Das Mainzer Schloss

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OSTEINS GROSSES PROJEKT UND DER BAU DES NORDFLÜGELS

Weit umfangreichere Baumaßnahmen als unter Lothar Franz von Schönborn erlebte das Schloss in der Mitte des 18. Jahrhunderts unter dessen Großneffen Johann Friedrich Carl von Ostein (reg. 1743–1763). Verantwortlich für Planung und Ausführung war der kurfürstliche Oberbaudirektor Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn. Nun wurde der Nordflügel errichtet, der bereits 1687 unter Anselm Franz von Ingelheim (reg. 1679–1695) begonnen worden war. Zuvor hatte man noch die Räume im alten Flügel wenigstens in Teilen erneuert. So sind für 1749 Arbeiten überliefert, die offenbar das für hohe Gäste genutzte Appartement im zweiten Obergeschoss betrafen. Am 25. März berichtete Ritter in einem Schreiben an den Kurfürsten, dass das obere Audienz zimmer bereits weitgehend fertiggestellt, die übrigen Räume aber wegen der Abwesenheit des Stuckateurs Johann Peter Jäger noch nicht abgeschlossen seien.30 Der vielbeschäftigte, auch als Baumeister tätige Jäger war mit den Stuckarbeiten im Schloss unter Ostein insgesamt beauftragt. Die Korrespondenz zwischen Ritter und dem Kurfürsten lässt einige weitere Rückschlüsse auf die sonst nicht überlieferte wandfeste Raumausstattung zu. So fragte der Architekt im genannten Schreiben an, ob der Anstrich der Vertäfelung mit öhl wie Eichen holtz oder mit weiss und Leimfarbe geschehen solle; ingleichen ob die Susportes mit schreiner und druck oder Stoccatur arbeith zu verfertigen seye. Ostein antwortete ihm am 29. März, dass wir dem anstrich mit oel wie eichenholz als gar dunkel nicht sondern weißlicht mit verguldeten leisten wie es dermalen üblich und mode ist mehr lieben.31 Weiter berichtete Ritter von bereits vorhandenen Tapeten mit grossen Figuren, die den neu eingerichteten Räumen angepasst werden sollten, ebenso über eine Tapisserie, die von Aschaffenburg übernommen wurde.32

Abb. 9: Ehem. Vorzimmer [I.3] als Museumsraum des RGZM, vor 1942

Abb. 10: Ehem. Vorzimmer [I.3], Stuckdecke, vor 1942

Abb. 11: Ehem. Vorzimmer [I.3], stuckierte Fensternische

Abb. 12: Ehem. Audienzzimmer [I.4], Stuckdecke, vor 1942

Abb. 13: Ehem. Audienzzimmer [I.4], stuckierte Fensternische

Wie man den historischen Fotografien entnehmen kann, erhielten auch das auf dem alten Plan wiedergegebene Vorzimmer und das anschließende Audienzzimmer des kurfürstlichen Appartements im ersten Obergeschoss auf der Hofseite des Rheinflügels Decken in reichem Rokokostuck, der Johann Peter Jäger zugeschrieben wird (Abb. 9).33 Die Mittelrosette des Vorzimmers bestimmte das mit Bischofsstab, Schwert und Kurhut als Insignien der kurfürstlichen Würde ausgestattete Ostein‘sche Wappen (Abb. 10, 11; Taf. 43). Die Mittelrosette im anschließenden Audienzzimmer zeigte inmitten von Rocaillen und Blütenketten das von Hunden, den Ostein‘schen Wappentieren, gehaltene Mainzer Rad, zu denen sich in den Ecken weitere springende und sitzende Hunde gesellten; in den bis heute erhaltenen Fensternischen erscheinen Waffentrophäen (Abb. 12, 13; Taf. 42, 44). Arbeiten fanden wohl auch in den anderen Räumen statt, lassen sich aber nicht so klar fassen. Der Gardesaal, das Tafelzimmer sowie das Oratorium wurden bereits im 19. Jahrhundert unterteilt und damit auch an den Decken verändert (Abb. 14; Taf. 57).34

