Das kleine 1 x 1 der Oralchirurgie

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Nahttechniken in der Oralchirurgie

Andreas Filippi

Viele oralchirurgische Eingriffe enden mit einer Nahtversorgung – primär, um einen mobilisierten und replatzierten Mukoperiostlappen möglichst in seiner Originalposition zu fixieren; sekundär aber auch, um gegebenenfalls die Wundfläche von Alveolen zu verkleinern oder eine Alveolen- oder Defektauffüllung mittels Naht zu stabilisieren; und nicht zuletzt auch, um gegebenenfalls einen stabilen plastischen Verschluss von Alveolen oder eröffneten Kieferhöhlen zu ermöglichen6,7.

Führen und Einstechen der Nadel

Die Nadel wird mit dem Nadelhalter im Bereich des Nadelkörpers gefasst (nicht an der Nadelspitze, nicht im Bereich der Armierungszone; s. Kap. 2: Nahtinstrumente und Nahtmaterialien) und mit einer Drehbewegung durch die eine Seite des Wundrandes hindurchgeführt bzw. hindurchgedreht. Der Einstich sollte je nach Situation und Gingiva-Biotyp etwa 2 mm vom Wundrand her erfolgen. Kann die Nadel an dieser Stelle nicht in einem Zug durch beide Wundränder hindurchgeführt werden, wird sie zunächst erneut mit einer Dreh-/Rotationsbewegung aus dem Weichgewebe herausgezogen und danach durch den zweiten Teil des Wundrandes geführt. Reine Zugbewegungen an der Nadel sind zu vermeiden, da sie zum Ausreißen der Wundränder, aber auch zum Abreißen des Fadens direkt an der Nadel führen können.

Bevor man mit dem Knoten beginnt, sollte der Faden soweit hindurchgezogen werden, dass noch etwa 4 cm überstehen, um beim Abschneiden Material zu sparen.

Der chirurgische Knoten

Jede Naht endet mit einem chirurgischen Knoten. Dieser soll verhindern, dass sich die Naht während der Tragezeit von allein öffnet und somit aus einer angestrebten primären Wundheilung eine sekundäre Wundheilung werden könnte. Da Wunden in der Mundhöhle ständigen mechanischen Druck- und Zugbelastungen unterliegen (Kauen, Trinken, Sprechen, Schlucken) und Wunden im Gegensatz zur Dermis nicht ruhiggestellt werden können, muss ein chirurgischer Knoten in der Oralchirurgie über etwa eine Woche bis zur Nahtentfernung stabil bleiben.

Verschiedene Knotentechniken sind für oralchirurgische Eingriffe beschrieben. Über alle Stufen zahnärztlicher Berufserfahrung hinweg hat sich jedoch nur eine bewährt, die aus drei aufeinander folgenden Knoten besteht.

Der erste Knoten ist bei eher dickem (3-0 oder 4-0) und multifilem Nahtmaterial ein Doppelknoten (Abb. 3-1), bei eher dünnem (5-0 oder 6-0) und monofilem Nahtmaterial ein Dreifachknoten (Abb. 3-2). Beim Zuziehen dieses ersten Knotens werden die Wundränder adaptiert und in Kontakt zueinander gebracht. Für den nächsten Knoten muss man danach den Faden etwas lockerlassen. Hierbei dürfen sich die gerade adaptierten Wundränder nicht wieder voneinander entfernen. Bei dickem multifilem Nahtmaterial ist die Friktion eines Doppelknotens durch die raue Fadenoberfläche genügend groß, um dies zu verhindern. Bei dünnem monofilem Nahtmaterial jedoch ist ein Dreifachknoten erforderlich, um die gleiche Friktion des glatten Fadens zu erreichen und auf diese Weise einer spontanen Dehiszenz der Wundränder vorzubeugen.


Abb. 3-1 Bei multifilem Nahtmaterial ist der erste Knoten ein Doppelknoten (aus: Rasperini5).


Abb. 3-2 Bei monofilem Nahtmaterial ist der erste Knoten ein Dreifachknoten (aus: Rasperini5).

Der zweite Knoten ist, unabhängig vom verwendeten Nahtmaterial, ein Einfachknoten, der in die Gegenrichtung des ersten Knotens geschlungen wird. Seine Aufgabe ist es, möglicherweise doch etwas voneinander entfernte Wundränder (re)adaptieren zu können, ohne die Naht von vorne beginnen zu müssen.

