messe auf, nicht wirklich passend oder animierend umrahmt allerdings von einer Horde rheinländischer Slam-Poetry-Hanswurste, guttrainierten Wettlese-Experten, als deren Spitzenkräfte eine dichtende Reinemachefrau und eine exotische Hobbydichterin mit schwer verbeultem, fürs Stoffliche ihrer Texte aber profund erschlossenem Migrantenhintergrund (von der Karibik nach Köln – oder so ähnlich) so rasant poetische Zeichen setzten, daß es die sprichwörtliche Wutz im Stall nur so gruselte. Michel und ich waren sozusagen als Verkörperung der Leserschaft Gerhard Henschels vor Ort und bekamen gleich tüchtig zu staunen, wie entschieden und wacker sich der Autor durch den Dschungel an Zumutungen schlug, durch den ihn der hier schief angelegte Weg zur Öffentlichkeit führte.

Michel fluchte sehr zu Recht, denn zu all dem anderen Unheil war auch noch das Wetter anhaltend garstig. Sehr nasser Wind pfiff kalt am Mainzer Rheinufer entlang, und die nötige Flucht nach vorne, vom öd-belebten Messezelt (Michel: »Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Kleinverlegerkollegen oder das Publikum«) hin zum nahen Zentrum der rheinland-pfälzischen Hauptstadt, führte uns Ortsunkundige auch zu rein gar nichts Gutem.

Einzig unsere Unterkunft gab Anlaß zu gehobenem Plaisir. In ein eindeutig am Zielpunkt langer Talfahrt hart aufgeschlagenes Hotel aus wilhelminischen Tagen, nahe am Mainzer Hauptbahnhof, hatten uns die Experten der Touristenbehörde eingewiesen. Michel und Gerd stöhnten halb amüsiert, halb echt geschockt: Als noch verblichener als einige der wildesten Kaschemmen, die sie auf Lesetour durch die noch sehr jungen Neuen Bundesländer kennen- und fürchten gelernt hatten, zeigte sich dieses erahnbar ehemals noble Haus. Tapeten mit Müsterchen, die man problemlos jedem fachlich noch so fitten Kurator psychopathologisch orientierter Kunstsammlungen als ewige Glanzstücke seiner Bestände unterschieben könnte, mobiliarhaftes Geraffel, dessen Schoflesse selbst hartgesottene Sperrmüllexperten in die innere Emigration gescheucht hätte, und eine Gesamtatmosphäre wie in gewissen schwarzweiß gehaltenen Meisterwerken des osteuropäischen Filmdramenrealismus der ganz frühen sechziger Jahre. Zu trinken gab es in dieser ungemütlichen Herberge am Abend sowieso nichts mehr, nicht mal Fernsehkästen standen bereit, und draußen tobten weiterhin Sturm und Regen. Also saßen wir erst mal matt in einem unserer Zimmer herum und klagten über das laue Gedöns bei der Kleinverlagsbuchmesse.

