COACHING-PERSPEKTIVEN

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Theoretischer Hintergrund

Reality is nothing but

The sum of all awareness

As you experience here and now.

The ultimate of science thus appears

As Husserl’s unit of phenomenon

And Ehrenfeld’s discovery:

The irreducible phenomenon of all

Awareness, the one he named

And we still call

GESTALT.23

Organismus-Umweltfeld

Das zu ihrer Zeit Neue und Radikale an der Gestalttherapie war ihr Abschied vom Verständnis des Individuums als einer in sich abgeschlossenen Einheit, die »ist«. Stattdessen sprachen Perls und Goodman von einem fortlaufenden Prozess der »Interaktion zwischen dem Organismus und seiner Umwelt«, die sie als Organismus-Umweltfeld bezeichneten:

»Es ist beispielsweise nicht sinnvoll, von einem atmenden Lebewesen zu sprechen, ohne Luft und Sauerstoff als Teil der Definition zu berücksichtigen, oder vom Essen ohne Erwähnung der Nahrung (…) oder vom Reden ohne Kommunikationspartner. Es gibt keine einzige Funktion irgendeines Lebewesens, die ohne Beteiligung von Objekten und Umwelt wirksam wird, ob man die vegetativen Funktionen wie Nahrung oder Sexualität, oder die Wahrnehmungsfunktionen, oder motorische Funktionen, oder Gefühle, oder das Denken selbst im Auge hat. (…) Wir wollen diese Interaktion zwischen Organismus und Umwelt bei jeder Funktion das »Organismus/Umweltfeld« nennen. Und wir sollten daran denken, dass es sich immer um solch ein Interaktionsfeld handelt, auf das wir uns beziehen, nicht auf ein isoliertes Lebewesen (…)«24

Der »Ort«, an dem diese Interaktion stattfindet ist die »Kontaktgrenze«, die allerdings weniger das Innen von einem Außen trennt, sondern eher wie ein »Organ der Bewusstheit«25 zu verstehen ist.

Der von Perls und Goodman verwendete Feldbegriff geht auf Kurt Lewin zurück, der mit »Feld« die Wechselbeziehungen in einem bestimmten soziokulturellen, biologischen oder physischen Wirkungsgefüge bezeichnete.

»Der menschliche Organismus und seine Umwelt haben natürlich nicht nur physische, sondern auch soziale Aspekte. Deshalb müssen wir bei jeder humanwissenschaftlichen Untersuchung (…) von einem Feld sprechen, in dem zumindest soziokulturelle, biologische und physische Faktoren interagieren.«26

Mit Hilfe des Konzepts vom Organismus-Umweltfeld als Metapher für Erfahrung lässt sich beschreiben, wie der Mensch ›am Du zum Ich wird‹, 27 wie sich eine Person zur Umwelt in Beziehung setzt und durch diesen Prozess sich selbst, wer er/sie in diesem Moment ›ist‹, erschafft. Erst durch die Unterscheidung von einem »Ich« zu »Nicht-Ich«, respektive einem »Wir« und »Nicht-Wir« kann das »Ich« erlebt, erfahren und in der Selbstreflexion beschrieben werden.

Interaktionsfeld heißt, dass sich Organismus und Umwelt gegenseitig beeinflussen und diese Funktionen und ihre Wechselwirkungen können, gewissermaßen von außen, untersucht und beschrieben werden.28

Figur-Hintergrund

Den Prozess der jeweiligen Erfahrung ›im Feld‹ und die Dynamik der menschlichen Wahrnehmung, ja die »grundlegende Dynamik unseres Bewusstseins«29 beschreibt das Konzept von Figur und Hintergrund: Vor einem diffusen, formlosen Hintergrund wird eine Figur des Interesses bewusst. Diese Figur