Der dritte und letzte Knoten ist, ebenfalls unabhängig vom verwendeten Nahtmaterial, erneut ein Einfachknoten, der noch einmal in die Gegenrichtung (beziehungsweise in die Richtung des ersten Knotens) geschlungen wird. Seine Aufgabe ist zu verhindern, dass die ersten beiden Knoten während der Tragezeit aufgehen könnten.

Das Abschneiden des Fadens nach dem Knoten

Nach Beendigung des Knotens muss die Operationsassistenz den Faden abschneiden. Die verbleibende Länge des überstehenden Nahtmaterials sollte genau so sein, dass sich der Knoten innerhalb seiner Tragezeit von alleine nicht öffnet, die Fadenenden jedoch den Patienten nicht stören. Bei multifilem Nahtmaterial sollte dieser Überstand 3 bis 4 mm betragen, bei monofilem Nahtmaterial 7 bis 8 mm. Zu kurz abgeschnittenes monofiles Nahtmaterial pikst in die umgebende Schleimhaut, ähnlich wie Bartstoppeln. Zu lang abgeschnittenes multifiles Nahtmaterial stört wie ein in die Mundhöhle hängender Wollfaden: Der Patient spielt die ganze Zeit mit der Zunge daran herum.

Damit die Operationsassistenz den Faden immer und zuverlässig mit nur einem Scherenschnitt abschneiden kann, sollte der Operateur nach dem Zuziehen des letzten Knotens die beiden Fadenenden einmal durch Übereinanderschlagen der Hände um die eigene Achse drehen (Video 3-1). Dann gelingt das Abschneiden der beiden Fadenenden mit einem Scherenschnitt immer, was Zeit und manchmal auch Nerven spart.

Video 3-1 Überkreuzen der Fadenenden zum einfacheren Abschneiden.

Nahttechniken

Für oralchirurgische Eingriffe wurden insgesamt fast 20 Nahttechniken beschrieben, die alle ihre eigene Indikation haben. Manche, wie die Einzelknopf-Naht, sind bekannt und verbreitet, andere hervorragende Nahttechniken weniger. Einige dieser Nahttechniken sollen nachfolgend etwas detaillierter beschrieben werden.

Einzelknopf-Naht

Die Einzelknopf-Naht (Video 3-2 und 3-3) besteht aus zwei Einstichen durch beide Wundränder hindurch (Abb. 3-3). Je dünner der Gingiva-Biotyp und je weiter im sichtbaren Bereich die Naht ist, umso wichtiger ist es, dass am Ende der Knoten nicht direkt auf dem Schnitt liegt (Abb. 3-4). Die Wunde wird bereits in der Heilungsphase unnötig irritiert und die Narbe wird unnötig breit. Um dies zu verhindern, wird nach dem Abschneiden der Fadenenden eines dieser Enden mit einer Pinzette gefasst und auf diese Weise der Knoten vom Schnitt weggezogen: bei krestal liegenden Schnitten grundsätzlich nach bukkal, damit die Naht für die Zunge nicht unnötig störend ist (Abb. 3-4).

Video 3-2 Einzelknopf-Naht (aus: Rasperini5).

Video 3-3 Einzelknopf-Naht.


Abb. 3-3 Einzelknopf-Naht: 2 Einstiche (aus: Rasperini5).


Abb. 3-4 Der Knoten liegt niemals auf dem Schnitt, sondern wird gegebenenfalls am Ende durch Ziehen an den Fadenenden von ihm weggezogen (aus: Rasperini5).

Horizontale Matratzen-Naht

Im Gegensatz zur Einzelknopf-Naht können Matratzen-Nähte deutlich mehr Kraft aufnehmen und deutlich mehr Kraft halten. Sie sind daher immer dann zu favorisieren, wenn Nähte strategisch wichtig sind und diese in der Heilungsphase nicht aufgehen oder sich nicht lockern dürfen. Dies ist insbesondere bei plastischen Deckungen aller Art der Fall, zum Beispiel nach plastischem Kieferhöhlenverschluss, dem plastischen Decken von Alveolen bei antiresorptiv behandelten Patienten sowie nach plastischer Deckung umfangreicher Augmentationen im Zuge von Implantationen.

