Der Mann mit den 999 Gesichtern

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MICHELS TRAUMSCHLOSS – Während dieser Tagung bekam ich ein Exemplar des Bandes 1 der Taschenbuchreihe des Verlages Weisser Stein geschenkt, die 1991 erschienene historische Studie Schloß Liebau und seine Besitzer von Michael Rudolf. Dieses kleine Bändchen hat – über seinen hohen regionalhistorischen Wert hinaus – seine ganz eigene Geschichte. Es steht für eine lebenslange Herzensangelegenheit Michels, und es rangiert sehr zu Recht am Beginn jener Reihe, die das Rückgrat des Verlagsprogrammes ausmachte. Michel war als Kind mit seinen Großeltern oft am Schloß Liebau nahe Greiz und in dessen Umgebung spazierengegangen und hatte sich in dessen romantischbildschöne Kulisse verliebt. Phantasien seiner Kindheit verband er fortan mit der Ruine und mit dem wenigen, das er über deren Geschichte wußte. Später beschaffte er sich historische Literatur, und als er seine Frau Ina kennenlernte, waren die beiden häufig dort und teilten sich fortan Michels Liebhaberei für das Gemäuer. Sie nahmen sich vor, wenn sie mal zu Geld kommen sollten, vielleicht in der Lotterie einen Treffer hätten, die Ruine zu kaufen, sie anständig nach denkmalschützerischen Prinzipien herrichten zu lassen, um dann eventuell ein kleines Restaurant darin zu eröffnen. Sie dachten sich Speisen aus, die dort zu haben sein sollten, und stellten sich vor, ihre Tochter Eva könnte dereinst dort arbeiten. In den achtziger Jahren ging Michel daran, zunehmend sachlich und sorgfältig nach historischem Material zur Geschichte des Schlosses, zu seinen Besitzern und deren Umgebung zu suchen. Er fuhr zu den zuständigen Archiven und Kirchenämtern, arbeitete sich in die Methoden der Historiker ein und legte sich den Plan zu einem Buch über Liebau zurecht.

1990 hatte er seine Studie so weit abgerundet, sogar Zeichnungen zur Bebilderung angefertigt, und nun wollte er sie veröffentlichen. 1991 gründete er seinen Verlag, und sein Schloß-Liebau-Buch erschien, wie erwähnt, als die Nummer 1 der Broschuren. Große Freude.


Ernst Volland, Harald Kretzschmar, Michael Rudolf, Andreas Prüstel, Werner Tammen, Klaus Vonderwerth, Dieter Steinmann, Rainer Hachfeld, F. W. Bernstein, Rainer Ehrt, Steffen Haas, Gotthard Brandler, Greiz, vor dem »Krug zum grünen Kranze«, 1992.

Als er und Ina dann die Pakete aus der Druckerei geliefert bekamen, waren Enttäuschung und Ärger groß: Der von Michel entworfene, bei der Druckerei in dunkelblauer Farbe bestellte Umschlag des Buches war grandios verkehrt gedruckt. Statt in der vielsagenden Farbe Blau zeigte sich das Büchlein in bleichem Weiß, mit dunkelgrauem Bild und ebensolcher Schrift – eine Farbigkeit so öd wie die Wände einer alten Eier-Butter-Käse-Milch-Handlung.

Später, als mal ein paar Mark übrig waren, ließ Michel sich von einer Druckerei ein paar wenige Exemplare im ursprünglich gewünschten Dunkelblau herstellen; für sich und die Seinen.

FINSTERE GESCHÄFTE – Dank Michels Vermittlung hinsichtlich der 1992er Tagung war ich 1993 vom Direktor des Museums Sommerpalais eingeladen worden, im Beirat zur Organisation der für Sommer 1994 geplanten ersten Greizer Triennale mitzuarbeiten. Als Thema der Ausstellung war vorgesehen, wichtige Beispiele der aktuellen Karikatur- und Cartoonkünste vorwiegend jüngerer Künstler des seit 1990 vereinten, neuen Gesamtdeutschland vorzuführen.