Mit dem Bau des Nordflügels, den der Kurfürst im Herbst 1749 veranlasste, ergaben sich auch erhebliche Folgen für die funktionelle Struktur des Inneren. Vor allem bewirkte die Verlegung des kurfürstlichen Appartements in den Neubau eine neue Großzügigkeit, wie aus einer Äußerung Ritters vom 11. Oktober 1749 hervorgeht: die übrige Eintheilung des appartement in Einrichtung einer doppelten wohnung die Eine für den winter gegen den hoff und die andere gegen den Rhingau wird sehr commode auch die zimmer alle Viel grösser, als wo Ihro Churfürstl. Gnadten dermahlen wohnen, dass also höchst dieselbe sich zu seiner zeit zu flatieren haben logiert zu sein, wie es einem grossen herrn zu kombt.35 Ritters erstes Projekt sah einen Neubau mit der doppelten Länge des heutigen Flügels vor, dem die Martinsburg weichen sollte (Abb. 15; Taf. 27– 31).36 Hinter dem Mittelrisalit der breit gedehnten, zum Gartenfeld orientierten Fassade und über der Tordurchfahrt platzierte er als größten Raum des Schlosses den Gardesaal, der beidseitig in ausgedehnte Appartements überleitet. Die nach Westen abgehende kurfürstliche Wohnung gestattet den Ausblick auf den hier angrenzenden Schlossgarten, auf den sich – nach Vorbild des rheinseitigen Flügels – zwei Eckerker orientieren. Mit zwei parallel zueinander verlaufenden Fluchten entspricht die Zimmerfolge dem Schema eines Appartement double. Offensichtlich blieb das Raumprogramm des alten Paradeappartement im Grundsatz verbindlich. Dies entsprach dem geltenden höfischen Standard und berücksichtigte wohl auch das Reglement des heimischen Zeremoniells. Die Zahl der Räume wird dabei um ein weiteres Vorzimmer sowie ein Kabinett erweitert, während das Oratorium nun wegfällt; die kleine Privatkapelle auf der Hofseite wird vom Tafelzimmer sowie vom ersten Vorzimmer aus betreten. Das neue, in den alten Ostflügel vordringende Haupttreppenhaus führt als Teil der offiziellen Raumfolge nur bis in das erste Obergeschoss. Ritter bot die Treppe in zwei Varianten an, von denen die als Klappe hinzugefügte Version um eine Fensterachse breiter auf Kosten der Tordurchfahrt in den Küchenhof im Bereich der ehemaligen Martinsburg angelegt ist. Wie im Ostflügel bilden Gardesaal und Tafelzimmer, die wiederum die gesamte Flügeltiefe durchmessen, den Eingang in die Kurfürstenzimmer. Auf der Gartenfeldseite reihen sich die Räume des Paradeappartements, das – der Sonne abgewandt – zugleich als Sommerwohnung dient. Es besteht aus erster und zweiter Antichambre, Audienzzimmer sowie dem geräumigen Sommerkabinett, das einen der beiden Erker einschließt. Im Audienzzimmer eingezeichnet ist die Position des Baldachins, der – wie Moser im Teutschen Hof-Recht ausführt – den höchsten Reichsfürsten vorbehalten blieb: Kayser, Könige, Chur- und Fürsten erscheinen bey Audienzen, (letztere bey solennen Audienzen) unter einem Baldachin.37 Auf der nach Süden und Westen orientierten Hofbzw. Gartenseite folgt das Privatappartement mit dem kleineren, durch den Eckerker erweiterten Winterkabinett, dem Schlaf- und dem Wohnzimmer. Das im Plan eingetragene Bett ist wie üblich in der Mitte der den Fenstern gegenüberliegenden Wand aufgestellt. Das anschließende Kammerdienerzimmer, hinter dem ein Flur die Versorgung der Öfen in den beiden herrschaftlichen Räumen ermöglicht, steht mit einer Nebentreppe in Verbindung. Diese führt ins Erdgeschoss, wo auf der Hofseite in zwei Räumen die garde Robe vor ihro Churfürstl. gnaden untergebracht ist. Als einziger repräsentativer Raum ist hier die Sala Terrena im Kopfbau des Flügels vorgesehen, die mit einer doppelläufigen Freitreppe an den Schlossgarten angeschlossen ist und zugleich als winderunck vor den gärdner zur Aufnahme der empfindlichen Orangenbäumchen in der kalten Jahreszeit dient.38 Ansonsten nimmt das Erdgeschoss neben untergeordneten Räumen die geheime Kanzlei mit der Repositur sowie einem Konferenzzimmer unmittelbar neben der Sala Terrena auf. Im zweiten Obergeschoss reihen sich entlang der Außenseite des neuen Flügels sowie an dessen Kopfbau mehrere Appartements, die in Gruppen von jeweils einem zentralen Vorplatz bzw. einem Vorzimmer aus erschlossen werden (Taf. 31).39