 

Alle Matratzen-Nähte bestehen grundsätzlich aus vier Einstichen und alle Matratzen-Nähte beginnen grundsätzlich bukkal, damit auch hier die Fadenenden die Zunge während der Heilungsphase nicht unnötig stören.

Die horizontale Matratzen-Naht (Video 3-4) heißt deswegen so, weil die vier Einstiche in horizontaler Ebene angeordnet sind (nebeneinander) (Abb. 3-5). Der Abstand zwischen dem zweiten und dritten sowie ersten und vierten Einstich darf nicht zu klein sein, weil sich sonst die Möglichkeiten dieser Naht nicht ausreichend entfalten können.

Video 3-4 Horizontale Matratzen-Naht (aus: Rasperini5).


Abb. 3-5 Horizontale Matratzen-Naht: 4 Einstiche (aus: Rasperini5).

Heute wird zwischen konventioneller und modifizierter horizontaler Matratzen-Naht unterschieden. Die konventionelle horizontale Matratzen-Naht spielt in der modernen Oralchirurgie keine Rolle mehr, weil sie durch ihre Geometrie unnötig breite und bindegewebige Narben hinterlässt. Beim Zuziehen der Naht beim Legen der Knoten werden die Wundränder nicht nur adaptiert, sondern auch etwas aufgeworfen, was zu diesen nicht gewünschten Ergebnissen führt (Abb. 3-6).


Abb. 3-6 Horizontale Matratzen-Naht: häufig unnötig breite Narbe (aus: Rasperini5).

Bei der modernen Modifikation dieser Naht (auch Laurell-Gottlow-Naht genannt) (Video 3-5 und 3-6) wird nach dem vierten Einstich und vor dem ersten Knoten die Nadel durch die Schlaufe zwischen dem zweiten und dritten Einstich hindurchgeführt (Abb. 3-7). Dabei spielt es keine Rolle, von welcher Richtung die Nadel durch die Schlaufe geführt wird. Erst danach werden die Knoten gelegt. Das Ergebnis stimmt dann, wenn die Schlaufe wie die Spitze eines „V“ genau am Knoten zu liegen kommt (Abb. 3-8). Dies erreicht man nur, wenn die Knoten jeweils von bukkal zugezogen werden und nicht von krestal. Das Ganze darf weder wie ein „U“ (die Naht wurde nicht genügend zugezogen) noch wie ein „X“ aussehen (die Knoten wurde nicht von bukkal, sondern von krestal zugezogen). Die beiden Schenkel des „V“ liegen nun über dem Schnitt und drücken die beiden Wundränder nach unten (Abb. 3-8). Dies garantiert eine wirklich schmale und strichförmige Narbe.

Video 3-5 Modifizierte horizontale Matratzen-Naht (aus: Rasperini5).

Video 3-6 Modifizierte horizontale Matratzen-Naht.


Abb. 3-7 Modifizierte horizontale Matratzen-Naht: Die Nadel wird vor dem Knoten durch die Schlaufe geführt (aus: Rasperini5).


Abb. 3-8 Modifizierte horizontale Matratzen-Naht: Die Wundränder werden durch die V-förmige Fadenführung perfekt adaptiert (aus: Rasperini5).

Vertikale Matratzen-Naht

Auch die vertikale Matratzen-Naht (Video 3-7 und 3-8) besteht aus vier Einstichen und beginnt ebenfalls immer bukkal. Sie heißt deswegen so, weil die vier Einstiche in vertikaler Ebene angeordnet sind (übereinander) (Abb. 3-9). Sie ist vor allem dann gegenüber einer Einzelknopf-Naht vorzuziehen, wenn im Zuge von Schnittführungen und Aufklappungen Interdentalpapillen im sichtbaren Bereich mobilisiert wurden und sichergestellt werden muss, dass diese am Ende der Wundheilung genau an der gleichen Stelle wieder anwachsen (Abb. 3-10). Eine Einzelknopf-Naht kann dies nicht garantieren, da ein Teil des Fadens über die Papillenspitze läuft und beim Zuziehen der Naht die Papillenspitze etwas nach unten drückt4.

Video 3-7 Vertikale Matratzen-Naht (aus: Rasperini5).

Video 3-8 Vertikale Matratzen-Naht.


Abb. 3-9 Vertikale Matratzen-Naht: 4 Einstiche (aus: Rasperini5).


Abb. 3-10 Situation nach vertikaler Matratzen-Naht nach WSR Regio 36.

