Der Mann mit den 999 Gesichtern

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RESTLESS LEGS

Michael Rudolf

Ungehemmte Motorik wird bei Kindern scherzhaft als Zappelphilipp bezeichnet. Wie aber ist das bei Erwachsenen?

Kennen Sie das nicht auch: Bei längeren Zugreisen, während eines Vortrages, in der Kirche, im Kino oder beim Abendgebet entwickeln Ihre Beine eine rätselhafte Unrast, kaum während des normalen Tagesablaufes, erst bei Ruhe. Die unerklärliche Qual wird zum Einschlafhindernis, als wären alle Muskeln voller Ameisen. Eine Mischung aus Muskelkater und -krämpfen, die Sie zwingt, wie der Leibhaftige auf und nieder zu springen.

Und wie heißt dieses Syndrom? Richtig. Wittmaack-Ekbom-Syndrom. Oder auch »restless legs«.

Was hilft? Eigentlich nichts. Versucht wird es mit Beta-Blockern, kalten Fuß- und Beinbädern, elastischen Stützstrümpfen und Eispackungen. Nützlich kann auch ein Bettbügel sein, der die Decke von den Beinen fernhält.

In Würde älter werden? Fuck off!!!


Kowalski 6/1993

WIE MICHAEL RUDOLF EINMAL VORM FALSCHEN UTOPIA WARNTE

Jürgen Brömmer

Im Hochsommer 1994 hatte Direktor Gotthard Brandler zur Triennale für Karikatur, Cartoon und komische Zeichnung geladen. Zur Eröffnungsfeier war es ihm mit der Hilfe von Dieter Steinmann gelungen, alles, was in der Zeichenkunst wenn nicht Rang, so doch wenigstens Namen hatte, für drei Tage in das thüringische Städtchen zu locken.

Die Ausstellung selbst war schon eine bemerkenswerte Leistung, waren hier doch erstmals im größeren Rahmen west- und ostdeutsche Künstler gleichermaßen beteiligt: seriöse Karikaturisten, die Bärte wie Kastenbrote vor sich trugen, neben lustigen Nonsenszeichnern. Zum denkwürdigen Erlebnis wurde die Triennale schließlich durch den Umstand, daß Direktor Brandler mit der Landespolitik ein großzügiges Budget ausgehandelt hatte, mit dem die ganze Bande zur feierlichen Eröffnung der Ausstellung für ein langes Wochenende komfortabel untergebracht und anständig ausgehalten werden konnte.

Auch ich, der lediglich ein kleines Faltblatt mit Zeichnungen des Münchner Miniaturisten Steffen Haas hergestellt hatte, durfte dabeisein! Der kluge Direktor wußte: Man gebe jungen Menschen freie Unterkunft und kostenlose Mahlzeiten, und quasi automatisch wird der Geist der Utopie belebt. Und so wurde Greiz an einem milden Augustwochenende im fünften Jahr nach dem klanglosen Untergang des Realen Sozialismus zum Sonnenstaat, wo man sich bei thüringischer Hausmannskost, Bier und Wein flugs an die Menschwerdung machte.

Eine geistreiche Redensart gab die andere, unterbrochen nur vom merkwürdigen Gesang eines Berliner Glossenautors, der zwar nicht zeichnete, den der großzügige Gotthard Brandler aber zum Zechen einfach mit eingeladen hatte. Man verstand sich prächtig, und an den Abenden wurde auch den anwesenden Damen tüchtig der Hof gemacht, wie es sich der alte Fourier in Die Neue Liebeswelt kaum schöner ausgedacht hatte.

Fast wäre also Greiz in jenen Augusttagen von einer bedenkenlosen Künstlermeute zum neuen Utopia ausgerufen worden, hätte uns nicht ein Einheimischer rechtzeitig die Augen geöffnet. Denn Michael Rudolf hatte auch nach zweitägigem Feiern, Singen und Sekundenschlaf nicht die Übersicht verloren. Hier, in dieser Burgschenke, erklärte der in Greiz Aufgewachsene schneidend, würde normalerweise das Bürgerrechtlerpack schale Phrasen ins Schwarzbier dreschen, dort im Park, zischte er, treffe sich dumpfe Landjugend mit nationaler Gesinnung, und überhaupt sei die Perle des Vogtlandes ein elendiger Schreckensort, wo man sich auch ganz ohne Jägermeister ein Magengeschwür herbeiärgern könne, sei doch die einheimische Bevölkerung komplett verblödet, und der zugezogene Westler tauge auch nur zum Sparkassendirektor und Immobilienwirt.

