Briefe aus der Ferne

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• Die Kommerzialisierung und Sexualisierung von Kindern durch Unternehmen sollte strengen ethischen Richtlinien unterworfen werden, die u. a. die Darbietung von Mädchenkörpern zu Werbezwecken unter Zensur stellen.

• Ebenfalls untersucht werden müsste die Psychiatrisierung sozialer Ungleichheit. Derzeit erfinden große Pharmakonzerne und pharmazeutische Unternehmen neue Formen psychischer Störungen und behandeln immer mehr Frauen und Kinder. Die wirtschaftliche Ausbeutung der Not von Frauen durch Pharmaunternehmen sollte als politisches Thema in den Blick genommen werden. In Amerika haben sich zahlreiche Gruppen gegen die Allgegenwart der Psychiatrie in Schulen, gegen die Diagnostizierwut bei Kindern und die schädlichen Wirkungen von Medikamenten gewandt. Die Bildung starker Gemeinschaften, die Arbeit gegen Isolierung und Entfremdung sowie die Stärkung von Erwerbstätigen und Müttern – anstelle ihrer Medikalisierung – ist der gesündere Weg zur Bekämpfung der sogenannten psychischen Epidemien.

• Kostenlose Bildung und Gesundheitsvorsorge für alle Kinder wird nicht nur zu psychischer Gesundheit und zum Glück der zukünftigen Generation beitragen, sondern auch die wirtschaftliche Belastung benachteiligter Eltern mindern. Der Ersatz von Fast Food und Automaten in den Schulen durch kostenlose gesunde Mahlzeiten ist ein Beispiel für eine wichtige Verschiebung der sozialen Wertigkeiten. Die Erhöhung der Mindestlöhne wird sich positiv auf jüngere Arbeiterinnen auswirken. Die Rechte arbeitender Kinder müssen verteidigt werden.

Insgesamt sehe ich ein linkes feministisches Projekt als eine Radikalisierung von familiären Werten, die das politische Gewicht des Kinder­themas heute anerkennt und versteht, dass eine Verknüpfung von ­Kinder- und feministischen Themen keine rein strategische ist, sondern die Basis für eine gute und nachhaltige Gesellschaft bildet, die sich auf Modelle der Gegenseitigkeit und Partnerschaft zwischen Frauen und Männern gründet.

Ich hoffe, eure Partei ist erfolgreich.

Beste Grüße

Abigail Bray

Toni Brinkmann
Bremen, Deutschland

Toni Brinkmann war die letzten sechseinhalb Jahre vor der Rente Referentin im niedersächsischen Frauenministerium mit verschiedenen Arbeitsgebieten. Vorher Jurastudium nach langer Familienphase; dann zunächst Mitarbeiterin an der Bremer und der Münchner Universität mit den Schwerpunkten Strafvollzug, Kriminologie, Jugendrecht und Kinderrechte.

Wie könnte eine linke feministische Bildungspolitik aussehen?

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Feministinnen beklagten, Mädchen in den Schulen würden benachteiligt. Mädchen wurden weniger gefördert, machten seltener Abitur und studierten – wenn überhaupt – überwiegend »weiche« Fächer. Sie heiraten ja doch, hieß es. Inzwischen machen Mädchen durchschnittlich höhere und bessere Abschlüsse als Jungen – und schon wird der Ruf nach besonderer Förderung für Jungen laut. Würde es feministischen Ansprüchen genügen, den Vorsprung zu halten – oder sehen wir auch in diesem gesellschaftlichen Bereich die Notwendigkeit eines radikaleren linken feministischen Denkansatzes?