Double-Loop-Naht

Auch die Double-Loop-Naht (Video 3-9 und 3-10) besteht aus vier Einstichen und beginnt – aus den gleichen Gründen – ebenfalls bukkal (Abb. 3-11). Sie ist immer dann einer Einzelknopf-Naht vorzuziehen, wenn ein dentogingivaler Verschluss nach marginaler Schnittführung oder eine periimplantäre Weichgewebsadaptation bei Implantation mit transgingivaler Heilung perfekt funktionieren muss. Hervorragend ist sie auch nach operativer Weisheitszahnentfernung1: Die Naht unmittelbar distal des zweiten Molaren muss einen wirklich dichten dentogingivalen Verschluss garantieren, um lebenslang erhöhte Sondierungstiefen in diesem Bereich zu verhindern, die so weit dorsal kaum plaquekontrollierbar sind. Die Double-Loop-Naht adaptiert die mobilisierten Weichgewebe in drei übereinander liegenden Ebenen und garantiert deutlich bessere Ergebnisse als eine Einzelknopf-Naht (Abb. 3-12).

Video 3-9 Double-Loop-Naht (aus: Rasperini5).

Video 3-10 Double-Loop-Naht.


Abb. 3-11 Double-Loop-Naht: 4 Einstiche (aus: Rasperini5).


Abb. 3-12 Fertige Double-Loop-Naht (aus: Rasperini5).

Kreuz-Naht

Auch die Kreuz-Naht (Video 3-11) besteht aus vier Einstichen und beginnt ebenfalls bukkal (Abb. 3-13). Ihre Indikation liegt in der Naht-versorgung von Alveolen nach konventioneller Zahnentfernung (ohne Aufklappung). Die Kreuz-Naht hat zwei Funktionen: Verkleinerung der Wundfläche sowie Stabilisation eines eingebrachten Fremdmaterials, um es vor spontanem Verlust zu schützen (je nach Indikation, Anamnese und Fall: Kollagen, oxygenierte Zellulose [Tabotamp, Ethicon, Norderstedt], nicht resorbierbare Tamponade oder Knochenersatzmaterial)2,3. Im Gegensatz zu einer horizontalen Matratzen-Naht wird die Naht nach dem ersten Einstich von bukkal schräg durch die Alveole nach palatinal und nach einem weiteren Einstich von bukkal erneut schräg durch die Alveole nach palatinal geführt. Der Faden läuft nun wie ein Kreuz suprakrestal über die Alveole. Eine Kreuz-Naht kann man auch erzielen, indem man zunächst von bukkal schräg durch die Alveole nach palatinal und dann horizontal versetzt von palatinal erneut schräg durch die Alveole wieder nach bukkal zurückkommt. Die Geometrie und somit der Effekt der Naht sind am Ende praktisch identisch.

Video 3-11 Kreuz-Naht (aus: Rasperini5).


Abb. 3-13 Kreuz-Naht (aus: Rasperini5).

Literatur

1.AWMF: S2k-Leitlinie Operative Entfernung von Weisheitszähnen. www.awmf.org (Stand August 2019).

2.AWMF: S3-Leitlinie Zahnärztliche Chirurgie unter oraler Antikoagulation/ Thrombozytenaggregationshemmung. www.awmf.org (Stand August 2017).

3.Kämmerer PW, Stein JM (Hrsg.): Blutgerinnung – mit Blutungen richtig umgehen. Wissen kompakt 2019;13:171–219.

 

4.Kumar K, Sharma RK, Tewari S, Narula SC: Use of modified vertical internal mattress suture versus simple loop interrupted suture in modified Widman flap surgery: a randomized clinical study. Quint Int 2019;50:732–740.

5.Rasperini G: The oral surgery suture trainer. Berlin: Quintessenz, 2012. Verfügbar im Apple App Store.

6.Rueppell C, Meier R, Filippi A: Normale und gestörte Wundheilung nach Zahnentfernung. Quintessenz 2016;67:1225–1232.

7.Siervo S: Nahttechniken in der Oralchirurgie. Berlin: Quintessenz, 2007.