Solcherart zur Besinnung gerufen, sahen die Zeichner und ihre Angehörigen die Lage in einem anderen Licht und machten sich am Nachmittag ernüchtert auf den Nachhauseweg. Dankbar aber war man, daß Michael Rudolf uns vor einem Irrtum nahezu historischen Ausmaßes bewahrt hatte.


Zeichnung: F. W. Bernstein, Sommerpalais Greiz.

MIT DEN AUGEN EINER FRAU – BERICHT VON DER TRIENNALE IN GREIZ/THÜRINGEN 1994

Fanny Müller

Schon die Anreise war sehr schön. Ich fuhr mit dem Zeichner Rattelschneck acht Stunden im Interregio im Mutter-Kind-Abteil. Ich trug eine orangene Sonnenbrille, die keine Bügel hat, sondern Ketten, die man über die Ohren tut, und unten an den Ketten hängen Gewichte in Form von großen orangenen Scheiben. Rattelschneck trug eine Bluse, deren Muster mich an die Küchengardinen meiner Mutter aus den sechziger Jahren erinnerte, und eine Hose mit vielen Flecken, von denen er behauptete, es seien Stockflecken. Die anderen Menschen im Zug waren alle anständig gekleidet. Die Zeit verging wie im Fluge. Ich brachte R. das Kreuzworträtsellösen bei. Er wußte nicht, daß es Wörter wie »Esol« oder »Torlettenpapier« gar nicht gibt. Danach lasen wir uns gegenseitig die Leserbriefe aus der Auto Bild vor. R. hatte einiges an Bier mitgebracht, bis ich die Nase rümpfte. Da ging er aufs Klo und putzte sich, ganz Gentleman, die Zähne.

In Greiz angekommen, trafen wir gleich eine Menge berühmter Zeichner und Autoren. Ich verwechselte auf Anhieb den großen Verleger Michael Rudolf mit dem bekannten Filmemacher Fritz Tietz, wofür ich mich an dieser Stelle entschuldigen möchte. Ich weiß bloß noch nicht, bei wem. Es waren viele interessante Menschen da, manche sahen ganz anders aus, als man sie sich vorgestellt hatte. Zum Beispiel Eugen Egner hatte nirgendwo Auswüchse, jedenfalls nicht daß ich wüßte, und sieht eher aus wie ein taz-Redakteur von vor zehn Jahren, was aber nichts weiter heißen soll, im Gegenteil. Drei bis vier Rübezahls konnte ich nicht voneinander unterscheiden. Wenn einer gesagt hätte, sie seien alle Harry Rowohlt, hätte ich es auch geglaubt. Dann war da noch ein Prominenter mit längeren Haaren und schubweise auftretender Diabetes, der allerhand Skandalöses aus dem Gemeindeleben von Pirmasens zu berichten wußte. Ich möchte das an dieser Stelle nicht kolportieren, damit er keine Schwierigkeiten bekommt. Ich sage nur Bademeister (!).

Mir wurde dann auch noch der berühmte Zeichner OL Schwarzbach vorgestellt, der aus dem Osten kommt, aber nicht so aussieht. Er war fast genauso scheiße angezogen wie Rattelschneck. Die beiden sind auch befreundet. Er hatte dazu noch sehr große Füße, die mir noch viel Kummer machen sollten. Doch davon später. OL Schwarzbach erklärte mir nach kurzer Bekanntschaft, was eine »Saalwette« ist. Das wußte ich nicht, weil ich nie fernsehe, sondern lieber ein gutes Buch (!) lese. Außerdem wußte ich, daß Männer einem gerne was erklären. Umgekehrt hat mich noch nie einer gefragt, wie Plattstich geht oder Béchamelsoße.

Bei den abendlichen Arbeitstreffen lernte man bekannte Leute auch mal von der menschlichen Seite kennen. Zum Beispiel ein Titanic-Redakteur hatte noch seinen Blinddarm; ein anderer hat in seinem Leben noch keinen Deostift benutzt, weil ihn das abhängig macht. In bezug auf Alkohol war ihm allerdings eine ähnlich kompromißlose Haltung nicht anzumerken.

Die Glanzlichter der Veranstaltung bildeten zwei Wanderungen, die ich am Sonnabend und am Sonntag unternahm. Am Sonnabend in Begleitung mehrerer berühmter Schriftsteller und Zeichnerinnen, die sich auf einem gehobenen literarischen Niveau unterhielten. »Das ist doch alles kalter Kafka«, sagte zum Beispiel der eine Schriftsteller zu dem anderen. Wir bezahlten im Waldhaus 17,30 DM für sechsmal Wiener mit Brot, drei große Bier, ein Eis und einen Kaffee. Das erlebt man in Westdeutschland heute nicht mehr.