»entspricht einer klaren, lebhaften Wahrnehmung, einem Bild oder einer Einsicht; (…) Die Figur/Hintergrundbildung ist ein dynamischer Prozess, bei dem Notwendigkeiten und Ressourcen des Feldes die dominante Figur fortlaufend mit Interesse, Leuchtstärke und Kraft versorgen. Es ist daher sinnlos, sich mit einem psychologischen Verhalten zu beschäftigen, ohne den soziokulturellen, biologischen und physischen Kontext zu berücksichtigen. Gleichzeitig ist die Figur in besonderer Weise auch psychologischer Natur: Sie besitzt beobachtbare Eigenschaften von Glanz, Klarheit, Einheitlichkeit, Faszination, Anmut, Kraft, Freiheit usw., je nachdem, ob wir es vorwiegend mit Wahrnehmungs-, Gefühls- oder Bewegungskontexten zu tun haben.«30

Das, was als momentan relevant in den Fokus der Aufmerksamkeit kommt, sind Unterschiede im Feld. »Was ständig vorhanden ist, immer gleich bleibt oder indifferent ist«, 31 wird eher nicht zur Figur, oder, um eine Definition von Gregory Bateson zu zitieren, zur Figur wird eine Information, also ein Unterschied, der einen Unterschied macht.32 Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen, eine Figur kann sich klar und deutlich vor einem diffusen Hintergrund abheben, sie kann ihrerseits verschwommen und unklar sein, es können sich mehrere Figuren gleichzeitig anbieten und der Prozess der Figurbildung kann abbrechen und unvollständig bleiben.

Zwischen Hintergrund (all dem, was der Organismus in seinem Umweltfeld wahrnehmen kann) und Figur (dem, was tatsächlich wahrgenommen wird) besteht ein, wie Martina Gremmler-Fuhr es nennt, »sensibles und komplexes Wechselspiel«, 33 in dem sich beide gegenseitig bedingen: Einerseits beeinflussen unsere »Bedürfnisse« (Ideen, Ziele, Impulse, körperliche Empfindungen) unsere Wahrnehmung, andererseits lässt das, was wir wahrnehmen, Bedürfnisse, Ideen, Impulse etc. entstehen. Wird »Hunger« bewusst, geraten Supermärkte oder Restaurants in den Fokus, die ansprechend dekorierte Auslage eines Geschäfts kann appetitanregend wirken.

Ein weiterer zentraler Aspekt des Figur-Hintergrund-Konzepts ist das, was auch als Kontextabhängigkeit der Wahrnehmung beschrieben wird: der Prozess der Bedeutungsbildung. Die Bedeutung einer Figur entsteht durch ihren Hintergrund und kann sich somit verändern. Wie so etwas visuell geschieht, kann man an Kipp-Bildern unmittelbar nachvollziehen, auf denen man z. B. entweder eine alte oder eine junge Frau, einen Eskimo oder ein Gesicht oder, als Antwort auf die Frage »What’s on a man’s mind?« entweder das Profil von Sigmund Freud oder eine nackte Frau sieht. Das Verhalten einer Seminargruppe, die sich Kopien eines Artikels nimmt, der nicht für sie bestimmt ist, kann als unbotmäßig und frech gedeutet werden oder als neugierig und interessiert. Je nach Bedeutung und Bewertung, die dem Verhalten gegeben wird, wird sich der Seminarleiter verhalten, also seine Handlung daran ausrichten. Auslöser für Handlung ist immer die Bedeutung, die dem Wahrgenommenen gegeben wird.34

Gestalt

Den Begriff »Gestalt« verwendet die Gestalttherapie erkenntnistheoretisch für den menschlichen Erfahrungsprozess an sich und bezieht sich dabei auf die Ergebnisse der Gestaltpsychologie und der Gestalt-Theorie.35 Der Gestaltpsychologe Christian von Ehrenfels hatte in einem 1890 erschienenen Text über »Gestaltqualitäten« demonstriert, dass Menschen das, was sie wahrnehmen, zu für sie sinnvollen Einheiten gewissermaßen gruppieren. Wahrgenommen wird nicht, indem die Abfolge oder Ansammlung einzelner Reize oder Elemente einer objektiven Wirklichkeit zerlegt und wieder zusammengesetzt werden, sondern in Ganzheiten. Diese Ganzheiten nannte er »Gestalten.« Kurz gesagt erschaffen wir unsere Wirklichkeit, indem wir Gestalten bilden. Wie wir das tun, beschreiben zum einen der Prozess der Bildung und Auflösung von Figur und Hintergrund und zum anderen der Kontaktzyklus.