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Schnittführungen und Lappentechniken

Fabio Saccardin

Um sich einen adäquaten Zugang zum Operationsgebiet zu verschaffen, werden unterschiedliche Schnittführungen und Lappentechniken praktiziert. Dabei existieren für die meisten oralchirurgischen Eingriffe standardisierte Vorgehensweisen (standard operating procedures), die nachfolgend im Buch detailliert erörtert werden. Allerdings ist die Umsetzung eines solch standarisierten Vorgehens nicht immer möglich, sodass der Zahnarzt über gewisse Grundkenntnisse bezüglich gängiger Schnittführungen und Lappentechniken verfügen sollte, womit sich das vorliegende Kapitel beschäftigt.

Bei der Inzision (=Schnitt) wird das Skalpell wie ein Füllfederhalter gehalten. Um Schleimhaut inklusive Periost zu durchtrennen, braucht es nur sehr wenig Druck. Die Inzision erfolgt senkrecht zur Schleimhautoberfläche, um später eine präzise Adaptation der Wundränder zu ermöglichen, und sollte ausnahmslos auf knöcherner Unterlage erfolgen. Inzisionen, die über einen zu erwartenden Knochendefekt hinweg führen (z. B. bei Zysten), sollten vermieden werden, da diese postoperativ nicht selten zu Wunddehiszenzen führen. Die Länge einer Inzision ist so zu wählen, dass eine ausreichende Übersicht über das Operationsgebiet besteht, ohne dass am Schnittende durch den Hakenzug Weichgewebsrisse entstehen oder durch eine weite Extension anatomisch zu schützende Strukturen, wie Nerven oder Blutgefäße, gefährdet werden. Des Weiteren sollte eine Schnittführung auch intraoperativ erweitert werden können. Gerade Mund-Antrum-Verbindungen (MAV) nach Zahnentfernung im oberen Seitenzahngebiet stellen keine Seltenheit dar und müssen im Zuge der Behandlung plastisch gedeckt werden. Die gewählte Schnittführung sollte zudem weitere chirurgische Eingriffe zu einem späteren Zeitpunkt ermöglichen. Häufige Fehler hierbei sind: horizontale Inzisionen an einer zukünftigen Lappenbasis, wodurch die Lappenvaskularisation negativ beeinträchtigt wird, Verlust der keratinisierten Gingiva oder Verschiebung der mukogingivalen Grenze durch eine plastische Deckung, bei der ein zukünftiges Implantat von beweglicher Mukosa umgeben ist.

Primärinzisionen

Primärinzisionen werden in der Regel im Bereich der Gingiva durchgeführt. Dabei kann die Inzision intrasulkulär, marginal oder paramarginal erfolgen (Abb. 4-1). Nur in Ausnahmefällen sind Primärinzisionen im Bereich der beweglichen Mukosa erforderlich.


Abb. 4-1 Primärinzisionen an der Gingiva und Mukosa: a) intrasulkuläre Inzision, b) marginale Inzision, c) paramarginale Inzision und d) mukosale Inzision.

Die intrasulkuläre Inzision (Abb. 4-2 und 4-3), auch sulkuläre oder intrakrevikuläre Inzision genannt, ist der Goldstandard in der Oralchirurgie und ermöglicht den kompletten Erhalt der marginalen Gingiva. Dabei wird das Skalpell an der jeweiligen Zahnachse ausgerichtet und die Klinge unter ständigem Kontakt mit dem Zahn beziehungsweise der Wurzeloberfläche durch den Sulkus bis auf den Limbus alveolaris geführt. Das Saum- und Sulkusepithel bleibt am Lappenrand erhalten.


Abb. 4-2 Einzeichnung der intrasulkulären Inzision Regio 11 bis 22 bei bevorstehender Sequestrektomie (Zustand nach Frontzahntrauma).


Abb. 4-3 Darstellung des labialen Knochensequesters nach erfolgter Inzision und Mobilisation des Mukoperiostlappens (derselbe Patient wie in Abb. 4-2).

Bei der marginalen Inzision (Abb. 4-4 und 4-5) verläuft der Schnitt senkrecht zur marginalen Gingiva, sodass nach Lappenmobilisation Saum- und Sulkusepithel an der Zahnoberfläche zurückbleiben. Die Lappenränder sind entepithelisiert, was gerade bei plastischen Deckungen relevant ist, da sonst ein Aufeinandertreffen von epithelisierten Wundrändern zu keiner primären Wundheilung führt beziehungsweise das Risiko einer Wunddehiszenz birgt. Werden Nachbarzähne in die Schnittführung miteinbezogen, wird die Inzision girlandenförmig fortgesetzt. Dabei ist zu beachten, dass die Inzision im interdentalen Bereich bis zum Nachbarzahn geführt und von dort aus die Klinge neu angesetzt wird.