Am nächsten Tag machte ich die gleiche Wanderung noch einmal, diesmal in Begleitung der miteinander befreundeten Zeichner OL Schwarzbach und Rattelschneck. Der Aufstieg zum Pulverturm – die erste und schwierigste Etappe – fiel ihnen nicht leicht. Bis dahin hatten sie schon jeder etwa neun Bier getrunken (große). Ich ging vorneweg und hörte hinter mir die Lebern und Herzkranzgefäße rasseln. Als ich darüber eine kränkende Bemerkung machte, sagten sie gleich, daß mein rechtes Bein etwas dicker als das linke sei. Daraufhin wechselte ich an das Ende der Schlange und mäkelte meinerseits an ihren Waden herum (zu wenige Haare, zu viele Haare). Das nannten sie »eine billige Retourkutsche«. Bis zum Waldhaus hatten wir uns aber wieder vertragen. Wir aßen eine Rostbratwurst (d. h., ich aß gar nichts, weil mir irgendwie schlecht war), vier Bier (die beiden) und einen Kaffee (ich) für 11,10! Jeweils eine Flasche nahmen die beiden Zeichner dann noch für den Rückweg mit.

Auf dem Rückweg unterhielten sich die jungen Leute über Witze, die sie vermarkten wollten. Ich konnte nicht darüber lachen. Meistens ging es um Autofahrer, die in einen Tunnel fahren, das Fernlicht einschalten und dann vergessen, es wieder auszuschalten, wenn sie aus dem Tunnel heraus sind. So leicht möchte ich auch mal mein Geld verdienen. Zwischendurch umarmten die beiden Zeichner immer wieder mit geschlossenen Augen verschiedene Bäume und behaupteten, damit würden sie Energiekreise erzeugen, ähnlich wie Kornkreise. Das hielt ich für einen ausgemachten Blödsinn und sagte das auch. Ein neuer Streit bahnte sich an.

 

Da wurde aber plötzlich eine Zaunübersteigung angemeldet. Weil meine Beine so kurz sind, mußte ich auf den Rücken von OL Schwarzbach klettern. Da brach der Zaun zusammen. OL Schwarzbach machte einen Salto rückwärts und haute mit seinem Schuh (Gr. 46) auf meinen Wangenknochen und dann auf mein Schlüsselbein. Beide wurden später blau. Mein Provisorium hüpfte heraus. Ich schrie: »Ich habe eine Gehirnerschütterung«, was aber nicht stimmte. Jetzt kriege ich eine Originalzeichnung von OL Schwarzbach, was nur gerecht ist. In Amerika hätte ich mehr gekriegt (6 Millionen).

Das war ein »schöner« Abschluß von diesem Klassenausflug! Die beiden Zeichner beteiligten sich dann noch an der Suche nach dem Provisorium, aber ich fand es, weil ich da gesucht hatte, wo es sein mußte, während die beiden da gesucht hatten, wo man besser sehen konnte. Wieder zurück in Hamburg, mußte ich zwei Stunden beim Zahnarzt warten, aber ich habe aus dem Wartezimmer den Rezeptteil von der Brigitte mitgehen lassen.

Wenn ich ein atmosphärisches Resümee dieser Veranstaltung ziehen soll, dann mit den Worten des berühmten Kolumnisten Max Goldt, der in mein Autogrammalbum schrieb: »Dies, Fanny, signiere ich Dir kniend, von Irren umringt.«



WIRKLICH SEHR KOMISCH

Peter Köhler

Wir befinden uns im Jahre 1994 n. Chr. Das ganze literarische Deutschland wird von einigen wenigen Großverlagen beherrscht. Das ganze? Nein! Ein kleiner ostdeutscher Verlag hört nicht auf, den Großen Widerstand zu leisten: der Verlag Weisser Stein im vogtländischen Greiz. Obwohl erst im Mai 1991 gegründet, hat sich der nach einem Greizer Vorort benannte Verlag bereits einen Namen gemacht, der für verschärfte Komik, tabufreie Cartoons und radikale Polemiken bürgt – und für verdienstvolle Ausgrabungen älterer Werke.