Einer von uns, ich meine, es war Michel, entdeckte dann den kleinen merkwürdigen Kasten. Auf dem Nachttisch, unterm Schirm einer kleinen Funzellampe. Ein dunkel lackiertes, gut abgegriffenes, simpel verarbeitetes Blechkistchen, mit alten Stromschaltern auf der Oberseite und einem Schlitz wie auf einem Kollektenschrein, groß mit dem Hinweis »DM 1« beschriftet. Ein dickes Kabel verlief von diesem Instrument ins Dunkel unterm Bett. Rätsel über Rätsel. Michel hatte ein Markstück zur Hand und steckte es, nur mäßig gespannt, was für Attraktionen nun eintreten würden, in den Schlitz. Augenblicklich erhob sich ein schnarrendes Gequengel aus dem muffigen Inneren des Bettes, ein ungesund klingendes elektrisches Eiern, wie von einem Handmixer kurz vor seiner endgültigen Havarie. Und das noch abgedeckte Bett begann sich zu regen, bäumte sich partiell um ein paar Zentimeter auf, ungefähr in der Mitte der Liegefläche, schön im blöd fickrigen Takt des Geknatters, anzusehen etwa so, als übe ein mit schlechten Amphetaminen großzügig gedopter, zornig bockender Goldhamster unter der Decke einbeinig einen Veitstanz ein. Michel erstarrte, er hielt den Geldschlitzkasten in Händen wie ein überforderter Meßdiener sein Monstranzenzeugs während einer unvermuteten Herrgottserscheinung, guckte einigermaßen verdattert auf das, was er da angerichtet hatte, und wußte erst mal überhaupt nicht mehr weiter. Gerd Henschel, der hinsichtlich des weiteren Verlaufs dieses Abends auch schon alle Hoffnung aufgegeben und nur einen Schritt neben Michel gut aufgepaßt hatte, was nun geschehe, gewann als erster seine Fassung zurück und lachte sich schier scheckig. Von diesem, Gerds erstem Ausbruch baren Vergnügens an diesem sonst voll vergeigten Tag ermutigt, betätigte Michel nun einen mit 1, 2 und 3 beschrifteten Schalter, und sofort gehorchte das Bett, indem das ratternde, leicht hoppelnde Geknatter sich nun auch noch in wechselnden Frequenzen hören ließ, je nach Grad der ihm fernlenkerisch befohlenen Erregung.

Noch bevor nach etwa einer Minute der Spuk erlahmte, hatten wir unsere sämtlichen Markstücke hervorgekramt, und Michel, er hatte gefaßt und beherzt die Rolle des Ingenieurs und Leiters des Experiments übernommen, fütterte erneut den Kasten mit Barem. Gerd Henschel, der nun auch noch wissen wollte, was genau die Ursache der Erscheinungen sei, deckte vorsichtig das Bett ab, hob mit spitzen Fingern die Matratze an und stieß auf ein weiteres, auf dem Lattenrost wackelig-schief befestigtes Kästchen, aus dessen Oberseite ein kleiner Stößel herausklopperte, zweifellos dafür geschaffen, per pochender Einwirkung auf die Matratze eine oder mehrere auf dem Bett situierte Personen mechanisch zu bearbeiten.

Ein geprägter Schriftzug auf einem der Kästen wies per Wortspiel auf das gewisse Massagehafte der dem Apparat eigenen Regungen hin. Den völlig perplexen Gerd Henschel hielt nun gar nichts mehr auf den Beinen. Laut lachend und die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, wälzte sich der junge Dichter auf der durchfallfarbenen Auslegeware. Irgendwann, mehrere Markstückel waren verjuckelt, ließ sich einer von uns auf den Rand des kinetischen Betts fallen, das sofort weitgehend durch- und zusammenkrachte und nun wie ein am Orkus gestrandetes Floß handwerklich ungeschickter Schiffbrüchiger dumm vor der Wand hing – bei immer noch stur tuckerndem, erstaunlich standfestem Stößelmechanismus. Ein grandioser Anblick, beinahe rührend schon, ergreifend wie eine von Beate Uhse gesponsorte, eingedenk Sigfried Giedions Studie über Die Herrschaft der Mechanisierung multimedial zur Metapher des universell Deppenhaften versaubeutelte Paraphrase von Caspar David Friedrichs großem Bild der vor dem gefrorenen Meeresufer gescheiterten Hoffnung, mit der man Harald Szeemanns kompletter Ausstellung »Junggesellenmaschinen« von 1975 mit links Konkurrenz machen könnte. Gerd Henschels Lachkrampf war endgültig ins Chronische entgleist.

Michel aber ließ sich zu fast anzüglich politischen Bemerkungen zum Nimbus der westdeutschen Hotellerie hinreißen, nicht die letzten Witze dieses so im letzten Augenblick noch geretteten Abends im stark faden Mainz. Am Morgen gelang es uns, das Bett immerhin so scheinbar gerade wieder aufzurichten, daß es zumindest auf den ersten Blick wie intakt aussah. Zur Minipressenmesse nach Mainz sind wir drei dann nie mehr gefahren.

»EIN GENTILER HERR« – Aus Michels Mund habe ich nie eine Zote oder ähnliches gehört. Er konnte fluchen, auch schimpfen; aber er wurde nie auch nur andeutungsweise ausfallend. Selbst in grenzwertigen Situationen nicht.