Abb. 14: Ehem. Oratorium [I.5] als Museumsraum des RGZM, vor 1942

Abb. 15: Anselm Franz von Ritter zu Groenesteyn, Entwurf zur Erweiterung des Kurfürstlichen Schlosses, 1749, Grundriss des ersten Obergeschosses (Zweythen Stockwerck), Zustand mit Klappe

Abb. 16: Kurfürstliches Schloss, Grundriss des ersten Obergeschosses, 1803

Wie die mit Bleistift im kurfürstlichen Appartement eingetragenen Korrekturen verraten, überlegte Ritter nachträglich, das Tafelzimmer um eine Fensterachse zu erweitern. Mit der nun nahezu quadratischen Grundform hätte der Raum, der anfangs wie sein Vorgänger im alten Flügel zweiachsig angelegt war, infolge der größeren Tiefe des Nordflügels jedoch sehr schmal gewirkt hätte, eine verbesserte Proportion gewonnen und dem repräsentativen Anspruch der ihm zugedachten Nutzung stärker entsprochen. Tatsächlich berichtete Ritter am 11. Oktober 1749 in einem Schreiben an den Bruder des Kurfürsten, den Amorbacher Oberamtmann Franz Wolfgang von Ostein, er sei auch meines hochgeertesten herrn bruders fournirtes gutes concept den speißsall umb Ein gantzes fenster zu Erweithern gefolget, welche Enderung Einen über die maaßen guten effect machet.40 Durch diesen Eingriff rückten die beiden Vorzimmer der nördlichen Enfilade um je eine Achse nach Westen, auf Kosten des dreiachsigen Audienzzimmers, das nun um ein Fenster verkürzt wurde. In der südlichen, hofseitigen Raumfolge fanden keine Verschiebungen statt, was zur Folge hatte, dass die unmittelbar an das Tafelzimmer grenzende Kapelle durch den Wegfall einer Achse räumlich entwertet wurde. Als Konsequenz wurde der Betraum nun deutlich bescheidener im südlichen, zum Winterkabinett gehörigen Eckerker untergebracht, wie sich der nachträglichen Bleistifteintragung des Altars entnehmen lässt.

 

In den Flügeln, die anstelle der zum Abbruch vorgesehenen Martinsburg einen quadratischen Binnenhof umschließen, sind in Ritters Planung keine herrschaftlichen Räume vorgesehen. Im Erdgeschoss enthalten sie ausschließlich Funktionsräume wie die Küchen, die Bäckerei, das Schlachthaus und die Zimmer zum Aufenthalt der Lakaien. Innerhalb des ersten Obergeschosses finden auf der prominenteren Rheinseite die höheren Hofbedienten – Kammerdiener, Marschall, Haushofmeister und Hofkaplan – sowie das Kavalierspeisezimmer Platz, während an der Front zum Graben die Zuckerbäckerei untergebracht ist. Das zweite Obergeschoss besetzen die Wohn- und Schlafräume für den Leibarzt und Zimmer für die Pagen und für Fremde.41 Für den alten Rheinflügel weisen die Grundrisse Ritters keine Raumbezeichnungen auf.42 Damit lässt sich nicht eindeutig klären, wie das bisherige, gerade erst renovierte kurfürstliche Appartement im ersten Obergeschoss verwendet werden sollte. Gegenüber der neuen Hauptwohnung im Nordflügel wirkt es gleichsam abgehängt, da es vom neuen Haupttreppenhaus aus nur über einen Flur und die zur Nebentreppe degradierte alte Stiege erreichbar ist. Gegenüber dem älteren Zustand lässt die Darstellung jedoch auf Veränderungen hinsichtlich der Raumfunktionen schließen. So weist das im früheren Oratorium eingetragene gestrichelte Rechteck auf ein Bett oder einen Baldachin hin.43