In diesen Beirat war Michel als so etwas wie ein teils ehrenamtlich mitarbeitender Gast, teils fürs Publizistische amtlich Engagierter bestallt, denn der Katalog zur entstehenden Schau sollte in seinem Verlag publiziert werden und so im Buchhandel allgemein lieferbar sein. Im Beirat arbeiteten Ausstellungsleute aus Ost und West zusammen; wie sich bald herausstellte, unter ähnlich schief leuchtenden Sternen wie so viele andere Ost-West-Kooperationen jener Tage. Ein Kollege aus dem Westen hatte, weit über seinen ursprünglichen Auftrag hinaus, erstaunlich geschäftstüchtige Strategien zu seinen Gunsten ausgeheckt und schreckte gar vor Nötigungen nicht zurück, um seine kraß eigennützigen Vorhaben durchzuprügeln. Direktor Brandler wand sich angesichts dieser massiven Würgereien mehrfach in scharfen Magenkrämpfen, und Michel staunte auch nur so über derart einseitig-grobe Revierkampftreterei. Ein in der alten DDR sozialisiertes Mitglied des Beirats hingegen hatte in völlig anderer Ausprägung vergleichbarer Pflichtvergessenheit die Übersicht verloren, indem er sich partout nicht auf das Thema »Deutsche Karikaturen und Cartoons aus BRD-alt und BRD-neu« einzulassen vermochte und beständig darauf pochte, es sollten doch bitteschön bemalte Zimmertüren aus Kreisen Berliner Hausbesetzer und Cartoons des amerikanischen Comicgenies Robert Crumb gezeigt werden. Immerhin trug er zu guter Letzt einige mit Bildmotiven versehene Streichholzschachteln aus der Präsenteproduktion der Künstlergruppen »Renate« und »PGH Glühende Zukunft« bei. Einige Male saßen, in den Pausen langer Beiratstagungen, Gotthard Brandler, Michel Rudolf und ich im Café Lebensart und mühten uns, unter dem Druck solcher teils bösen, teils blöden Egoismen die Köpfe halbwegs hochzuhalten.


»Schloß Liebau«, Privatexemplar mit blauem Cover.


»Schloß Liebau«, Originalausgabe.

Diese erste Greizer Triennale haute dann schließlich ganz ordentlich hin, indem in zähem Zerren und Schieben die schlimmsten Eigennutz- und wirrsten Einzelgängerambitionen etwas gebremst und entschärft werden konnten. Michel aber, ähnlich wie Gotthard Brandler, hatte mit den ernüchternden Seiten der Erfahrungen aus diesen Gremien- und Schwitzkastenquälereien lange ungut zu tun, und er nahm diese Heimsuchung wohl als typisch maligne Standardsituation deutsch-deutschen Würgens und Strauchelns: Raffgier und plumper Egoismus aus dem Westen, dusseliges Auf-dem-Schlauch-Rumstehen als klischeegerechte Ostlerattitüde. Schlimme weitere Raubzüge in Richtung der Kassen des Sommerpalais in der Folgezeit sollten ihm, was den ersten Punkt angeht, alsbald drastisch recht geben.



Greiz, Gartenweg, 1992.

DISKO-MICHEL – Andersgeartete deutsch-deutsche Missionsszenen auf gediegen unterirdischem Niveau, die pfeilgerade an das gemeinsam mit Michel am verregneten 1990er Sommerabend im Bargfelder Gasthof Erlebte anschließen, durften wir Westler später, ab 1992, während draußen in der noch richtigeren Welt die größeren Realien verräumt wurden, aufs gemütlichste im Greizer Alltags- und bisweilen auch im dortigen Nachtleben immer mal wieder miterleben. Unvergessen bleiben wunderschön schäbig herausgeputzte, besonders an Wochenenden der »frühen Jahre« der Einheit in ihren spoilerbeklebten Autos aus den nahen oberfränkischen Urwäldern herbeigewuselte Freizeiter, die mit Wucht alles, was sie aufzubieten hatten, daransetzen wollten, um etwa in der traumhaft deprischummerigen Tanzbar Trocadero den anwesenden Greizer Jungdamen zu imponieren – nicht selten mit, entsprechend ihren Mitteln, angemessen geringem Erfolg. Eines späten Abends, als ich gemeinsam mit weiteren Sommerpalais-Vernissagegästen wieder einmal derartigem Elendsgewurstel zusehen durfte, blickte Michel Rudolf auf die von einer sich drehenden Silberplättchenkugel zittrig lichtbefunkelte Tanzfläche, an deren Rand und auf der sich ein paar besonders hinfällige, aus dem Altreich hergeschleimte Dummkrepel und Sackkratzer zäh um desinteressierte Greizer Mädels mühten, und meinte, mit viel nachsichtgesättigter Milde in der Stimme: »Ah, der Großinvestor tanzt.«


Zeichnung: Nerling.