Als ich mal mit ihm vor einem Drehkreuz am Eingang zum Frankfurter Messegelände stand, wurde er beinahe von einer wuchtig daherstampfenden Dame, einer riesigen Gestalt von ungeheurer Blunzenhaftigkeit, umgerempelt. Er wich im letzten Augenblick elegant aus, machte auch noch einen leichten Diener, wies lächelnd aufs Drehkreuz und sagte doch tatsächlich: »Madame …« Das Monster, das um ein Haar im Drehkreuz steckengeblieben wäre, japste kurz auf und blaffte Michel grob an: »Die Madame könnense sich sonstwo hinstecken!« Erst als diese Person außer Hörweite war, sagte Michel »Um Himmels willen« und grinste nachsichtig.

Keine zehn Minuten später saßen wir gemütlich am Buchmessenstand des Haffmans Verlages, als genau jenes Monstrum wieder auftauchte, sofort laut nach dem Verleger verlangte, sich zwischen Umherstehende drängelte und schnaubend signalisierte, daß es fixe Bedienung erwarte. Michel war begeistert. Er trat zu Gerd Haffmans, der sich mit Autoren unterhielt, faßte ihn leicht am Ärmel und sagte, auf die Besucherin weisend: »Herr Haffmans, diese Dame hier hätte ein Begehr …« Nun mußte halt der arme Gerd Haffmans ran, der anschließend ganz daddelig aus seinem schönen Anzug schaute. Denn das Ungeheuer war als Journalistin unterwegs und wollte dringlich zu einem Interview mit der Jungautorin Amanda Filipacchi vorgelassen werden, deren aktuell als leicht skandalös berüchtigter Roman Nackte Männer unter dem Hinweis »Der Roman einer Erotomanie – süß wie die Sünde selbst«, versehen mit dem Foto einer merkwürdig halbnackten Frau auf dem Umschlag, im Haffmans Verlag gerade auf deutsch erschienen war. Der Verleger wußte mit reichlich Mühe seine Autorin vor dem Schlimmsten zu bewahren und seufzte nach dem Weggang der in Bud-Spencer-Pose vor ihn hingetretenen Frau ernstlich geschlaucht: »Jetzt brauch’ ich was zu trinken.«

Michael Rudolf, in seiner nicht zu überbietenden Milde, schloß das Ereignis mit den Worten ab: »Mademoiselle Filipacchi, da ahnen wir doch was, siehste, deswegen hat Madame es vorhin so eilig gehabt.«

Ich habe Michael Rudolfs reiche Begabtheit mit Contenance immer sehr bewundert und komme, wenn ich an ihn denke, oft auf Eckhard Henscheids schön huldigende Worte über Ror Wolf: »Ein gentiler Herr«. Genau!

 

PILZKULTUR – Als Michael Rudolf daranging, für den Haffmans Verlag einen Band der Schriftenreihe Der Rabe – Magazin für jede Art von Literatur zusammenzutragen, fragte er mich, ob ich Sachdienliches beizutragen wüßte. Letale Pilzgerichte, fragwürdige Rezepte aus dem Pfälzerwald, derlei hätte ihn interessiert. Ich konnte überhaupt nicht dienen, erinnerte mich lediglich an einen ehemaligen amerikanischen Soldaten, der früher bei der US-Luftwaffe in der Pfalz zu dienen hatte und stets allerhand Kurioses aus den Alltagsgeschäften des Militärs erzählen konnte. Jener hatte einmal von einem dienstlich zirkulierenden, als ziemlich »vertraulich« klassifizierten Handbuch berichtet, in dem Fotos verschiedener Formen echter »Atompilze« zum anschaulichen Vergleich versammelt waren, typische Rauchwolken, wie sie zum Himmel aufsteigen, nachdem die Bombe geplatzt ist. Man sieht solches auch, lieblich schön zu hymnischer Schlagermusik choreographiert, am Ende von Stanley Kubricks Filmgroteske Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben. Im besagten amtlichen Album der echten Bombenkerle sollte es laut meinem Gewährsmann in der Hauptsache darum gehen, eigene Atombombenrauchwolken von jenen des Feindes (in den siebziger Jahren noch eindeutig der Russe) unterscheiden zu können. Michel war von der Aussicht entzückt, dieses im Zivilen vermutlich einigermaßen okkult gehaltene Werk für seine Forschungen verwenden zu können. Unser Informant, leider damals schon länger außer Diensten, konnte dann leider weder ein Exemplar noch nähere Angaben zum Titel etc. besorgen. Wohl standen immer noch Umstände der beim Militär ja stets gerngesehenen Geheimhaltung einem leichten Zugriff sehr im Weg.