Abb. 17: Kurfürstliches Schloss, Ostflügel, ehem. Nebentreppenhaus

Die Ausführung der Ritter‘schen Planung erfolgte bekanntlich in deutlich reduziertem Umfang.44 Auf die rheinseitige Verlängerung des Nordflügels verzichtete man völlig und ließ die Martinsburg zumindest in ihren dem Fluss zugewandten Teilen unangetastet. Leider ist kein Grundriss der Beletage vor dem Einbau des Akademiesaales in den 1780er Jahren überliefert, aus dem die gesamte Raumeinteilung der Ostein-Zeit ablesbar wäre. Die Situation vor den eingreifenden Umbauten des 19. Jahrhunderts sind immerhin auf einer Bauaufnahme der französischen Zeit um 1800 wiedergegeben (Abb. 16; Taf. 33–35)45. Der neue Gardesaal besetzte nun das Gelenk zwischen beiden Flügeln. Da die unmittelbar angrenzende Haupttreppe nur die Beletage erschloss, entstand zur Anbindung des zweiten Stockwerks eine neue Nebenstiege anstelle der alten Treppe im Rheinflügel; sie hat sich bis heute erhalten (Abb. 17). Zur Raumfolge des kurfürstlichen Appartements im Nordflügel ergeben sich immerhin einige Andeutungen aus dem Bericht zum Empfang des Freiherrn Karl Franz Friedrich Forstmeister zu Gelnhausen, Gesandter des Hoch- und Deutschmeisters des Deutschen Ritterordens, durch Friedrich Karl Joseph von Erthal am 5. November 1780.46 Demnach begab sich der Kurfürst aus dem Marmor-Saal47 durch den Festin-Saal in die Gallerie und von dort in die darneben gelegene Antichambre. Die Abfolge von Gardesaal und Tafelzimmer entspricht dem Schema, das bereits der frühe Grundriss und das große Projekt Ritters zeigten. Eine Galerie wiederum ist – allerdings nach Einbau des Akademiesaales – hofseitig auf dem französischen Grundriss wiedergegeben (Abb. 16; Taf. 34).48 Im Rahmen der Ausstattung des neuen Appartements wurde der Frankfurter Maler Christian Georg Schütz d. Ä. mit 80 gemalten Supraporten beauftragt, die Landschaftsszenen darstellten und von denen sich mehrere im Landesmuseum Mainz sowie in Aschaffenburg erhalten haben (Taf. 3).49