Abb. 4-4 Einzeichnung der marginalen Inzision zirkulär um den Zahn 27 bei geplanter Entfernung mit anschließender plastischer Deckung (Zustand nach Radiotherapie).


Abb. 4-5 Nach der marginalen Inzision erfolgte die Entfernung des Zahnes 27 sowie die Bildung eines Trapezlappens für die plastische Deckung (derselbe Patient wie in Abb. 4-4).

Die paramarginale Inzision (Abb. 4-6 und 4-7, Video 4-1), auch submarginale Inzision genannt, verläuft ebenfalls girlandenförmig etwa in der Mitte der keratinisierten Gingiva (attached gingiva). Grundvoraussetzung ist selbstverständlich eine ausreichend breite keratinisierte Gingiva von mindestens 5 mm. Zudem sollte der Schnitt nicht durch eine parodontale Tasche geführt werden. Eine präoperative Erhebung der Sondierungswerte ist daher erforderlich.


Abb. 4-6 Einzeichnung der paramarginalen Inzision labial des Implantats Regio 43


Abb. 4-7 Nach erfolgter Inzision und Präparation des Empfängerbetts für das freie Schleimhauttransplantat (derselbe Patient wie in Abb. 4-6).

Video 4-1 Paramarginale Inzision in Kombination mit einem Spaltlappen.

Bei der krestalen Inzision handelt es sich um eine Schnittführung, die sich in der Regel mittig an einem zahnlosen Areal auf dem Alveolarkamm befindet (Abb. 4-8 und 4-9, Video 4-2). Gerade in der Implantologie ist dieser Schnitt sinnvoll. Erfolgen nach der krestalen Inzision noch zwei weitere vertikalen Entlastungen, um einen Trapezlappen zu bilden, so darf sich die Primärinzision nicht zu weit oral befinden, da sonst ein erhöhtes Risiko einer Wunddehiszenz aufgrund der geringen Lappenvaskularisation besteht.


Abb. 4-8 Einzeichnung der krestalen Inzision Regio 12 bis 22.


Abb. 4-9 Nach Mobilisation des Mukoperiostlappens nach labial und palatinal (dieselbe Patientin wie in Abb. 4-8).

Video 4-2 Krestale Inzision mit intrasulkulärer Entlastung an den Nachbarzähnen.

Die (intra-)mukosale Inzision liegt apikal der mukogingivalen Grenze in Bereich der beweglichen Schleimhaut (Abb. 4-10 und 4-11, Video 4-3). Diese Schnittführung wurde in der Vergangenheit gerade in der zahnerhaltenden Chirurgie bei der Wurzelspitzenresektion oder bei der offenen Freilegung und Anschlingung retinierter Zähne eingesetzt: Winkelschnitt nach Reinmöller, Trapezschnitt modifiziert nach Hauberisser, Bogenschnitt modifiziert nach Partsch oder Pichler waren hierbei üblich. Heute hat die (intra-)mukosale Inzision kaum noch Indikationen, da sie bei ausgedehnten apikalen Pathologien oft über den knöchernen Defekt führt, aber auch durch die höhere Lappenmobilität häufiger Wunddehiszenzen zeigt und zudem unschöne Narbenzüge entstehen.


Abb. 4-10 Einzeichnung der mukosalen Inzision.


Abb. 4-11 Nach Mobilisation des Mukoperiostlappens und Bildung der Sollbruchstellen für die Knochenblockentnahme (derselbe Patient wie in Abb. 4-10).

Video 4-3 Mukosale Inzision retromolar rechts für die Entnahme eines Knochenblocks.

Entlastungsinzisionen

Nach der Primärinzision sind oft Entlastungsinzisionen erforderlich, um eine ausreichende Übersicht über das Operationsgebiet zu erhalten, aber auch, um den Lappen spannungsfrei zu mobilisieren und abhalten zu können. Dies kann in horizontaler oder vertikaler Richtung erfolgen.

Bei der horizontalen Entlastunginzision (Abb. 4-12 und 4-13) handelt es sich lediglich um eine Fortsetzung der bereits durchgeführten Primärinzision am Gingivarand in mesialer und/oder distaler Richtung. Eine laterale Erweiterung um mehr als zwei Nachbarzähne ist in der Regel nicht erforderlich. Der Vorteil dieser Entlastunginzision ist, dass dabei auf eine vertikale Entlastung verzichtet werden kann und somit apikal liegende anatomische Strukturen, wie Nerven und Blutgefäße, geschont werden.