ÜBER MUSIK REDEN – Unter Laien, eventuell auch noch im Kreis Begeisterter, über populäre Musik zu reden, erbringt selten mehr Gescheites, als sich etwa gegenseitig Filmhandlungen nachzuerzählen, und nervt meist arg. Soweit waren Michel und ich uns beim Thema Rockmusik einig. Trotzdem waren wir, als Michel mal kurz bei mir zu Besuch weilte, während einer Autofahrt spätabends ins Plaudern über seine große Liebhaberei für elektrische Gitarrenmusik, für »gefährliche Gitarristen« geraten. Freude konnte ich ihm unter anderem damit bereiten, daß ich ihm haarklein von Konzerten des Mahavishnu Orchestra im Jahr 1972 berichtete, bei denen dieses Quintett des Gitarristen John McLaughlin mit seinem brillant-mordspenetranten, hymnisch jubilierenden Radau etliche Lücken zwischen Rock und Jazz verspachtelte. Wir fachsimpelten an der Frage herum, ob die große Leistungssportlichkeit derartiger Virtuositätswucht rückblickend besehen zu Recht auch ein wenig komisch anmutet; machten Witze von wegen Strebertum, zu eitler, vielleicht arroganter Pose bei diesem irgendwie quasibuddhistisch-feinstofflerisch aufgemotzten Gedröhn. War McLaughlin in der Schule vielleicht so ein »Schnellmelder« gewesen, so ein immer fickriger Fingerschnipser, der mit seiner Antwort den Lehrer schon mitten in der Frage rechts und links zugleich überholen wollte? Oder ein »Nervenzippelzappel«? Stünde vielleicht gar der Geist allgemeiner Ejaculatio-Praecoxhaftigkeit ungut im Raum? So etwa sinnierten wir vor uns hin und kamen wieder zu Michels Hinweisen auf mir unbekannte Hardrock-Radaubrüder. Es ging um Jeff Beck, Jimi Hendrix und Frank Zappa und um die Frage, was es rund um deren Herkommen denn so alles Interessantes gebe. Michel hatte in dieser Hinsicht einige Favoriten im Sinn: die jüngeren elektrischen Bluesgitarristen aus den größeren Städten Amerikas und unter den Älteren sowieso immer John Lee Hooker, Howlin’ Wolf oder B. B. King. Sein Herz schlug für die Elektriker, am lautesten für jene, die etwas heftiger zu Werke gehen.

 

So blieb er erst mal skeptisch, als ich ihm in Aussicht stellte, bei mir zu Hause nachher Schallplatten zu hören, an denen man bei Jimi Hendrix und Konsorten zu bestaunende Muster des sehr schön am eher ländlichen und am betont dezenter formulierten Blues vernehmen könne. »Country Blues? Nee …« Das schläfere doch wohl bestenfalls die Füße ein. Über so was sei man doch längst hinweg. Daheim dann, kurz vor dem Zubettgehen, Michel hatte schon den ersten Schlummerschluck aus einem Fläschchen Parkbräu-Pirminator-Starkbier zur Kenntnis genommen und war eh schon reichlich müde, spielte ich ihm eine LP des Gitarristen und Sängers Lightnin’ Hopkins aus Texas vor, Lightnin’ Strikes, aufgenommen 1965 gemeinsam mit dem Bassisten Jimmy Bond, dem Schlagzeuger Earl Palmer und dem Mundharmonikaspieler Don Crawford, produziert von Dave Hubert für das Label Verve-Folkways (FV/FVS 9022). Und gleich bei den ersten paar Takten des ersten Stückes, »Hurricane Betsy«, einem so tieftodtraurigen wie gleichermaßen vom Künstler aufrecht und geradeaus vorgetragenen, wunderschön melismatisch dahererzählten Lied, rutschte Michel beinahe sein Bierflaschl aus der Hand. So schwebend leicht und zugleich intensiv, in zauberhaft geschmeidigen Takten swingend wie vier morganatische Schweizer Sonntagsuhrwerke, die gemeinsam in den Musikantenhimmel wollen, hatte er ähnliches bisher nie gehört. Ein von Mätzchen völlig freies, bei sparsamstem Mitteleinsatz in filigranen Nuancen ausformuliertes Volksmusikstück über eine schlimme, böse Naturkatastrophe, in die Welt gestellt als lupenreine moderne Kunst; genau besehen eigentlich eine der Ewigkeit gewisse Sternstunde des Jazz. Michel nahm jeden Ton als Welturaufführung, war wieder hellwach geworden und murmelte vor sich hin, Könner wie Jimi Hendrix oder Bob Dylan hätten es mit solchen Vorvätern im Ohr doch ziemlich plausiblerweise zu Prachtstücken wie »Red House« oder »Desolation Row« bringen können.