Was Michel in diesem Zusammenhang auch sehr einleuchtete: Derselbe exmilitärische Gewährsmann hatte, in Vernachlässigung seiner geheimhalterischen Gelöbnisse und Pflichten, mit großem Amüsement herumerzählt, daß seitens der NATO ein feindseliges Näherrücken des Russen und seiner Mittäter unbedingt auch immer für die Weihnachtstage in Betracht käme. Und für eine derartige Gemeinheit des Russen hatten sich die Bedrohungstheoretiker im Pentagon und ihre Vasallen auf der Bonner Hardthöhe einen mindestens doppelten Grund ausbaldowert: 1. Die große Gottlosigkeit des multipel verblendeten Russen kennt keinerlei Respekt vor hohen christlichen Feiertagen. 2. An Weihnachten haben unsere Soldaten frei, sozusagen Urlaub, weilen zu Hause bei ihren Lieben und trinken Glühwein. In das deswegen weit klaffende Abwehrvakuum frevelhaft vorstoßen zu wollen, hatte man als regelrecht wesensmäßig für den Russen erkannt. Michel schlug sich auf die Schenkel, genau das hatte auch er immer schon geahnt, auf ebendiesem Niveau hatten ihm seine Ausbilder bei der Nationalen Volksarmee die Schwitzigkeit der Dauerspannungen zwischen Warschauer Pakt und NATO erklärt.

Sehr erbaute ihn auch zu erfahren, daß man in Sachen Russenabwehr und -prophylaxe in meiner engeren Heimat gerne Nägel mit Köpfen machte. Als der Kalte Krieg nämlich so richtig schön am Brummen war, strotzte der Pfälzerwald nur so vor unterschiedlichsten Einrichtungen der amerikanischen Streitkräfte. Bunker, Depots, Giftgas- und Schnapslager, Ausweichhauptquartiere, Übungs-, Spiel- und Schießplätze usw., alles immer stattlich umzäunt, abgesperrt und eisern bewacht. Daß dieser ganze Krempel die gottlosen Aufklärungstrupps des Warschauer Pakts etwa so zwingend animierte wie ein sperrangelweit offen stehender Kuhstall jeden Mückenschwarm in weitem Umkreis, liegt ebenso auf der Hand wie der demgemäß hohe Grad an Alarmiertheit bei den Amerikanern, die, über die Verheißungen des Weihnachtsszenariums hinaus, pausenlos so taten, als erwarteten sie das Heranwalzen des Russen augenblicklich. Und um schon gegen das freche Auftreten etwaiger Russenvorhut, vielleicht etwa in Form touristisch getarnter Spione, immer optimal und völkerrechtlich wasserdicht gewappnet zu sein, hatten sich die Amerikaner eine gewaltig hinterfotzige Extravaganz ihres sowieso großzügig ausgelebten Beschilderungs- und Warn- oder Drohwahns ausgedacht: Im Pfälzerwald standen tatsächlich Schilder, auf denen in weißer, kyrillischer Schablonenschrift zu lesen war, daß auch der Russe hier nichts zu suchen und bei Zuwiderhandlung mit dem Äußersten zu rechnen habe; mit ernstlichem Gebrauch von Schußwaffen nämlich. Wäre der Russe gekommen, und hätte man ihn dann erwischt und erschossen, wäre somit klar gewesen: Er ist selbst dran schuld, er war ja gewarnt. Leider waren in den neunziger Jahren solche Schilder dann kaum mehr zu finden.