Ein Blick zurück

Schon 1874 schrieb Eduard Sack, ein engagierter Lehrer, in seinem Pamphlet »Unsere Schulen im Dienste gegen die Freiheit«:

Es ist geschichtlich festgestellt, was vorurtheilslos angesehen, auf der flachen Hand liegt, daß keine herrschende, auf irgend welche Vorrechte sich stützende Partei eine Bildung gutheißen und wollen kann, welche das eigene Denken zum Zweck hat, deren höchster Triumph die weiteste Entwicklung jener großen Fähigkeit ist, deren man zum selbständigen Urtheil und zum Handeln nach dem eigenen Willen bedarf. Niemals hat es eine Priesterschaft gegeben, niemals einen Adel, niemals ein Patrizierthum oder eine Bourgeoisie, niemals eine Gelehrtenkaste, niemals einen Fürsten, die eine solche Bildung gutgeheißen und gewollt hätten. (Sack 1878: 83)

In den 1960er Jahren entwickelte sich eine lebhafte Bildungsdiskussion. Vieles wurde geschrieben, nichts auf Dauer umgesetzt. Der Befreiungs-Pädagoge Paolo Freire bestätigte Sacks Erkenntnis:

Diejenigen, die die Macht in einer Gesellschaft innehaben, bestimmen die Zielsetzungen und Inhalte von Erziehung, und nicht die Philosophen. Darum kann man nicht die Erziehung gegen die Machthaber ausrichten. (Freire 1981: 110)

Seit mindestens 150 Jahren gehen in Deutschland praktisch alle Kinder viele Jahre lang zur Schule. Doch gibt es noch immer sogenannte bildungsferne Schichten, eine tiefe soziale Spaltung der Gesellschaft und rund 4 Mio. Analphabeten. Bis heute blieb trotz aller gegenteiligen Erfahrungen die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit durch staatliche Beschulung lebendig, insbesondere bei Linken.

Wie lange muss die Schule noch versagen, bis wir uns zu fragen beginnen, ob sie nicht entweder das falsche Mittel zur Erreichung sozialer Gerechtigkeit ist oder ganz andere Ziele verfolgt? Bis wir darauf zurückkommen, was Everett Reimer und Ivan Illich in den 1970er Jahren schrieben: dass die Schulpflicht hilft, den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten; dass sie Aufstiegschancen suggeriert und dafür sorgt, dass diejenigen, die in der Schule (und folglich im Leben) nicht erfolgreich sind, sich selbst die Schuld dafür geben, weil sie versagt und ihre Chance nicht genutzt haben? Und begreifen, dass – wie Illich schreibt – die Schulen eine Milderung des subversiven Potenzials bewirken: »bleibt nämlich die Bildung auf Schulen beschränkt, so werden zu ihren höheren Stufen nur diejenigen zugelassen, die man auf den unteren Stufen zur Fügsamkeit erzogen hat« (Illich 1977: 30).

Zwar erhöhten sich in Deutschland seit der 1964 von Picht ausgerufenen Bildungskatastrophe die Abiturientenquoten auf über 30 %, aber die Schere zwischen Arm und Reich ist heute weiter geöffnet als damals. Nach wie vor spiegelt die Staatsschule die hierarchische Pyramide der Gesellschaft und lehrt implizit den »Wert« Hierarchie (Coleman, zit. n. Reimer 1972: 38, Anm. 4). Das Fortkommen der Einzelnen muss stets zu Lasten anderer gehen. Die Anzahl der Plätze in der Pyramidenspitze hängt ja nicht von der Anzahl und Qualität der Schulabschlüsse ab. Wenn alle Abitur machten, würden andere Hürden bzw. Auswahlkriterien erfunden. Schon heute sind ja viele Akademiker und gutausgebildete Menschen gezwungen, im Niedriglohnsektor zu arbeiten, »natürlich« überwiegend Frauen.

Linke propagieren eine immer frühere und intensivere Förderung in Institutionen. Doch die Menschen sind nicht arm, weil sie ungebildet sind, sondern sie bleiben (oft) ungebildet, weil sie arm sind. Wie Uri Bronfenbrenner halte ich es für

sehr wohl möglich, dass für Kinder, die in den elendesten Verhältnissen leben, die bei weitem wirksamste Technik, wesentliches und anhaltendes Wachstum sowohl der IQ-Werte, aber auch anderer, noch wichtigerer Bereiche der Entwicklung zu erreichen, darin besteht, dafür zu sorgen, dass die Familie ärztlich versorgt ist und ausreichende Ernährung hat, dass sie gut untergebracht ist und eine angemessene Arbeit hat (Bronfenbrenner 1982: 130).