Bewährte Autoren und verheißungsvolle Talente sind im Programm: der moderne Nonsensklassiker F. W. Bernstein, der mit Der Blechbläser und sein Kind eine dachziegelschwere Auswahl seiner »Zeichnereien, Cartoons und Schmähbilder« vorlegt, ebenso wie der Wuppertaler Groteskmaler Eugen Egner (Meisterwerke der Grauen Periode) und der Collagenspezialist Kriki alias Christian Groß (In der Klinik für komisch Kranke), junge Meister der kleinen Form wie Wiglaf Droste (Kommunikaze) und Fanny Müller (Geschichten von Frau K.) ebenso wie der Romantiker Ludwig Tieck (Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen) und der radikale Aufklärer Johann Karl Wezel (Zwei satirische Erzählungen).

Viele Jahre sah es nicht danach aus, daß es soweit kommen könnte. Denn Verleger Michael Rudolf (33) mußte in der DDR trotz eines Philosophie-, Geschichts- und Journalistikstudiums als Brauereiingenieur arbeiten. Nach der Grenzöffnung aber kündigte er, volontierte in Berlin bei Wagenbach, hospitierte in Frankfurt bei der Titanic und gründete dann mit Gerd Elmar König (37), der gelernter Dreher ist und später das Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher absolvierte, den Verlag. Ende 1993 verließ König das Haus wieder, um sich verstärkt eigenen Zeitschriftenprojekten zuzuwenden.

Obwohl Rudolf wie König den Verlag zunächst nur nebenbei betrieben und sich durch eigene Schriftstellerei ernährten, macht man schon seit Herbst 1993 Gewinn. Das nicht zuletzt, weil die beiden heimatverbundenen Herren, die sich in den achtziger Jahren lokalhistorisch betätigt hatten, mit Regionalem wie Burgen, Schlösser und Herrensitze im Vogtland starteten, um rasch zu Geld zu kommen und sich die Aufnahme von Krediten zu ersparen. Im Frühjahr 1992 legten sie dann ihr »erstes richtiges Programm« (Rudolf) vor – Komisches eben in Wort und Bild.

Dabei ist der Weisse Stein kein typisch ostdeutscher Verlag: Erstens hat er Erfolg, zweitens verkauft er vier Fünftel seiner Produktion im Westen, und drittens gehen gerade die ostdeutschen Autoren weniger gut, weshalb inzwischen auch unter den Autoren die aus dem Westen klar überwiegen. Halbjährlich kommen mindestens drei Titel heraus; da man überwiegend Taschenbücher produziert, kann man preiswert anbieten – obwohl man auf Typographie, Illustration und Ausstattung achtet und eher kleine Stückzahlen auflegt.

»Groß soll der Verlag nicht werden«, so Rudolf, »sondern überschaubar bleiben. Wunschvorstellung: fünfzehn bis zwanzig Titel jährlich, mit dementsprechender personeller Erweiterung.« Bislang agiert Rudolf, nach Königs Ausscheiden, allein – für das Herbstprogramm bedeutet das sogar sieben Titel, darunter so eigenartige Werke wie angeblich »frühe dramatische Texte für Abiturfeiern« aus der Feder des Titanic-Redakteurs Christian Schmidt und die Nachrichten aus der Welt von gestern von Thomas Palzer, Redakteur der »beinharten Jugendsendung« des Bayerischen Rundfunks namens Zündfunk.

Zu einem Hauptautor ist das Großtalent Gerhard Henschel aufgestiegen: nach den Moselfahrten der Seele, einer Sammlung von Feuilletons und Polemiken, und der mit viel O-Ton unterlegten satirischen Erzählung Das erwachende Selber über das Psycho- und Guru-Milieu erschienen im Frühjahr gleich zwei neue Titel des Titanic-Redakteurs – zusammen mit Bernstein der Bilderkrimi Die gnadenlose Jagd mit eingelegter CD-Single, auf der der Autor gemeinsam mit seinem Verleger eine Gesangsdarbietung zu Gehör bringt, außerdem, rechtzeitig zur Weltmeisterschaft, das Fußballbuch Supersache!, gemeinsam mit Günther Willen.

Dieses Buch dokumentiert viel Realkomik rund um das unberechenbare Leder. »Weiterhin wichtig« nämlich sind dem Verleger Rudolf »Bücher, die sich mit komischen Phänomenen der Gegenwart auseinandersetzen, und das durchaus ernsthaft.« Ein Beispiel dafür ist auch Georg Seeßlens Volks Tümlichkeit, eine kritische Analyse nationaler Volkskultur von Volksmusik über Bauerntheater bis hin zu Biertrinken, Stammtisch und Kaffeefahrt.