Gestalten heben sich von ihrem Umweltfeld ab und sind in sich strukturiert, sie bestehen aus einzelnen Elementen, die durch ihre Beziehung zueinander erst die jeweilige Bedeutung der Gesamt-Gestalt ausmachen. Die »Gestaltqualität« ist die umfassende Bedeutung einer Gestalt und das, was die Bedeutung der einzelnen Teile bestimmt. Am Beispiel der Kippbilder ist es »ein Eskimo« oder »ein Gesicht« woraus sich ergibt, ob eine gebogene Linie »einen Arm« oder »eine Nase« bedeutet.36 Das einzelne Element einer Wahrnehmung oder Erfahrung hat keine Bedeutung »an sich«, sie ergibt sich erst aus dem Gesamt-Gefüge. Und die Struktur einer Gestalt ist prinzipiell dynamisch, die Veränderung eines Elements oder der Beziehung der Elemente untereinander, verändern die Gestalt.

Gestalten sind transponierbar, das heißt sie können wie Melodien von einem Modus in einen anderen verschoben werden und behalten doch ihre Gestaltqualität.

Gleichzeitig sind Gestalten eingebunden in ein Gefüge aus umfassenderen Gestalten, die ihnen wiederum Sinn und Bedeutung verleihen.

Eine Eigenschaft weist über den erkenntnistheoretischen Aspekt von Gestalt hinaus: Gestalten haben eine Tendenz, zur »guten«, abgeschlossenen Gestalt zu werden. Versteht man Gestalt auch als Reaktionsmuster, als Erlebnis und Erfahrung und die daraus entstandenen Überzeugungen und Annahmen des Individuums über sich und die Welt, so beschreibt diese Tendenz einerseits das Streben des Organismus danach, biologisch, physisch und psychisch in ein ›besseres‹, der Situation angemesseneres Gleichgewicht zu kommen. Gleichzeitig besteht das »Quasi-Bedürfnis, das von sich aus zur Erledigung der Sache drängt.«37 Dieses Bedürfnis wird dadurch befriedigt, dass eine Aufgabe erledigt, eine Situation abgeschlossen oder Erfahrungen integriert, also Gestalten geschlossen werden. Bleibt eine Erfahrung unvollendet (plötzlicher Beziehungsabbruch, abgebrochene Berufsausbildung, Ende eines gemeinsamen Erlebnisses ohne Abschied etc.) dann bindet diese »offene Gestalt«, Energie und behindert oder verhindert gar das Entstehen einer aktuellen, auf das Jetzt bezogenen Gestalt. Fritz Perls hat sie später auch als »unfinished business«38 bezeichnet. Offene Gestalten können zudem gewissermaßen erstarren, das heißt, bestimmte Erfahrungen werden entweder verdrängt oder immer wieder re-inszeniert im Bestreben, sie (doch noch) abzuschließen oder in einen größeren Sinnzusammenhang zu stellen, also in eine umfassendere Gestalt zu transformieren.

 

Das Konzept »Gestalt« so verstanden, kann auch veranschaulichen, wie Lernen und menschliches Wachstum geschehen. Demnach heißt Wachsen durch Integration von Erfahrungen (Schließen von Gestalten) offen zu sein für das, was jetzt und als nächstes im Umweltfeld prägnant ist, damit in Kontakt zu gehen und so eine weitere Erfahrung zu machen.

Kontakt und Kontaktzyklus

»Kontakt« umfasst im Rahmen des Gestalt-Ansatzes den Prozess und die Phasen der Gestaltbildung: die Unterscheidung von Organismus und Umweltfeld durch die Grenze Ich/Nicht-Ich, auch Kontaktgrenze genannt. Den Austausch zwischen Organismus und Umwelt an dieser Grenze und die Bildung einer Gestalt durch die Figur-Hintergrund-Auflösung.