Michel aber war allein vom Bericht über diese Beschilderungspenibilitäten der großen westlichen Schutzmacht höchst erbaut. Und er bewies als Zeitzeuge des weiteren Fortgangs der bilateralen mitteleuropäischen Abrüstungsorgien der Ära Gorbatschow kosmopolitischen Weitblick und die tolerant-sportliche Grandezza des entspannten Feingeistes, der, ganz ohne Ressentiment, jeglichem Etappensieger im dann erst mal vertagten Kampf der Systeme gleich frohen Tribut zu zollen vermag, wenn ihm der Lauf der Dinge recht gibt. Die Amerikaner und ihre westdeutschen Marionetten nämlich lagen mit ihrer Russenphobie, im weiteren globalhistorischen Maßstab besehen, zu Zeiten des Kalten Krieges gar nicht so verkehrt. Denn kaum hatten sie ihre Präsenz zum Beispiel in der Hinterpfalz augenfällig geschrumpft, marschierte dort tatsächlich umgehend und beeindruckend zahlreich der Russe in den neu eröffneten geostrategischen Freiraum ein. Und zwar in Gestalt der von Bundeskanzler Dr. Kohl listig herbeigelockten und hier bleibend angesiedelten großdeutschstämmigen Aussiedler von jenseits der Wolga etc.

Michel erkannte den Zusammenhang augenblicklich und sagte zu diesen Entwicklungen nur: »Das hab’ ich kommen sehen, auf den Punkt. Pfeilgerade so hab’ ich den Russen kennengelernt«; und hatte trotzdem nicht die geringste Lust, mir wüste Geschichten vom Horror seiner Militärzeit bei der NVA zu erzählen: »Nee, laß mal, da gibt’s schönere Themen.«

HERBERGSVATER MICHEL – Als ich einmal, nach einer mühseligen Autofahrt durch Winterwetter, in Greiz ankam, suchte ich als erstes Michel auf, damals in der Wohnung im Gartenweg. Er sah sofort, wie müde ich war, und sagte: »Du kriegst erst mal eine Stulle«, bereitete mir ein klassisch illustriertes Brot zu und etwas Warmes zu trinken. Fünf Minuten später fühlte ich mich wie nach vier Wochen guter Kur.


VERWERFUNGEN – Im Sommer 1995 hatten Gotthard Brandler und ich eine Ausstellung der Künstlerkollegen und -freunde F. W. Bernstein und Manfred Bofinger fürs Greizer Sommerpalais organisiert. Es war eine Freude, diese Schau vorzubereiten. Jürgen Brömmer hatte in seiner just gegründeten Brömmerschen Privatverlagsanstalt zu Mannheim zwei schöne Katalogheftchen aufgelegt, und Gotthard Brandler war, nach eingehenden Beratungen auch mit Michael Rudolf, auf die strategisch grandiose Idee gekommen, als Vernissagenfestredner keinen Geringeren zu bitten als »den Großen Vorsitzenden« Harald Kretzschmar. Dieser prominente Herr, seines Zeichens nicht nur selbst Zeichner, Karikaturist, Illustrator, Plastiker und Autor, wirkte nicht nur als Journalist, Mitarbeiter des Satiremagazins Eulenspiegel, Kunstkritiker und Hochschullehrer, sondern unter anderem als Vorsitzender der Zentralen Sektionsleitung Karikatur im Verband Bildender Künstler der DDR und hier unter anderem als Bannerträger der besonderen Beziehungen zu den Karikaturisten Bulgariens ab der ersten Stunde. Als wirklich kapitelfester, vermutlich weltweit bester Kenner auch noch der verstecktesten Winkelchen der glorreichen Geschichte der Komischen Zeichenkünste in der DDR weiß Kretzschmar wortwörtlich alles und kann es auch wunderschön erzählen; er kennt sogar sämtliche Pseudonyme, unter denen Ulbricht und Honecker irgendwelches witzpfiffig gemeintes Geschwurbsel tatsächlich im amtlichen DDR-Satireblatt Eulenspiegel veröffentlichten!