So ist Greiz, »die Perle des Vogtlandes«, auf dem besten Weg, eine seriöse Größe auf der Komiklandkarte Deutschlands zu werden. Seit langem trägt dazu das Satiricum bei, ein Karikaturenmuseum mit wertvollen, bis zu dreihundert Jahre alten Schätzen komischer Zeichenkunst und im vergangenen August Schauplatz der ersten Triennale, einer Art deutscher Leistungsschau für Karikatur und Cartoon. Und seit 1991 sorgt eben auch ein Verlag dafür, daß die Lachkultur in Deutschland befördert und das Komische, das im Alltag eine so große Rolle spielt, in der Kunst und Literatur durch Qualitätsarbeit aufgewertet wird: der Verlag Weisser Stein.

Hannoversche Allgemeine Zeitung, 17. September 1994


Gerd Elmar König, Michael Rudolf, Frankfurter Buchmesse, 1993.




Zeichnung: F. W. Bernstein.

REICHLICH ZUMUTUNGEN UND AB UND ZU ETWAS ZU LACHEN – MIT MICHAEL RUDOLF AUF KURZEN WEGEN DURCH DIE WELT

Dieter Steinmann

Am Ende erlebt man nur viel, um viel vergessen zu können.

Walter Calé, 1904

Geteilt bleibt unser Vaterland, / zwei halbe Schoppen drum zur

Hand! Laertes Eisenbeiß, 1994

Ich erinnere mich, daß der Tod meines Vaters erträglicher wurde, weil es Georges Perec in meinem Leben gab.

Harry Mathews, 1982

ZUKUNFTSORAKEL IM HEIDEHOF – Es war am 20. Juni 1990, ein Vierteljahr vor Eintritt der Deutschen Demokratischen Republik in die »Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« mit der Bundesrepublik Deutschland, als ich erstmals selbst eine ziemlich typische Alltagsszene des damals aktuellen deutsch-deutschen Zusammenwachsens miterleben durfte. Für einige Tage hatte ich mich im Dörfchen Bargfeld in der Lüneburger Heide aufgehalten, um in den Archiven der dort ansässigen Arno Schmidt Stiftung zu arbeiten. Am Abend eines kühlen Regentages fielen mir im Schankraum des Gasthofs Bangemann zwei jüngere Herren auf. Sie hatten Wurstplatten und Biergläser vor sich und waren gutgelaunt dabei, es sich schmecken zu lassen. Daran wurden sie allerdings von einem zäh quer durch die Wirtschaft auf sie einredenden Mann beharrlich gestört.

Unbeirrbar höflich und dezent gaben sie immer mal wieder zu erkennen, daß sie von den Ausführungen dieses vom etwa übernächsten Tisch her halblaut auf sie losschwafelnden offenbar Fremden nur wenig erbaut waren und keinen Wert auf weitere Fortsetzung seines Monologs legten. Diese Reserviertheiten seiner Opfer souverän ignorierend, gab der neben seinem Gerede auch noch recht zügig Zechende in leicht verwaschenem Gefreitenton fast unterbrechungslos Hinweise zum besten, mehrheitlich Belehrungen, Tips, Geschäftsideen, denen er offenbar ein gerüttelt Maß an Belang zumaß. Es ging um Thematiken aus der Welt des Marketings, der Werbung, des »Direct-Sales«, der Großinvestitionen, des Rabattwesens, der Gegengeschäfte und nicht zuletzt der Spesenbewirtschaftung: »… ja, und wenn der Laden dann mal läuft, praktischquasi rundläuft, dann könnt ihr Spesen machen, Spesen bis zum Abwinken, Superhotels, Geschäftsessen und Firmenwagen, Firmenwagen, so dick ihr wollt, wenn ich’s euch sage! Immer ranklotzen, gell, nur immer ranklotzen, nicht kleckern.« Und, ganz besonders wunderbar, vorgeheult in einer Betonung wie von Thomas Gottschalk, der einen Menschen ansagt, der sich hundertmal vom Handstand in den Kopfstand fallen läßt: »Fly like an eagle – or scratch with the chicken, sag’ ich immer, gell, ranklotzen, Hunderttausenderauflage, nur kein’ Kleinkram …«

Er blickte zwischendurch auch mal kurz zu mir und meinen Begleitern, wackelte ungenau ausdrücklich mit dem Kopf und gurgelte dann teils mühselig, teils fast schwunghaft weiter: »Immer Vollrohr und Vollgas! Ohne Wachstum bist du tot, tot! Jeden Tag einen Schlag mehr, Wachstum, die Kurve muß immer nach oben gehen …« Beim Stichwort »oben« fiel ihm einmal sogar, wie vom Heiligen Geist getreten, etwas noch Wesentlicheres ein. »Herr Ober, noch mal …« Er hielt sein leeres Glas hoch, ließ ploppend und bei leichtem Grimassieren dringlich aufsteigende Verdunstungs- und Verdauungsgase aus seinem Schlund abzischen und wurde selbstverständlich formvollendet bedient; immer wieder ein weiteres Bier, sonst nichts.