Der Kontaktzyklus, oder auch ›Zyklus des Erlebens‹39 beschreibt den Fluss der Wahrnehmung und des Gewahrseins. Ein Reiz wird empfunden, wird dann bewusst wahrgenommen und erkannt/benannt, das Energieniveau steigt und fokussiert auf eine Figur. Der Organismus setzt sich mit der Umwelt auseinander, auf die Entscheidung, wie auf den Reiz reagiert wird, folgt eine Handlung, die den Wahrnehmenden in vollen Kontakt mit dem Wahrgenommenen bringt. Die Kontaktgrenze wird durchlässig, was sowohl den Organismus als auch das Umweltfeld verändert. Anschließend sinkt das Erregungsniveau, der Organismus verarbeitet und gibt dem Geschehen eine Bedeutung, worauf die Aufmerksamkeit von der Figur abgezogen wird und sich damit der Unterschied zwischen Figur und Hintergrund auflöst, das heißt, die Figur wieder mit dem Hintergrund verschmilzt. Der Rückzug der Aufmerksamkeit lässt den Organismus bereit werden für den nächsten Zyklus. Die letzte oder auch erste Phase, die in den meisten Modellen nicht explizit dargestellt wird, ist die Phase zwischen Rückzug und erneuter Erregung durch eine auftauchende Figur. In dieser Phase der ›schöpferischen Indifferenz‹, die meist eher als Punkt bezeichnet wird,

»ist zwar nichts (no thing, nothing-ness), weil noch nichts differenziert ist, aber gleichzeitig auch alles, weil alles noch nicht Differenzierte differenziert werden kann, auf unendlich verschiedene Weise.«40

Perls und Goodmann haben den Kontaktzyklus in vier Phasen unterteilt, das Modell der Cleveland School besteht aus sieben. Zum besseren Verständnis habe ich in einer Grafik (s. Abb. 1) beide Modelle verbunden.


Abb. 1: Der Kontaktzyklus der Gestalttherapie

Wie die anderen Konzepte beschreibt der Zyklus von Kontakt und Rückzug ein komplexes und vielschichtiges Geschehen und nutzt dazu ein vereinfachendes Modell, das nicht mit der erlebten Wirklichkeit verwechselt werden sollte, die

»viel komplexer und unübersichtlicher ist, als ein in vier oder sieben Phasen untergliederter Kontaktzyklus, da sich meist mehrere Kontaktzyklen unterschiedlicher Qualität und Dauer überlagern und aneinanderreihen.«41

Gleichwohl kann das Modell des Kontaktzyklus dabei unterstützen, Erfahrungsprozesse allgemein zu beschreiben und zu reflektieren und das Bewusstsein dafür zu schärfen, wo und wie diese Erfahrungsprozesse gegebenenfalls unterbrochen oder angehalten werden.

Awareness/Achtsamkeit

Voraussetzung und Ausdruck sowohl für das Offensein der Umwelt gegenüber als auch für den Kontaktprozess ist eine Haltung der mehr oder eher weniger gerichteten Aufmerksamkeit auf das, was jetzt ist. Der vietnamesische Mönch Thich Nath Hanh beschreibt Achtsamkeit am Beispiel des Geschirr-Abwaschens:

»Die Tatsache, dass ich hier stehe und diese Schalen abwasche, ist die wunderbare Wirklichkeit. Ich bin ganz ich selbst, folge meinem Atem und bin mir meiner Präsenz, meiner Gedanken und Handlungen völlig bewusst.«42

Im Buddhismus ist Achtsamkeit eine (meditative) Übung. In der Gestalttherapie wird ›awareness‹ sowohl als Ausdruck als auch Quelle der Lebendigkeit verstanden, ein Sich-Einlassen auf den Moment und seine Anforderungen mit dem Gefühl des Verbundenseins und der Freiheit. Dabei schließt dieses Gewahrsein43 sowohl körperliche, geistige als auch emotionale Phänomene ein, deren Auftreten nicht beobachtet, sondern unmittelbar gespürt, erlebt oder gefühlt werden. Achtsamkeit richtet sich nicht nur nach innen, sondern auch nach außen und auf das Dazwischen, sozusagen das »Ich in der Welt« und seinen Dialog mit ihr, wie es auch, weniger poetisch, im Konzept vom Organismus-Umweltfeld beschrieben wird.