Abb. 4-12 Nach Einzeichnung der intrasulkulär verlaufenden horizontalen Entlastungsinzision palatinal Regio 14 bis 24 bei einer Zystektomie.


Abb. 4-13 Nach Präparation des Mukoperiostlappens und Darstellung des Zystenbalgs (derselbe Patient wie in Abb. 4-12).

Bei der vertikalen Entlastungsinzision (Abb. 4-14 und 4-15) erfolgt der Schnitt von apikal, in der Regel im Bereich des Nachbarzahnes, nach mesial und/oder distal der Primärinzision (Dreieckslappen und Trapezlappen). Innerhalb der befestigen Gingiva wird die Inzision allerdings abgewinkelt, sodass diese rechtwinklig zur marginalen Gingiva verläuft. Wird dies nicht berücksichtigt, entstehen spitz zulaufende Lappenränder und postoperativ ggf. unschöne Einziehungen am Gingivarand. Um das Risiko einer postoperativen Rezession zu minimieren, endet die Entlastungsinzision im mesialen oder distalen Drittel des Gingivarandes eines Zahnes und nie median beziehungsweise am tiefsten Punkt des Gingivarandes oder gar interdental durch die Papille. Ist im Rahmen eines parodontalchirurgischen Eingriffs ein apikaler oder koronaler Verschiebelappen geplant, so kann die vertikale Entlastunginzision auch c-förmig gestaltet werden, mit dem Vorteil, dass der Lappen später einfacher und vor allem spannungsfrei adaptiert werden kann. Im Allgemeinen besteht der große Vorteil einer vertikalen Entlastungsinzision gegenüber der horizontalen darin, dass die Ausweitung des operativen Zugangs lokal begrenzt ist.


Abb. 4-14 Nach Einzeichnung der intrasulkulären Inzision ausgehend vom distalen Drittel des Zahnes 11 bis zum distalen Drittel des Zahnes 22 mit vertikaler Entlastungsinzision (apikal Regio 21 sind Narbenzüge von einer vergangenen mukosalen Inzision erkennbar, Zustand nach Wurzelspitzenresektion).


Abb. 4-15 Nach Mobilisation des Mukoperiostlappens und Defektdarstellung für die bevorstehende Revision der retrograden Wurzelkanalfüllung inklusive Nachresektion der Wurzelspitze 21 (derselbe Patient wie in Abb. 4-14).

Inzisionen im ästhetischen Bereich

Gerade im ästhetischen Bereich bei Patienten mit hoher Lachlinie sind Rezessionen und unschöne Narbenzüge an der Gingiva, die auf eine falsche Schnittführung zurückzuführen sind, unverzeihlich. Heute existiert jedoch eine gewisse Vorhersagbarkeit, welche Schnittführung welches postoperative Rezessionsrisiko birgt. Die intrasulkuläre Inzision (Abb. 4-16) zeigt nach einem Jahr eine durchschnittliche Rezession von 0,42 mm, die paramarginale Inzision (Abb. 4-17) lediglich 0,05 mm. Bei der Papillenbasisinzision (Abb. 4-18) konnten innerhalb eines Jahres keine Rezessionen beobachtet werden3. Im Allgemeinen sind Veränderungen am Parodont durch die Schnittführung vor allem im ersten Jahr zu erwarten, danach verhält sich die parodontale Situation über einen Beobachtungszeitraum von fünf Jahren stabil4. Auch wenn nach paramarginaler Inzision seltener und diskretere Rezessionen auftreten, hinterlässt diese Schnittführung häufig unschöne Narben, die beim Lachen exponiert werden können. Daher ist im ästhetischen Bereich die Papillenbasisinzision zu bevorzugen.


Abb. 4-16 Intrasulkuläre Primärinzision mit vertikaler Entlastung bei einem Dreieckslappen.


Abb. 4-17 Paramarginale Primärinzision mit vertikaler Entlastung bei einem Dreieckslappen.


Abb. 4-18 Papillenbasisinzision als Primärinzision mit vertikaler Entlastung bei einem Dreieckslappen.