Diese so diskret und konträr zu jeder Aufregung über die Welt und ihren Untergang klagende, freundliche Musik berührte Michel mehr, als daß sie ihm nur gut gefallen hätte. Um noch ein paar ähnliche Stücke von Mance Lipscomb, Mississippi John Hurt, Son House und J. B. Lenoir zu hören, blieb er dann ein halbes Stündchen länger wach, als er es nach einem anstrengenden Reisetag und einer turbulenten Ausstellungseröffnung eigentlich vorgehabt hatte. Und als wir später schlafen gingen, hörte ich aus seinem Zimmer, wie er sich leise noch mal die drei, vier schönsten Juwelen von der Lightnin’ Strikes-LP anhörte.

Am nächsten Morgen, bei hektischer Toilette in der Eile des Aufbruchs, fiel dann wie zauberisch das Waschbecken unter Michels verseiften Händen von der Wand, um derart pittoresk, als wollte die Klempnerinnung auf der Documenta St. Damokles feiern, schief in der Luft hängenzubleiben. Michel, der nach dem Versagen des Waschbeckens die Körperpflege für diesen Vormittag gut sein ließ und halb gewaschen dasitzen mußte, erhob beim Frühstück mehrfach das Buttermesser, um in putzig gespielter Andacht nur »Lightnin’ Hopkins … Zeichen und Wunder …« zu raunen – und: »Lightnin’ Hopkins, das sage ich euch …«


Pirmasens, 1992.

SCHÖN ANGEZOGEN – Michel Rudolf war meistens leger gekleidet: Jeans, einfarbige T-Shirts, Blousons, seltener auch Hemden oder Pullover. Im Sakko sah ich ihn nie. Seine Kleider trug er immer auf bemerkenswert aufgeräumte Weise. Alles paßte ihm wie auf die Haut geschneidert, harmonierte farblich, war sehr gepflegt, völlig frei von Accessoires etc. und kleidete ihn sehr. Er war ja überhaupt eine stattliche Erscheinung; ich will sagen: Er stand seinen Kleidern so gut, daß er in Bluejeans und kurzärmeligem T-Shirt immer dezent beste Figur machte. Auch Schlaghosen waren nicht Seins.

HIMMELSLEITER UND WETTERLEUCHTEN – Eines Sommerabends im Jahr 1994 wollte ich eigentlich nur Michel auf seinem Heimweg durch die Greizer Innenstadt begleiten. Thüringen stand gerade seinen ersten Kommunalwahlkampf westlicher Prägung durch, und an Hand großzügiger Plakatierung war an den Wänden der Stadt eindrücklich abzulesen, welche Kapazitäten und Programmatiken die junge Demokratie hier aufzubieten hatte. Im Bann dieser Werbetafeln gönnten wir uns ein etwas weitschweifigeres Schlendern, gingen vom Puschkinplatz her durch die Marktstraße, von der mir ein Greizer, immerhin unter Vermeidung des Wortes »Flair«, kürzlich mitgeteilt hatte, sie habe »so was Mediterranes«, und kamen dann zu einer Anhöhe, einer steilen Hanglage unmittelbar am Rand des Zentrums. Michel sagte: »Da gehen wir rauf, von dort oben siehst du das ganze Elend auf einen Blick!« Wir spazierten hoch, passierten einen langen, »Himmelsleiter« genannten Treppenweg und saßen dann tatsächlich, am Fuß einer auf den Berg gestellten kleinen Plattenbausiedlung, auf einem prima Aussichtspunkt über den Schornsteinen von Greiz. In der Ferne waren Gewitterblitze zu sehen, die laut Michel ungefähr bei Plauen herumzuckelten.

Michel hatte mir während des Abendessens schon allerhand darüber erzählt, wie flott und schief zugleich die Stadt und ihre Einrichtungen in den letzten Jahren auf neuostdeutsche Weststandards hingebügelt wurden. Mitnichten nur im Städtebaulichen. Kohorten wunderbarer Figuren waren in Greiz aufgetaucht, hatten sich mit etlichen der wendigeren Einheimischen zusammengetan und hielten nun wichtige Fäden nicht nur fest in ihren Händen, sondern übten sich darin, so dies und jenes teils hochbizarr zu verknüpfen. Eine im Zuge Bonner Verwaltungsaufbauhilfestellungen irgendwie nach Greiz beförderte adelige Dame beispielsweise wirkte plötzlich nicht allein als neue Intendantin des Festivals »Greizer Theaterherbst«, sondern machte auch, laut Visitenkarte ganz öffentlich, tipptopp Figur als »Beauftragte des Landrats für Europäische Angelegenheiten«. Sparkasse und Landratsamt waren in umtriebige Hände gelegt, und die neuen politischen Parteien erblühten mit reichlich bewährten Kadern im gehobenen Personal zu schönstem Pluralismus auf allen Ebenen. Zwischen dem Anschluß und 1993 hatten es die Greizer mit drei Bürgermeistern und vier Landräten versucht, und die Umstände dieser flotten Wechsel wie auch einzelne Projekte der so schnell verschlissenen Stadtoberen rückten Greiz gefährlich nahe an die alten Geschichten aus der Stadt Schilda.