Zunehmend umständlicher nach Worten rudernd, im jammernden Diminuendo eines wohl tief in seinem Inneren rumorenden Verzagens, nur von nun häufiger auftretenden und immer umstandsloser formulierten Erleichterungsrülpsern kaum unterbrochen, trug er vor, daß die erste Million aus seiner Sicht und überhaupt erfahrungsgemäß die am schwersten zu erringende sei, und ließ doch, wie zum ganz großen Trotz oder gerade ausgehend von dieser Lehre, kaum etwas unversucht, sich persönlich als Experten und Praktiker der höheren Industriewelt und der fortgeschrittenen Kommerzkunde in Position zu setzen.

Das Schauspiel zog sich hin, und mit der Zeit kapierten wir, daß die beiden Belästigten, die in diesem Schwafelgewitter aufs manierlichste eisenhart Contenance bewahrten, als Touristen aus der seit Herbst 1989 offen stehenden DDR unterwegs waren. Sie nahmen ihr Abendessen zu sich, tranken langsam ihre Biere, und manchmal nickten sie dem Störenfried knapp zu. Ihn komplett zu ignorieren, wäre wohl zu anstrengend gewesen, so dränglerisch artikulierte er seine Ansprache.

Die für dieses idyllische Gasthaus eh untypische Szenerie erfuhr zusätzlich Kontur dadurch, daß Hausherr Wilhelm Bangemann seinerseits aufs dezenteste und unter Wahrung strikter Etikettefinessen, jedoch in schwerlich zu verkennender Distanziertheit ahnen ließ, daß auch aus seiner Sicht auf Anwesenheit und Mitteilungen dieses Dummpfiffikus geschissen war. Jener ermattete zwar zunehmend, raffte sich jedoch immer wieder, zwischen Gott sei Dank länger werdenden Pausen, zu appellhaft hervorgekeuchten Präzisierungen auf: »Und wenn’s dann mit dem Bißness läuft, dann läuft alles andere auch. Weiber und soo …!« Weiber ausgesprochen »Weiwa«.

 

In diesem Moment wurde mir klar, warum mich dieses unwürdige Gebrabbel so ungut einnahm und nervte. Ich kenne, zufällig über Bande und hauptsächlich vom Weggucken, einen Kretin, einen zu allem weiteren Unheil auch noch stark pornographisch durchsauten, knalldummen halb Alt-, halb Neunazi und Kleinunternehmer, von dem so gut wie niemals irgend jemand irgend etwas wissen will, der aber seine Mitmenschen fast pausenlos mit den unappetitlichst würdelosen und zuverlässig stets stockmisanthropischen Obszönitäten optimal belästigt; ein Auswurf allerverdrecktester Hölle. Und aus dessen Sabbermaul grunzt auch allzuoft das Appellwort »Weiwa«, an dessen böswillig-hormonstrotzenden Aufruf sich dann sofort und unvermeidlich endlos schlimmster Hirndreck reiht.

So wüst trieb es unser Idiot nun zum Glück nicht. Und da sein Kampf gegen das Bier ihn zunehmend erschöpfte, erlahmte irgendwann sein Redeschwall vollends. Seine gequälte Physis hatte wohl sicherheitshalber, im gewagt knapp limitierten Notfallmodus, das sie so fahrlässig regierende Spatzenhirn heruntergefahren. Mit letzter Kraft, körpersprachlich nun eindeutig vom zuvor beschworenen Ideal des Adlerflugs zum eher hühnerhaften Kratz- und Schlurfgang verkommen, und ohne weitere Umstände trollte er sich in sein Pensionszimmer.

Wir hörten nun von Herrn Bangemann, daß der Mann als frisch installiertes Nachwuchsmitglied einer in den Heidedörfern ambulant tätigen Buchklubwerberkolonne einquartiert war. Sein Weggang eröffnete Gelegenheit, mit den beiden Herren zusammenzusitzen, und wir erfuhren, daß sie, aus dem Ostthüringischen, aus der Stadt Greiz kommend, den ganzen Weg herbeigeradelt waren. Bei kalt-regnerischem Wetter, quer durch halb Deutschland, waren sie, beide Leser der Bücher Arno Schmidts, schnurstracks nach Bargfeld gefahren, um hier der Arno Schmidt Stiftung samt der dort museal gepflegten Lebenssphäre des 1979 verstorbenen Dichters ihre Aufwartung zu machen.