Neben der Schnittführung spielen aber auch der Druck bei der Lappenmobilisation durch das Raspatorium auf den marginalen Knochen, die Expositionszeit des Knochens (45 bis 90 Minuten) sowie die Dehydration des Lappens eine maßgebende Rolle1,2.

Abszessinzisionen

Submuköse Abszesse durch akute Exazerbation einer Infektion müssen im Rahmen der Notfallbehandlung inzidiert und drainiert werden. Lokalisation und Richtungsverlauf der Inzision müssen hierbei gut überlegt werden, sodass nach Abklingen der akuten Infektion an der Inzisionsstelle noch weitere oralchirurgische Eingriffe mit Lappenbildung möglich sind. Daher sind horizontale Inzisionen an der künftigen Lappenbasis zu vermeiden, da diese die Lappenvaskularisation negativ beeinflussen.

Primär sollten vestibuläre submuköse Abszesse im Oberkiefer eher über eine vertikale Inzision im Bereich der künftigen Schnittführung eines Lappens und palatinal über eine intrasulkuläre Inzision eröffnet werden (Abb. 4-19 und 4-20). Befindet sich die Inzisionsstelle nicht unmittelbar am Abszess, muss stumpf ein Zugang mit dem Raspatorium unter stetigem Knochenkontakt bis zum Abszess hin präpariert und dieser gespreizt werden. Allerdings sind palatinale Abszesse häufiger median gelegen und durch die Wölbung des Palatum durum für eine stumpfe Präparation schlecht zugänglich, sodass in diesen Fällen (para-)marginale Inzisionen oder solche am Punctum maximum zulässig sind (Abb. 4-21). Dabei muss der Verlauf der Arteria palatina berücksichtigt werden. Zur Not kann die künftige Inzisionsstelle mit einer Kanüle punktiert werden, um eine mögliche Überkreuzung der Inzision mit der Arteria palatina auszuschließen.


Abb. 4-19 Submuköser Abszess (hier blau markiert) ausgehend vom Zahn 22 mit Einzeichnung der vertikalen Inzision im Bereich der künftigen Schnittführung bei Lappenbildung.


Abb. 4-20 Einzeichnung der intrasulkulären Abszessinzision bei einem palatinal befindlichen submukösen Abszess (hier blau markiert) ausgehend vom Zahn 28.


Abb. 4-21 In Ausnahmefällen kann ein schlecht zugänglicher Abszess im palatinalen Bereich (hier blau markiert) durch eine marginale Inzision oder am Punctum maximum unter Berücksichtigung der Arteria palatina eröffnet werden.

Im Unterkiefer sind generell intrasulkuläre Inzisionen zu bevorzugen, um Blutgefäße und Nerven im Bereich des Foramen mentale sowie des Mundbodens, ebenso wie die mimische Muskulatur am Mentum zu schonen (Abb. 4-22). Auch hier wird der Abszess letztlich durch eine stumpfe Präparation mit dem Raspatorium via intrasulkuläre Inzision eröffnet (Abb. 4-22).


Abb. 4-22 Paramandibulärer Abszess (hier blau markiert) ausgehend vom Zahn 36 mit Einzeichnung der intrasulkulären Inzision.

Nach Eröffnung und Spreizung des Abszesses wird das Innere mit einem Antiseptikum gespült, bis ein klarer Rückfluss sichtbar ist. Im Anschluss erfolgt die Insertion einer Drainage. Hierbei können Silikonröhrchen mit einer Naht fixiert oder jodoformhaltige/vaselinierte Baumwollstreifen inseriert werden, um einen postoperativen Pusabfluss zu gewährleisten. Nach der Inzision muss ein odontogener Fokus zeitnah therapiert werden. Bei submukösen Abszessen mit Ausbreitungstendenz (ausgeprägte extraorale Schwellung, reduzierte Kieferöffnung, Druckschmerz am Kieferwinkel oder Augenwinkel, reduzierter Allgemeinzustand, Schluckbeschwerden oder Fieber) oder bei allgemeinmedizinischer Indikation wird adjuvant eine systemische Antibiotikagabe empfohlen (in der Regel Amoxicillin mit Clavulansäure, bei Penicillinallergie Clindamycin). Die erste Kontrolle sollte am Folgetag stattfinden. Das Prozedere der lokal antiseptischen Maßnahme inklusive Drainagewechsel, falls ein Baumwollstreifen inseriert wurde, wird täglich wiederholt, bis kein Pus mehr austritt.

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