In Sachen Kultur wurden allerhand neue Wege eingeschlagen, häufig populistisch ausgerichtete, sogar ein opulent besetzter Gospelchor schmetterte nun regelmäßig Gottgefälliges so inbrünstig auf die erfreuten Greizer ein, als sollte die obligatorische Gottlosigkeit der zurückliegenden SED-Jahrzehnte mit allerschrillsten Mitteln gesühnt werden. Michel im Vorübergehen am offenen Fenster des Übungssaals der Gosplerer: »O weh, jetzt machen sie’s sich schön, die ehemals Geknechteten – mit Kultur!«

Die Überbleibsel der ehemals vor Produktivität strotzenden lokalen Textilindustrie hatten die Wendedirigenten einem indischen Unternehmer nicht nur komplett geschenkt, sondern ihm gleich noch einen Haufen Millionen mit dazugegeben, damit er die vereinbarungswidrig demontierten Anlagen zu sich nach Hause schippern und dort neu aufbauen konnte, um schmaddeliges Gelump herzustellen, das er dann extra billig retourschickte.

Dazwischen, als ein in den zierlichsten Tönungen menschgewordener Lichtblick, der Greizer Landtagsabgeordnete der christlichen Partei. Ein sympathischradikalidealistischer Vollrohrexzentriker, fundamentaler Philanthrop und Liebhaber klassischer Künste, den Edith Sitwell garantiert vom Fleck weg adoptiert hätte und der selbst im an Skurrilitäten kaum armen thüringischen Parlament durch so gut wie monarchistische Brandreden auffiel, in denen er, dekoriert mit echten historischen Ehrenzeichen vom Greizer Hof, dringlichst mindestens die Wiedereinsetzung des Fürstenhauses Reuß in gesamtpolitische Verantwortung postulierte, um dadurch unter anderem die seinerseits mahnend beschworene Vollendung der Zerrüttelung des Abendlandes im letzten Augenblick zu bremsen und weiträumig rückgängig zu machen. Klar, daß auch dieser Herr in Greiz nicht allenthalben Land sehen durfte; Michel nahm ihn, im Privaten ein liebenswürdiger, freundlicher Mann, obwohl er sich nie und nimmer als dessen Gesinnungsgenossen sah, gegen die Fronten der Greizer kategorisch in Schutz: »Seien wir dankbar für ihn und froh, gute Originale gibt’s hier viel zu wenige.«

An den Horizonten der Greizer Stadtmarketing-Initiative ging funkelnd der Stern eines zu Großem entschlossenen City-Action-Teams auf, und der Schunkelsänger Achim Mentzel mußte zu Ehren des aufschwingenden Gewerbelebens der Stadt von der Ladefläche eines Sattelschleppers herab so feierlich-wuchtig ins Leere hinein sein Bestes geben, daß selbst der Gelassenste nicht mehr wissen konnte, wer oder was ihm mehr leid tun sollte: der mißbrauchte Volkstümelschreihals, sein schütteres Publikum oder die komplett Düpierten, die am Marktplatz weite Fluchten unbesetzt bleibender Biertischreihen errichtet hatten. Michel stand einmal am Rand eines solchen, fast menschenleeren Stadtfestplatzes, blickte zum zwecklos auf einem Laufsteg zu Bumsmusik vom Tonband hin- und herhampelnden Achim Mentzel, hatte nicht mal Lust, sich aufzuregen, und murmelte nur: »Achim Mentzel, ach je.«