Die Herren aus der damals hierzulande gerne noch »Zone« genannten Welt erzählten von zu Hause und sprachen, außer über ihre Schmidt-Lektüre, auch über ihr Interesse an anderen aktuellen Kulturgütern der alten Bundesrepublik, dem sie nun aktiver nachgehen wollten. Bestens kannten sie sich in den Künsten der Autoren- und Bildsatirikergruppe Neue Frankfurter Schule aus, sie sprachen über ihr Nachholbedürfnis nach Auftritten westlicher Rock- und Jazzmusiker, hatten namhafte Buchhandlungen und Antiquariate auf ihrem Reiseplan und spezielle Museen. Tüchtig wollten sie sich umsehen, auch hier vor Ort erfahren, wie man die Angelegenheiten des Dichters Schmidt ins rechte Licht stellt – denn Michael Rudolf, einer der beiden, hegte damals schon konkrete Absichten, einen Literaturverlag zu gründen.

In welchen Ausmaßen und um wie viele Ecken herum prophetisch sich der besoffene Schwafelsack – fast wie ein von Charles Dickens in der Weihnachtsnacht zusätzlich ins Rennen geschickter Menetekelgeist, als Mensch gewordene Vorwegnahme kommender Zumutungen oder wie ein alles Böse und Blöde der Welt inniglich beschwörendes Marterlbild aus der Hand eines deliranten Herrgottsschnitzers – an eine zentrale Biegung des Lebenswegs Michael Rudolfs postiert hatte, konnte damals niemand ahnen.

WISSENSWERTES ÜBER GREIZ – Michael Rudolf erzählte mir noch am gleichen Abend von einem wunderschönen Museum voller feinster Kunstschätze in Greiz. Dort, im Sommerpalais, so erfuhr ich, seien Raritäten und Schönheiten sonder Zahl zu finden: eine außergewöhnliche Bibliothek, die großen alten Enzyklopädien, wunderlich Illustriertes, erstrangige Graphik des 18. Jahrhunderts, die Hinterlassenschaften einer englischen Prinzessin, die auch selbst als Bildende Künstlerin Gescheites vollbracht habe, und die Nachlässe ihrer in Thüringen angeheirateten Fürstenverwandtschaft, Künstlerkarikaturen, frühe Bildsatiren, Wertvolles von William Hogarth, Daniel Chodowiecki, Henry William Bunbury, Thomas Rowlandson, James Gillray und von Honoré Daumier, dazu deutsche kritisch-komische Graphik aus dem frühen 20. Jahrhundert und, als Clou, die amtliche, große nationale Karikaturensammlung der DDR, untergebracht in einer als »Satiricum« durchaus populären Abteilung des Hauses, namens derer man bisher die prima Greizer Karikatur-Biennalen gefeiert habe. Und im Sommerpalais erwarte man alsbald den neuen Direktor, Gotthard Brandler aus Berlin, unter anderem ein Experte für die Geschichte und Theorie der Baukunst, für die Geschichte der Presse- und Künstlerkarikatur und, Achtung: Herausgeber einer demnächst erscheinenden, riesigen, kritischhistorischen, groß kommentierten Reprintausgabe des Journals London und Paris des großen Verlegers und Druckers Friedrich Justin Bertuch aus dem Weimar der Goethezeit – ich wisse doch sicher Bescheid … Brandler habe ja in der Schriftenreihe Greizer Studien schon ganz wunderbar auf die Früchte seiner Bertuch- und London und Paris-Forschungen hingewiesen. Da sei Vorfreude angezeigt.

Die Blamage war so komplett wie meine Überraschtheit. Ich nämlich wußte nicht im geringsten Bescheid, ziemlich peinlich, da ich zuvor schwer mit meinem Interesse an kritischkomischer Bildender Kunst renommiert hatte. Ich mußte es dem freundlich nachsichtigen Herrn Rudolf gestehen, nein, Greiz östlich von Plauen im thüringischen Vogtland, das Fürstenhaus Reuß und seine Sammlungen, Sommerpalais, Satiricum, Biennalen, Greizer Studien – von Bertuchs Zeitschriften abgesehen, hatte ich nie von all dem gehört. Kein Schimmer. Verschwommen dümpelte nur die Parole »Greiz, Schleiz, Lobenstein …« in meinem Hinterkopf herum. Michael Rudolf behob auch diesen Mangel an Übersicht im Handumdrehen.



Michael Rudolf, Michael Riedel, Bargfeld, 1990.