Von besonderem Interesse sind die Haupträume der neuen Bauteile, allen voran das Stiegenhaus und der Saal. Da die Treppe auf einem bauzeitlichen Grundriss des Erdgeschosses erscheint, lassen sich wenigstens zu dieser verlorenen Prunkstiege konkretere Aussagen treffen (Abb. 18; gesamter Plan Taf. 32).50 Ausgehend von der größeren der beiden in Ritters Plänen entworfenen Varianten (Abb. 15; Taf. 30) nahm sie nun den gesamten Raum der ehemals dreibogigen Durchfahrt ein. Durch die doppelte Brechung der beiden unteren Treppenarme, die bereits auf der Eingangsseite ansetzten und die Außenwände begleiteten, sowie die Verkürzung des mittleren Repetierlaufs gestattete sie die Vergrößerung des Podests im Obergeschoss mit dem Zugang zu den herrschaftlichen Räumen. Als Durchgangstreppe ermöglichte sie die Zufahrt zum angrenzenden Hof der Martinsburg und unterschied sich damit vom Typus der sogenannten Kaisertreppe, die sich – wie die Stiegenhäuser Balthasar Neumanns in Brühl oder Würzburg – über einem mittleren Antrittslauf in zwei seitliche Repetierläufe teilt.51 Ritter zu Groenesteyn selbst hatte mit dem Bau des Stadioner Hofes 1728 eine solche Treppe in Mainz eingeführt (Abb. 19), die den Planvarianten des Schlossprojekts von 1749 entspricht (Abb. 15, 20; Taf. 28).52 Der Typus der Durchgangstreppe verbindet sich im süddeutschen Raum vor allem mit den Bauten des Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn. Prominentestes Beispiel ist die 1713 von Johann Dientzenhofer errichtete Prunktreppe des Schlosses von Pommersfelden, die Lukas von Hildebrandt mit einem Umgang kombinierte; während hier die Treppenläufe wie in der Mainzer Ausführungsversion zweifach abknickend den Umfassungswänden folgen, verbleibt sie jedoch ohne mittleren Repetierlauf. Erstmals in Süddeutschland wurde die Durchgangstreppe 1705 von Leonhard Dientzenhofer im Stiegenhaus des Schönborn‘schen Schlosses von Gaibach verwirklicht. Sie ist heute nur noch in einem Stich überliefert.53 Trotz ihrer geschlossenen und massigen Wirkung ist die Verwandtschaft zu den späteren Treppen unverkennbar. Auch für die nächstfolgenden Vertreter des Typus waren durchgängig Bauherren, Baumeister oder Hofkavaliersarchitekten verantwortlich, die – wie Ritter zu Groenesteyn – zu den Baudirigirungsgöttern des Erzbaumeisters Lothar Franz zählten, jenem berühmten Planungsstab, den der Kurfürst zu vielen schönbornschen Bauvorhaben hinzuzog: 1710 entstand Maximilian von Welschs Treppe im Deutschordenshaus in Frankfurt am Main,54 zwischen 1714 und 1719 die von Johann Dientzenhofer für Wolf Philipp von Schrottenberg errichtete Treppe in Schloss Reichmannsdorf unweit von Pommersfelden.55 Bereits in die 1730er Jahre gehört das Stiegenhaus des Erthaler Hofes in Mainz, das wohl auf den Entwurf des Bauherrn Philipp Christoph von Erthal selbst zurückgeht und wie der Stadioner Hof freitragende Läufe französischer Provenienz aufweist.56 Schließlich bediente sich auch Balthasar Neumann der Durchgangstreppe in freier Weiterbildung für seine Entwürfe zum Neuen Schloss in Stuttgart (1747–1749) sowie zu Schloss Schönbornlust bei Koblenz.57

Abb. 18: Kurfürstliches Schloss, Grundriss des Erdgeschosses, um 1751, Ausschnitt mit Haupttreppenhaus (vgl. auch Taf. 32)

Abb. 19: Mainz, Stadioner Hof, Treppenhaus, Foto vor 1923

Der sich anschließende quadratische Gardesaal war eingeschossig angelegt, ragte mit seiner flachen Decke jedoch bis in die Brüstungsebene des zweiten Obergeschosses hinein (Abb. 21; Taf. 39). Die Stuckdecke Johann Peter Jägers war nach den Quellen im September 1754 vollendet, der Stuckmarmor im Oktober gerade in Arbeit.58 Einen Eindruck von der Farbigkeit des Raumes, der sonst nur in Schwarz-Weiß-Fotografien überliefert ist, vermittelt ein Gemälde von Franz Joseph Kauffmann, das die Gründonnerstags-Fußwaschung und Speisung der zwölf Stadtarmen durch Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal im Jahre 1779 zeigt (Taf. 38).59 Die förmlich wirkende architektonische Gliederung mit den umlaufenden, weiß von den roten Stuckmarmoroberflächen abgesetzten Doppelpilastern und den rundbogigen Fensternischen, die über die Binnenwände als Blendbögen weitergeführt wurden, entsprach ganz dem öffentlichen Charakter des Raumes als erstem Vorsaal. Hierin spiegelt sich die künstlerische Orientierung Ritters an französischen Vorbildern aus dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, etwa dem 1709–1713 entstandenen Treppenhaus des Petit Luxembourg in Paris von Germain Boffrand60, das wiederum auf die Stiege des Stadioner Hofes vorausweist. Die pilastergerahmte Arkade findet man auch in einem der Entwürfe für die Würzburger Residenz, der Balthasar Neumann oder dem Wiener Architekten Lucas von Hildebrandt zugeschrieben wird.61