Wer sich in den geräumigen Kellergewölben des gutbürgerlich-biederen Restaurants beim Oberen Schloß wochenends zum Abendessen setzte, konnte durchaus erleben, daß plötzlich um 22 Uhr ein Conférencier zwischen die Eßtische trat, um von nun an zu schmierlappiger Dödelmusik ein umfängliches Unter- und Reizwäschevorführprogramm des »Show-Teams Plauen 2000« zu moderieren: scharenweise junge Männer und Frauen, angetan mit allerhand Korsagen, vorwiegend arschfrei gehaltenen Slips oder »Body« genannten, elastisch eng aufsitzenden, meist hochglänzenden Textilien nach dem Muster von Strampelanzügen fürs erste Lebensjahr. Ich durfte selbst einmal, gemeinsam mit Michel, Michael Etter, Michael Sowa, F. W. Bernstein, Achim Greser, Heribert Lenz, Eugen Egner, Rudi Hurzlmeier und anderen unvorbereitet eine solche Soiree miterleben, bei deren Ouvertüre schon dem guten Ettermichel – Gott hab’ ihn bittschön sehr selig! – beinahe ein Brocken seines just servierten Hirschgulaschs aus dem Mund gefallen wäre und Michael Sowa nur völlig platt stammeln konnte, daß solches sich der Würdigung durch Bildende Künste, selbst stramm zum Komischen hin spezialisierte, weit ins Nichtmehrdarstellbare entziehe, was ihm seine umsitzenden Branchenkollegen, alles Experten der Wahrnehmung und Wiedergabe auch fortgeschritten verbeulter Mental- und Welterscheinungen, augenblicklich beglaubigten.

Die zu solcher Distanz gegensätzlich ausgeprägte, hochentflammte Hingerissenheit des lokalen Publikums ist gleichermaßen kaum zu schildern. Ihrerseits selbst sehenswert fein herausgeputzte Greizer und Vogtländer, in alle Fehlfarben und Verformungen modischen Vulgärhistorismus verkleidet, applaudierten entzückt: Herren sehr gerne, selbst noch in der Mitte der neunziger Jahre, in wilden Kombinationen furunkulöser Entzündungsfarben von Rotviolett bis Zimtpink, Sakkoärmel flott aufgekrempelt, leuchtend schneeweiße Socken unter metallicbordeauxrotquietschlila changierenden Hosenbeinen, wie ihre Damen nicht selten auch im Ornat jenes Bastardstils, den die jodeligen Leitbilder der volkstümlichen Schlagermusik so profund promoten. »Verblendete«, murmelte Michel im diskret mitleidmilden Weggucken, streng adornitisch gemeint.

Und während in den Festsälen und Wirtschaften dergestalt geschunkelt, gegospelt und eitel arschfrei auf- und abgeschritten wurde, sah man den jüngeren Greizer des Nachts mit seinem neuen Westauto auf der Carolinenstraße drei- bis vierhundert Meter weit Anlauf nehmen, um dann bei röhrendem Vollgas so krachdebil-raketenhaft über die damals noch wild hoppelige Friedensbrücke zu rasen, daß dem gequälten Fahrzeug jeder Boden unter den Rädern flötengehen mußte und die Eckhäuser jenseits der Weißen Elster stets in der Gefahr schwerer Einschläge standen.

Greiz also erblühte und strotzte, sehr auch konsequenterweise gerade im Prominös-Personellen. Lediglich der ansonsten zuverlässig schillernde und sämtliche Mitmachgelegenheiten ausschöpfende Ibrahim Böhme, einer der gesamtbiographisch allerzerrüttetsten Stars des BRD-DDR-Zusammenwachsgedöhns, der in den siebziger Jahren auch schon mal als Kreissekretär des Kulturbundes in Greiz seine gewichtigen Stasipflichten emsig wahrgenommen hatte, fand so bedauerlicher- wie ungerechterweise in der ja eigentlich wirklich schön gebauten Elstertal-Metropole nicht zu neuen Ufern und Würden.

 

Über solches, etliches davon hatte ich ja selbst miterleben dürfen, sprachen wir, während wir oberhalb der Mündung der Greizer Himmelsleiter, um deren Aureole das Plauener Gewitter rücksichtsvoll seinen weiten Bogen zog, saßen und auf die mitternächtlich langsam weniger werdenden Lichter dieses vermaledeiten Saustalls blickten. Weil wir müde geworden waren, fielen unsere Witze über diesen dort unten sich immer stabiler formierenden Rundhorizont voller Trübsal eher matt aus: ob man eine so offenbar kompakt mehrheitlich ins Vulgäre strebende Menschengemeinde eher »Debilianopolis« oder das ganze Land gleich »Kretinolien« nennen sollte – oder am besten gar nix sagen und einfach nur zu- oder weggucken. Oder sich diskret zur Einigelung rüsten. »Ausweg steht einzig im Rückzug ins Private offen«, wie Gotthard Brandler immer wieder hellsichtig anmahnte, um sich dann allerdings doch erst mal noch weiterhin tüchtig fürs Sommerpalais abzumühen.