Wäre, frage ich mich, die »Verblödung unserer Republik« (Thomas Wieczorek) oder »Meinungsmache« (Albrecht Müller) in diesem Ausmaß möglich, wenn wir nicht alle durch unser Schulsystem indoktriniert worden wären?

Schon Illich wunderte sich:

Dennoch ist es überraschend, wie schwer es dem schulgebildeten Geist fällt zu erkennen, wie unerbittlich Schulen ihre vermeintliche Notwendigkeit und damit zugleich die angebliche Unvermeidbarkeit des Systems eintrichtern, das sie unterstützen. Die Schulen lehren das Kind, das politische System zu akzeptieren, das sein Lehrer repräsentiert, obwohl behauptet wird, der Unterricht sei unpolitisch. (Illich 1972: 34)

Für mich ist danach klar: Von der Staatsschule können sich weder Feministinnen noch Sozialist/innen etwas erhoffen. Vielleicht wäre das anders, wenn wir die Herrschenden wären – doch dass wir es je werden, davor steht die Staatsschule, die die bestehenden Verhältnisse als »Natur« lehrt.

Was also dann?

Feministinnen sind gegen Unterdrückung und Hierarchie – wollen wir denn überhaupt den Aufstieg der einen um den Preis des Abstiegs der anderen oder nicht vielmehr eine möglichst egalitäre Gesellschaft, in der jede und jeder gleich wertgeschätzt wird und sich voll entfalten kann – voll, nicht nur in den staatlich verordneten Schulfächern? Nicht nur die Stellung der Frauen ist desto besser, je egalitärer eine Gesellschaft ist: Alle Bürger/innen – arme wie reiche – sind im Schnitt physisch und psychisch gesünder, glücklicher und engagierter (Wilkinson/Pickett 2009).

Feministinnen schätzen Vielfalt. Deshalb brauchen wir nicht Chancengleichheit, sondern Chancenvielfalt; nicht eine Messlatte für alle, sondern echte Bildung, die nicht messbar ist. Es geht uns nicht um Humanressourcen für die Wirtschaft, sondern um selbstbestimmte Menschen, die fähig sind, Kultur und Gesellschaft zu gestalten. Bildung muss wieder als Selbstzweck begriffen und von der Anhäufung vorgegebenen Wissens unterschieden werden. Nicht immer früheren Drill, sondern mehr Muße (schola bedeutete einst Muße) brauchen die Kinder – wie alle.

Feministinnen wollen eine demokratische Gesellschaft, und das bedeutet für uns, dass wir unsere Lebensumstände im Kleinen wie im Großen selbst gestalten. Um diese Erfahrung zu machen, müssen Kinder so früh wie möglich an dieser Gestaltung beteiligt sein. Das ist nur möglich in demokratischen Kindergärten und Schulen, in denen sie autonom bestimmen können, wann sie was auf welche Weise und mit wem tun und lernen, in denen sie sich ihre Regeln selbst geben und die nicht abgeschlossen vom Leben der Erwachsenen, sondern in ihr Lebensumfeld integriert sind.

 

Feministinnen wollen angesichts des Hungers in der Welt, des drohenden Klimawandels, der ökologischen und der kapitalistischen Krise kürzer arbeiten, weniger und sinnvoller produzieren und konsumieren, dafür mehr gestalten, mehr selbst tun, mehr Muße, mehr Leben ohne Entfremdung. Auf dem Wege dahin können Kinder sich ihren Platz in der Gesellschaft zurückerobern, wenn sie nicht in Institutionen weggesperrt werden.

Feministinnen könnten eine Lernkultur propagieren, wie sie im 19. Jahrhundert in den Arbeiterbildungsvereinen oder heute in demokratischen Schulen oder wo immer Menschen sich gleichberechtigt zusammentun, um zu lernen, gepflegt wurde und wird. Wir wollen die Gesellschaft wieder für die Lernenden – seien sie Kinder oder Erwachsene – öffnen.