Er und sein Freund Michael Riedel hatten mir in zwei, drei Stunden von mehr Wissenswertem in ihrem Land erzählt, als ich in den knapp vier Lebensjahrzehnten zuvor insgesamt erfahren hatte. Und dann noch zu hören, daß Michael die Gründung eines Verlages plante, in dem er Literatur des 18. Jahrhunderts, Satiren, allerhand Rares und Extravagantes ins Licht setzen wollte, dazu Aktuelles aus der sich damals spannend und vielversprechend erweiternden künstlerischen Umgebung der Neuen Frankfurter Schule, machte mir klar, daß dieser sehr sympathische Herr alsbald Erfreuliches ins Werk setzen werde.

MEKKA SOMMERPALAIS – Michael Rudolf hatte mich in der folgenden Zeit über das, was sich im Greizer Museum Sommerpalais tat, freundlich auf dem laufenden gehalten. Als Ende 1992 Direktor Brandler daranging, die Grundlinien seiner Ausstellungspolitik neu zu fassen, und zu Besprechungen darüber Kollegen aus Ost- und Westdeutschland nach Greiz einlud, hatte Michel dafür gesorgt, daß ich mit dabei war. Es war die schiere Freude, dieses legendenträchtige Museum und Gotthard Brandler, eine so gescheite wie liebenswerte Lichtgestalt der Branche, kennenzulernen. Michel hatte nicht zu viel versprochen.

Eines der Ergebnisse dieser Tagung war, daß infolge der Karikatur-Biennalen künftig groß aufgezogene Ausstellungen im dreijährigen Turnus stattfinden sollten, und Gotthard Brandler und ich vereinbarten, künftig auch persönlich zusammenzuarbeiten. Michel alleine hatte dies angestiftet, und ich danke es ihm bis heute sehr. Niemals sonst habe ich irgendwo so schöne Arbeit gefunden!

Das noch: Als ich am Vorabend des Tagungsbeginns abends im Stockdunkeln nach Greiz gefahren kam, hatte ich vom letzten Dorf vor Greiz aus Michel angerufen, der gemeinsam mit anderen Tagungsteilnehmern schon bei Ente, Knödeln, Rotkraut und Bier saß. Er beschrieb mir das letzte Stück Weg haarklein und erbot sich, mich in Greiz an einem markanten Treffpunkt zu empfangen; die Stadt zeige sich wegen Renovierung derzeit wenig übersichtlich. Eine halbe Stunde später traf ich an der Ecke Bruno-Bergner-Straße/Carolinenstraße ein, gegenüber der Einmündung des Gartenwegs, wo Michel und seine Frau damals wohnten. Michel stand, in dünner Kleidung, die Schultern hochgezogen, im Schein einer Straßenlaterne, winkte und nahm mich in Empfang. Außer ihm war trotz des frühen Abends weit und breit kaum ein Mensch zu sehen. Es war bitterkalt, die Luft war voller Braunkohleheizungsgeruch, und die, verglichen mit der Straßenbeleuchtung im Westen, eher sparsame und farblich anders getönte öffentliche Beleuchtung setzte mir die Kulisse in eine fremdartige, jedoch angenehm merkwürdige Stimmung. Ich fühlte mich sehr wohl.

Michel geleitete mich, vorbei an rätselhaften Baustellen und über labyrinthische Umleitungen, zur Parkgasse, wo mir im Krug zum grünen Kranze ein Zimmer reserviert worden war. Vor dem Gasthof zeigte er ins Dunkle hinterm Haus und sagte: »Dort gleich ist der Park mit dem Sommerpalais, du wirst staunen.« Dann ging’s zum Ort des ersten Beisammenseins der Tagungsgäste im Restaurant Am Goethepark. Als einzigen der Versammelten kannte ich bisher F. W. Bernstein, denn der zufällig am gleichen Tag dort ebenfalls erwartete Zeichner Steffen Haas aus München hatte sich verspätet. Bernstein und Michel machten mich mit Gotthard Brandler bekannt. Nachdem auch ich ein eins a Stück Ente niedergemacht hatte – ich werde bis heute den Verdacht nicht los, daß es sich in Wirklichkeit um den Schenkel einer Ente-Truthahn-Kreuzung handelte, mit der ein vogtländisches Geflügelkollektiv einst angetreten war, um auf Zucht- und Planübererfüllungsolympiaden sämtlicher Bruderländer Serien erster Preise abzustauben –, nahm dieses Konferenzpräludium herzerwärmende Formen eines fidelen Kameradschaftsabends an. Michel informierte mich über Herkommen und Bedeutung der anwesenden Ex-DDR-Künstler und -Kulturbetriebsleute. Und er sagte wortwörtlich: »Ja, du wirst es sehen, hier in Greiz ist’s schön!«