Einen weiteren Aspekt des gestalttherapeutischen Verständnisses von Achtsamkeit beschreibt Gary Yontef folgendermaßen:

»Awareness is accompanied by owning, that is, the process of knowing one’s control over, choice of, and responsibility for one’s own behavior and feelings. Without this, the person may be vigilant to experience and life space, but not to what power he or she has and does not have. (…) The person who is aware knows what he does, how he does it, that he has alternatives and that he chooses to be as he is.«44

Die Bewusstheit der gegenwärtigen Situation beinhaltet also auch die Verantwortung für den Umgang mit ihr. Allerdings heißt Verantwortung hier nicht die Zuschreibung einer Pflicht oder Schuld, sondern meint vielmehr die Möglichkeit zu antworten (response-ability) im Sinne einer Ermächtigung. Wir werden später noch sehen, welche Implikationen das für den Coaching-Prozess haben kann.

Am Beginn dieses theoretischen Exkurses stand ein Zitat von Fritz Perls. Zum Abschluss soll hier Laura Perls zu Wort kommen:

»Das Ziel der Gestalttherapie ist das Kontinuum der Bewusstheit, die sich frei entwickelnde Gestaltbildung, in welcher das, was für den Organismus, die Beziehung, die Gruppe oder die Gesellschaft am wichtigsten und interessantesten ist, zur Figur wird, in den Vordergrund rückt, wo es vollständig erlebt und bewältigt (anerkannt, durchgearbeitet, eingeordnet, verändert, abgelegt) werden kann, so dass es dann im Hintergrund verschmilzt (vergessen oder assimiliert und integriert wird) und den Vordergrund für die nächste, bedeutsame Figur freilegt.«45

Der Kontaktzyklus als Struktur für den Coaching-Prozess

Edwin Nevis und die ›Cleveland School‹ des Gestalt Institute of Cleveland haben in ihrer Arbeit mit Organisationen auf die Nützlichkeit des »cycle of experience« als Orientierungsprinzip hingewiesen.46 Dieses Prinzip kann meines Erachtens auch auf Coaching angewandt werden. Ich verwende im Folgenden die Bezeichnung »Kontaktzyklus«, die sich im deutschen Sprachgebrauch etabliert hat, auch wenn damit in den meisten Fällen das siebenphasige Modell gemeint ist, das korrekterweise als Zyklus des Erlebens bezeichnet werden müsste.

Coaching ist eine Form der Prozessberatung. Der Begriff »Prozess« kommt aus dem Lateinischen: procedere heißt »vorwärts schreiten.« Im Falle von Coaching hat dieses Vorwärtsschreiten einen definierten Beginn und für gewöhnlich auch ein definiertes Ende, wobei sich das Ende zumeist darauf bezieht, wann eine vorher vereinbarte Anzahl von Sitzungen absolviert und/oder wann ein bestimmtes Lernziel erreicht ist. Grundsätzlich gilt für Coaching wie für alle Beratungen, dass der Prozess ergebnisoffen ist, auch wenn durch eine Zielvereinbarung zu Beginn diese Offenheit eingeschränkt wird und dem Coaching dadurch ein Fokus gegeben wird.

Jeder Coaching-Prozess besteht aus verschiedenen Phasen, deren Beachtung das gemeinsame Arbeiten von Coach und Coachee erleichtern, wenn man Coaching auch als einen Lernprozess versteht, der vom Coach gewissermaßen choreographiert wird. Eingängig und bildlich leicht nachvollziehbar kann ich dies anhand des Kontaktzyklus tun. Darüber hinaus lässt sich die Beschreibung der einzelnen Phasen sowohl auf den Coaching-Prozess als Ganzen anwenden als auch auf die einzelnen Sitzungen mit Coach und Coachee. Martina Gremmler-Fuhr geht in ihrem Beitrag über die »Grundkonzepte und Modelle der Gestalttherapie« ausführlich auf die Stärken und Schwächen des Kontaktmodells ein47 und weist wiederholt darauf hin, dass es sich bei dem Modell um ein »Konstrukt« handelt. »Dennoch«, fährt sie fort, »scheint die idealtypische Phasenfolge einem als natürlich empfundenen Grundrhythmus zu entsprechen.«48

Deshalb halte ich diesen als »natürlich empfundenen« Rhythmus auch für geeignet, die Struktur eines idealtypischen Coaching-Prozesses darzustellen:

Die Phase der Empfindung, die noch nicht gerichtete Aufmerksamkeit, kann mit dem unverbindlichen Kennenlernen von Coach und Coachee verglichen werden, an dessen Ende die Entscheidung steht, miteinander zu arbeiten. Beim darauf folgenden Zielvereinbarungs- und Auftragsklärungsgespräch mit der Personalentwicklung und/oder der Führungskraft werden Anlass und Ziel des Coachings bewusst gemacht. Durch diese Fokussierung wird zielgerichtete Energie frei. In der daran anschließenden Sitzung, der ersten von Coach und Coachee, wird der Kontrakt, das Arbeitsbündnis, geschlossen und mit der gemeinsamen Arbeit begonnen, im Zyklus beschrieben als Handlung. Die Phase des »Kontakts« beschreibt Martina Gremmler-Fuhr so:

»Sensorisches Bewusstsein und Aktion fließen zusammen, während sich der Organismus mit der Figur befasst. Er assimiliert Objekte aus der Umwelt, nachdem er sie teilweise zerlegt hat, um sie erfassen zu können und das für ihn Brauchbare aussortieren zu können. Organismus und Umwelt werden in diesem Austauschprozess verändert. Kontakt wird in diesem Schritt nicht auf den Sonderfall der Bedürfnisbefriedigung reduziert, sondern bezieht sich auch auf das, was möglich ist (…)«49

Übersetzt in die Sprache des Coaching heißt das, der Coachee »zerlegt« in den folgenden Sitzungen seine Fragestellungen und Probleme mit Hilfe des Coaches in ihre Einzelteile, um sie besser verstehen zu können, sie auf ihren tatsächlichen Problemgehalt zu überprüfen und ihre Bedeutung für sich zu beschreiben. Daraus können Lösungen und Antworten entstehen. Wenn wir den Zyklus des Erlebens als Modell für den ganzen Coachingprozess verwenden, steht die Phase des »Kontakts« für eine ganze Reihe von Coaching-Sitzungen, in denen »am Thema« gearbeitet wird. In der vorletzten oder letzten Sitzung des Prozesses ziehen Coach und Coachee ihr Resümee, sie lösen sich voneinander, und durch die Rückschau erhält der gesamte Prozess noch einmal Bedeutung. Mit dem Evaluations-Treffen, gemeinsam mit der Führungskraft und/oder der Personalvertretung, wird der Coaching-Prozess beendet, der Organismus zieht seine Aufmerksamkeit von der Figur zurück, die Gestalt wird geschlossen.


Abb. 2: Der Kontaktzyklus als Struktur für den Coaching-Prozess

Ein idealtypisch verlaufender Coaching-Prozess berücksichtigt demnach den Umstand, dass es einer Orientierungsphase bedarf, in der zum einen der Fokus (die »Figur«) der Problem- oder Fragestellung herausgearbeitet werden kann und sich der Coachee (der »Organismus«) als abgegrenzter Teil der Organisation (des »Umweltfeldes«) mit dieser Fragestellung, diesem Problem auseinandersetzt und es löst oder beantwortet und diesen Vorgang verarbeitet und integriert. Der Zyklus des Erlebens beschreibt die Phasen, die durchlaufen werden müssen, damit bewusst eine Erfahrung gemacht, abgeschlossen und integriert werden kann. Gestalttherapeuten und Coaches

»(…) sind hier, um den Prozess des Wachstums zu fördern und das menschliche Potenzial zu entfalten. Wir reden nicht von augenblicklicher Freude, von augenblicklicher Wachheit der Sinne, von sofortiger Heilung. Der Prozess des Wachstums ist ein Prozess, der Zeit braucht.«50

Wenn ich auch in den vorherigen Abschnitten wiederholt das »Idealtypische« des Kontaktzyklus als Struktur für ein Coaching herausgehoben habe, möchte ich im Folgenden anhand der einzelnen Phasen darauf eingehen, weshalb es mir sinnvoll erscheint, sich in der Rolle des Prozessverantwortlichen eher am Ideal zu orientieren statt sich (zu) früh an die Anforderungen der (organisationalen) Umwelt anzupassen.51