In ein nicht-entfremdetes, egalitäres Leben passen selbstverwaltete, kleine Schulen in Nachbarschaften, die vom persönlichen Engagement aller Beteiligten getragen sind. In den Niederlanden sind 70 % der Schulen klein und privat, dabei voll vom Staat finanziert.

Im gelobten Finnland haben von den rund 3180 Gesamtschulen tausend weniger als 50 und ebenfalls tausend zwischen 100 und 300 Schüler/innen. Linke müssen lernen, zwischen Eliteschulen, die ohnehin nicht zu verhindern sind, und selbstorganisierten Nachbarschafts- oder Bürgerschulen zu unterscheiden. Die berechtigte Furcht vor Privatisierung à la Bertelsmann darf uns nicht in die Arme des Staates treiben, in dessen Bildungssystem Bertelsmann längst massiv mitmischt.

»An die Stelle der alten Bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, schreibt Karl Marx. Daraus möchte ich machen: die freie Entwicklung einer und eines jeden »von Anfang an«.

Literatur

Bronfenbrenner, Uri (1982): Wie wirksam ist kompensatorische Erziehung, Frankfurt/M.

Freire, Paolo (1981): Der Lehrer ist Politiker und Künstler, Reinbek.

Illich, Ivan (1977): Schulen helfen nicht, 4. Aufl. Reinbek.

Reimer, Everett (1972): Schafft die Schule ab, Reinbek.

Sack, Eduard (1878): Unsere Schulen im Dienste gegen die Freiheit, 2. Aufl., Braunschweig.

Wilkinson, Richard, u. Kate Pickett (2009): Gleichheit ist Glück, Zweitausendeins.

Christel Buchinger
Gries (Pfalz), Deutschland

Christel Buchinger, Diplom-Biologin, aktiv in der feministischen Bundesfrauenarbeitsgemeinschaft LISA der Partei DIE LINKE, in den Bereichen Feminismus und Mentoring tätig.

Veröffentlichung: Humankapital, ein Plädoyer für die ernsthafte ­Beschäftigung mit einem Phänomen, www.westpfalz-journal.de/Seiten/100politikallgemein­seiten/Buchinger/humankapital.htm.

Fragen an ein linkes feministisches Projekt

Feministinnen oder auch einfach Frauen, die heute in der alten BRD auf Gruppen-, Kreis- oder Landesebene der Partei DIE LINKE Politik machen wollen, sind überrascht über die überall anzutreffende Frauenfeindlichkeit, den offenen Sexismus und Antifeminismus.9 Die Erlebnisse, die wir einander berichten, gleichen sich. Wir erleben eine politische Kultur, die auf Großspurigkeit, Lautstärke und Aggressivität gründet, wir erleben persönliche Anmache, Beleidigungen und Versuche, uns lächerlich zu machen, wir erleben ständiges Übergangenwerden, Unterbrechungen unserer Rede, Abwertungen und das ganze Arsenal von Handlungen und Haltungen, die seit 100 Jahren von Feministinnen angeklagt werden. Die Angriffe sind umso dreister und aggressiver, je mehr es um die Themen Gleichberechtigung, Feminismus, Gender, Quote und allgemein »Frauen­themen« geht. Solche Verhaltensweisen gegenüber Menschen anderer Hautfarbe oder Türken würde sofort den Vorwurf des offenen Rassismus hervorrufen. Gegenüber Frauen ist das alles möglich und wird weithin auch von jenen geduldet, die nicht aktiv an diesem Klima mitwirken.