Abb. 20: Anselm Franz von Ritter zu Groenesteyn, Entwurf zur Erweiterung des Schlosses, 1749, Grundriss des ersten Obergeschosses, Zustand ohne Klappe, Ausschnitt mit Variante zum Haupttreppenhaus

Abb. 21: Kurfürstliches Schloss, Marmorsaal, um 1925

Sie gliedert dort ebenfalls den Gardesaal, wenn sie auch nicht wie in Mainz auf allen Seiten gleichmäßig umläuft. Die in reifen Rokokoformen stuckierte Decke zeigte in den Ecken die vier Erdteile, die wie üblich durch ein Pferd für Europa, ein Dromedar für Asien und einen Löwen, einen Elefanten sowie ein Krokodil für Afrika charakterisiert waren (Taf. 40 a–c). Allein der für Amerika stehende Bär wich von der sonst vorherrschenden Darstellungsweise mit einem Alligator oder einem Gürteltier ab (Taf. 40 d).62 Das Zentrum der ausgedehnten Mittelrosette nahm eine sitzende mythologische oder allegorische weibliche Gestalt ein (Abb. 22; Taf. 41). Hinter dieser erhob sich ein gemauerter Pfeiler, den eine Sphinx bekrönte. Die durch Lorbeerkranz und Pfeilköcher gekennzeichnete Figur63 wurde von zwei sitzenden Gestalten mit Lautenspiel und Gesang unterhalten. In den rahmenden Rocaillen verbargen sich zahlreiche Musikinstrumente sowie eine Theatermaske. An den äußeren Rändern der Decke tummelten sich musizierende Putten, während in der Voute neben weiteren Instrumenten auch kriegerische Motive erschienen, die auf die Bestimmung des Saales hinwiesen.

 

Als Gardesaal hatte der Raum die Funktion des ersten Vorsaals für das Appartement. Hier wachte die kurfürstliche Garde über den Eintritt in die kurfürstlichen Gemächer. Wie die der Musikwelt entlehnten heiter-beschwingten Motive der Stuckdecke sowie die im späteren 18. Jahrhundert überlieferte Bezeichnung Marmorsaal nahelegen, scheint er als größter Saal des Schlosses aber auch für repräsentative Anlässe genutzt worden zu sein.64 Zugleich lässt der ursprüngliche Name die anhaltende Verbindlichkeit zeremonieller Traditionen aufscheinen, die bereits in der Raumfolge des Rheinflügels formuliert worden waren und offensichtlich in das neue Appartement übernommen wurden. Der Gardesaal war fester Bestandteil in den Raumprogrammen fürstlicher Schlösser.65 Eine vergleichbare Raumabfolge und Funktionszuweisung kennzeichnete auch die Residenzen der beiden anderen geistlichen Kurfürsten: So nahm etwa der Gardesaal des ab 1697 bzw. 1715 ausgebauten kurkölnischen Residenzschlosses in Bonn als zentraler und größter Raum eine ähnlich bedeutende Stellung ein. Diese wurde auf das ab 1725 für die Kölner Kurfürsten errichtete Schloss Augustusburg in Brühl übertragen, das mit der Abfolge von Gardesaal, Speisesaal, erstem und zweitem Vorzimmer, Audienzzimmer, Schlafzimmer und Kabinett der Mainzer Situation sehr nahekam.66 Auch das kurfürstliche Palais in Trier zeigte eine vergleichbare Raumfolge.67

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