Was Michel mir sagen wollte, war auch: Was bei euch nach dem letzten Krieg, neben all dem Ordentlichen und Guten, in Jahrzehnten solid und wackelfest an Blödigkeiten und Schlimmerem aufgerichtet wurde, das schaffen wir hier in Greiz ruckzuck in wenigen Jährchen, und zwar bei optimalem Grad vielseitiger Verwahrlosung! Und das sagte er keineswegs böse-bitter oder gar fidel-spöttisch, besserwisserisch, auch nicht etwa von uneingelösten Hoffnungen enttäuscht, sondern nur unendlich traurig.

Ich wußte nicht, wie ich ihm hätte widersprechen können, zumal ich von seiner persönlich-sozialstrukturell schwer verschissenen Lage in Greiz wußte. Als ein von »führenden Kreisen« der Stadt tatsächlich weitgehend Geächteter hatte er sich dort durchzuschlagen, nachdem den Greizern irgend jemand zugerufen hatte, daß Michel im »westdeutschen« Satiremagazin Titanic unter dem Serientitel »Aus den Kolonien« ein paar sachte formulierte Anekdoten aus dem Nachwendegewusel seiner Heimatstadt veröffentlicht hatte.

Selbst hatte ich schon mehrfach dichte Ausdünstungen dieser Front gegen Michael Rudolf wahrnehmen müssen. Bei einer Vernissage im Sommerpalais zum Beispiel standen eines Sonntagvormittags mal, wie vom frühen Franz Josef Degenhardt in stinkiger Laune ausgedacht, ein paar typische Honoratiorengesichter in einem Winkel des Festsaals beim Sekt stramm bucklig beieinander und schmatzten die Gustostücke ihrer lokalpolitisch-sozialdarwinistischen Revierpinkelperspektiven durch. In einer Vitrine neben ihnen lagen zwei neuere, fein gemachte Katalogbücher des Hauses, deren Edition in die Hände des Verlages Weisser Stein gelegt war. Grob gehässig und brunzdumm, ohne jeglichen Schimmer, wovon sie eigentlich faselten, maulten die Herren höchst einig und saftig gegen »den Rudolf«. Jeder Hund mit drei Flaschen Sekt intus brächte beim In-die-Ecke-Scheißen auf Anhieb Menschenwürdigeres zustande als dieser Sauhaufen stumpf maligner Aufgerüttelter, in seiner verbeißwütigen Fiesheit zwergenwüchsig stolz Avancierter.



Dieter Steinmann, Michael Rudolf, Greiz, 1993.


Einige Wochen, nachdem Michael Rudolf mich über die Greizer Himmelsleiter geführt hatte, wiederholte ich zusammen mit Jürgen Brömmer eines Nachts diesen Gang und trug ihm dabei auch vor, was ich von Michel und anderen in letzter Zeit über das neue Greiz gehört hatte. Und während wir dort oben am Hang saßen, war in der genau gleichen Himmelsrichtung wie damals wieder lautlos ein fernes Gewitter zu sehen, das wie zu unserem Vergnügen am Horizont entlangfuhrwerkte. Michel kommentierte diese Duplizität der Himmelserscheinungen tags drauf etwa so: »Ja, wenn man über so was redet, dann muß sich doch zumindest der Himmel erbarmen und ein paar Lichtzeichen geben; daß er versteht, oder was weiß ich …«

Je länger ich mich besinne, um so deutlicher wird mir klar, daß Michel insgesamt eigentlich nur limitiert Lust hatte, sich an den verbollerten Seiten der Neuzeit in Greiz abzuarbeiten. Keineswegs begierig nach negativen Sensationen, schien er es eher mit einem Motto à la »Großer kulturstiftender Segen liegt auf der Erfindung der Klotür – man muß nicht jedem Arschloch beim Scheißen zusehen« zu halten. Seine Familie, Schönes und Gutes, Poesie, Knallmusik, das Schreiben über erstaunlich Diverses und ein Gang »in die Pilze« interessierten ihn x-mal mehr als die Wahrnehmung des weißderteufelwievielten Stinkskandals der Wendezeit.