Nun finden Frauen für diese Verhaltensweisen vielfältige Erklärungen. Sie gelten als Charakterschwächen (»sind halt Machos«), als Ausdruck von Bildungslücken (»er hat es noch nicht verstanden«) und persönlichen Handicaps (»lernresistent« oder drastischer »zu blöd«). Gesehen wird auch, dass sich in einer Partei, in der Mann wegen der Quote an Frauen schlecht vorbeikommt, der Konkurrenzkampf mit all seinen männlichen Schönheiten auch gegen Frauen richtet und oft mit besonderer Wut, denn die Quote wird als Hindernis für das verdiente Fortkommen gesehen.10 Mit der Mutmaßung, solches Verhalten sei insofern interessengeleitet, kommen wir der Wahrheit aber schon nahe. Denn es handelt sich tatsächlich, das ist meine These, um ein Handeln und um Haltungen, die eigenen Gruppeninteressen dienen, wenn auch nicht (nur) denen um Fortkommen innerhalb der Linken.

Um dies zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Eine verbreitete Erklärung für die Zerstörung des Sozialstaats ist die sogenannte »neoliberale Revolution«. Dabei wird unterstellt, der Sozialstaat hätte bis heute überlebt, wenn diese nicht stattgefunden hätte, man müsse also zur Rettung und Wiederherstellung des Sozialstaats nur die Neoliberalen zurückkämpfen. Dies ist der Gründungskonsens der Partei DIE LINKE. Die Krise des Sozialstaats ist aber nicht nur politischer Willkür gezollt, sondern eine objektive Entwicklung.

Aus den sozialen Kämpfen und Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Zwillingsbrüder Sozialismus und fordistischer Sozialstaat11 hervorgegangen – der eine als Ergebnis der russischen und folgenden Revolutionen, der andere als Versuch, Revolutionen zu verhindern. Mit dem fordistischen Wohlfahrtsstaat modernisierte sich der Kapitalismus selbst. Grundlage war ein recht lange tragfähiger Klassenkompromiss zwischen den stärksten Gruppen des Kapitals – Rüstungs-, Metall-, Fahrzeug-, Elektro-, Energie- und Chemieindustrie – und den dort beschäftigten (männlichen) Arbeitern. Dieser Klassenkompromiss wurde Grundlage der Sozialpolitik. An den Löhnen dieser Kerngruppe des Proletariats orientierten sich die Einkommen aller abhängig Beschäftigten – in der Regel mit Abschlägen.

Der Kompromiss war für beide Seiten vorteilhaft. Er versprach durch höhere Löhne, durch die Massenkaufkraft der schnell wachsenden Bevölkerung die Ausweitung der kapitalistischen Konsumgüterproduk­tion. Die Beschäftigten erlebten einen Wohlstand, wie ihn der konkurrierende Sozialismus zu bieten nicht in der Lage war. Der soziale Friede war gesichert. Der Lohn versprach, die Familie zu ernähren, und vergrößerte dadurch die Abhängigkeit vom sicheren Arbeitsplatz.

Die Familie, als Keimzelle des Staates definiert, war ausersehen, Diszi­plinierungs- und Bildungsaufgaben wahrzunehmen, flankiert durch Schule, Kirche und Militär sowie Vereine und Wohlfahrtsorganisationen. Die Familienarbeit wurde den Frauen zugewiesen. Das fordistische Familienmodell sah jene strikte Trennung der Geschlechterrollen vor, wie sie im Westen Deutschlands dem Idealbild der kleinbürgerlichen Kleinfamilie der fünfziger Jahre entsprach. Da die Familienväter die einzige ökonomische Stütze der Familie waren, war die Sicherung der Vollbeschäftigung, der Vollerwerbstätigkeit und der möglichst ununterbrochenen Erwerbsbiografien notwendig. Frauen verdienten allenfalls hinzu, ihre Löhne waren deutlich geringer, die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze und ihre Ausbildung nachrangig, ihre Vollbeschäftigung unerwünscht. Sie übernahmen die Rolle der industriellen Reservearmee nahezu alleine.