DABBISCH – Als der große Ludwigshafener Kulturpolitiker Gerhard Klemm einmal in amtlicher Mission in Greiz weilte, um über kulturaustauschstrategische Weichenstellungen zwischen dem Sommerpalais und wichtigen Kultureinrichtungen Ludwigshafens zu konferieren, erfuhr er auch Details der diversen Schwierigkeiten, mit denen Michel in Greiz konfrontiert war, nachdem der Schriftsteller Günter Ullmann und andere so unangemessen auf Michels Titanic-Glossen über Greiz reagiert hatten. Als Leser und hingegebener Verehrer der Dichterin Fanny Müller, als Veranstalter der ersten Lesung Gerhard Henschels aus Moselfahrten der Seele, auch sehr beeindruckt von Michels Büchern über das Schloß Liebau und den Reußischen Robinson, zeigte sich »der Präsident«, wie die Seinen Geheimrat Klemm bis heute nennen, derart empört und fassungslos, daß er nach Abschluß der offiziellen Konsultationen in der Billardkneipe des Hotels Zur Friedensbrücke, als er sein erstes Glas Bier des Abends in die Hand nahm, laut schallend ausrief: »Ja, leck misch am Aasch, sinn die komplett dabbisch, die Greizer?« Trotz der ungewohnten Mundart des Volksvertreters und emeritierten Preisboxers kriegten die wenigen, trübe an den Pooltischen und Daddelkästen laborierenden Einheimischen einigermaßen glatt mit, was Klemm da in den Raum gestellt hatte, und guckten entsprechend grätzig drein. Er hatte aber seinem heiligen Zorn offenbar derart ausdrucksstark Luft gemacht, daß es niemand wagte, ihn auch nur zu fragen, wie er seine ziemlich rhetorisch formulierte Erkundigung gemeint habe. Als Michel später zu uns stieß, erfreute er sich sehr an den ziemlich weit weisenden Hinweisen Klemms, wie mit jenen zu verfahren sei, die dem Verleger und auch dem Direktor des Sommerpalais ihr Leben schwermachten – Überlegungen, in denen die aktuellen Hochwasser der nahen Weissen Elster eine zentrale Rolle spielten.


VOM SCHÖNEN AUF DER WELT – Etwa 1993 muß es gewesen sein, als Michel sich einen wohl seit längerem gehegten Wunsch erfüllte. Eine hochwertige, bombenfest verarbeitete Aktentasche aus festem Leder gönnte er sich, gemeinsam mit Ina in Zwickau gekauft, und Ina hatte schöne rote Schuhe dort gefunden. Als ein stilsicher dezent gestaltetes, klassisch zu nennendes Stück, formal und habituell entschieden konträr zu den allenthalben strotzend gestalteten Aktenkoffern, Flight-Cases, »Piloten-Taschen« und virulent in Mode gekommenen Rucksäcken jener Epoche, zeigte sich Michels Aktentasche, die Verlegertasche, wie seine Kumpels witzelten. Wenn sie überhaupt etwas ausstrahlte außer gehobener Aktentaschenhaftigkeit, dann die Vertrauen und Zuversicht stiftende Solidität des Beständigen. Und falls ich mich richtig entsinne, dann sah Michels Aktentasche ein wenig so aus wie die archetypischen Taschen, die der Zeichner Bernd Pfarr immer mal wieder seiner Figur Sondermann an die Hand gab; jedenfalls angesichts der tadellosen Qualität also eine fraglos im Geist unprätentiösen Understatements gehaltene Anschaffung. Michel war so froh mit seiner Tasche: »So ein Taschenstück, ein schönes, das ist was Bleibendes …«

EINZELHÄNDLERPOESIE UND WURSTSTRÄUßE UMS TAL DES TODES – Als Michel einmal kurz in meiner Heimatstadt weilte, wollte ich ihm fix einige Sehenswürdigkeiten zeigen. Er hatte mich ja stets mehr als gediegen über allerhand Beachtliches in Greiz und im Vogtland ins Bild gesetzt. Da galt es, etwas zu bieten. So fuhren wir am späten Abend durchs Zentrum, hielten kurz am gewaltig parvenühaft gestalteten und architektonisch verblüffend verkehrt in die Stadt gerammten, von einer extrem miserablen Plastik eitel gekrönten Hauptplatz und an einer selbst für Hiesige rätselhaft verzierten und mit bronzenem Kunstgewerbe bestückten Brunnen- und Wasserfallanlage. Zur Würdigung der modern gefaßten Seiten des Ortes reichten Michel diese Stadtmöbilisierungskleinodien erst mal hin; weiter sollte es gehen zu Zeugnissen eher folkloristischer Kapitel der jüngeren Stadtgeschichte.