Was wir heute an Abbau sozialer Dienste und Sicherheiten erleben, ist die Demontage, die Zerstörung dieses fordistischen Wohlfahrtsstaates, ist die Aufkündigung des Klassenkompromisses durch die Kapitalseite. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die vielleicht wichtigsten:

1. Als Gegenkonzept zum Sozialismus wird der Wohlfahrtsstaat nicht mehr gebraucht. Die entfesselten Finanzmärkte gieren nach Geld, das dem Sozial- oder Wohlfahrtsstaat entzogen wird. Der Wohlfahrtsstaat muss ausgenommen werden, weil in ihm viel Geld gebunden ist, Geld, das auf den Finanzmärkten Zinsen und Zinseszinsen verspricht. Das ist der Hintergrund der Privatisierung von Altersversorgung, Gesundheitswesen, öffentlichem Wohnungseigentum, Bildung, Wasser, Bahn, Post, Telekommunikation, Strom, Gas etc. Die viel diskutierte Umverteilung von unten nach oben hat nur einen Zweck: die oben mit frischem Geld zu versorgen.

2. Aber es gibt auch eine Krise des Sozialstaats. Er erodiert von innen. Die Automation und die Informations- und Kommunikationstechnologien haben menschliche Produktionsarbeit in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in nie da gewesenem Umfang unnötig gemacht. Weil es dem Kapitalismus nicht gelingen kann und er kein Interesse daran hat, die verbleibende Arbeit gleichmäßig zu verteilen, wurde die Massenarbeitslosigkeit ein unlösbares Problem.

3. Die Zahl der Träger des Klassenkompromisses auf Seiten der Arbeit und damit ihr politisches Gewicht in Gestalt der Gewerkschaften sinkt durch die galoppierende Rationalisierung. Die soziale Basis schrumpft. Dies wird dadurch verstärkt, dass sich die Tätigkeiten der Menschen aus der unmittelbaren Produktion in die Bereiche der Entwicklung und Steuerung, hin zum Überwachen, Vorbereiten, Planen, Verkaufen, Transportieren … verlagern, in sogenannte Dienstleistungstätigkeiten. Viele dieser produktionsnahen Dienstleistungen werden »outgesourct«.

4. Des Weiteren empfanden Emanzipationsbestrebungen vor allem von Frauen, aber auch von Jugendlichen, Homosexuellen und Transidenten den fordistischen Wohlfahrtsstaat als Gefängnis und setzten die Überwindung der Unterordnung und der Rollenzuweisungen auf die Tagesordnung. Frauen sind massenhaft auf den Arbeitsmarkt gedrängt. Der gegenwärtige Demografieknick, über den so ausgiebig gejammert wird, ist Ausdruck der Krise des fordistischen Systems, der Überlebtheit der Ernährerfamilie.

5. Die chronische Unterbezahlung der weiblichen Erwerbsarbeit war zwar immer Grund für linke Kritik, aber Linke und Gewerkschaften haben nie Strategien und Kampfkraft für ihre Überwindung entwickelt. So weckt sie neoliberale Begehrlichkeiten. Denn Frauen bringen nicht nur neue und interessante Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale mit auf den Arbeitsmarkt, sondern auch den Gender-Lohnabschlag.

6. Und zuletzt wird die Endlichkeit der Ressourcen und die Energieknappheit das zentrale Moment des Fordismus, den Massenkonsum, in Frage stellen. Der Linken insgesamt fehlt diese Analyse, sie nimmt sie nicht zur Kenntnis, sie ignoriert sie. Und das ist kein Zufall. Wichtige soziale Basis der neuen Partei DIE LINKE (nicht unbedingt der alten PDS), eingebracht vor allem durch die WASG, sind gerade die Träger des fordistischen Klassenkompromisses auf der Seite der Arbeit. Sie hatten Vorteile nicht nur durch ihre höheren Löhne, sondern auch durch die Bequemlichkeiten einer Versorgerehe, die die finanzielle Versorgung zwar ihnen auferlegte, die praktische aber ihren Ehefrauen. Ihr Teil war die finanzielle Unabhängigkeit, der ihrer Frauen die Abhängigkeit. Ihnen wurde eine Machtposition in der Familie zuteil, Grundlage für jene Verachtung, die einige den Frauen entgegenbringen. Sie hatten Freiraum für Engagement in der Gesellschaft, der Politik, dem Verein, denn sie waren von Familienpflichten weitgehend freigestellt. All diese Vorteile wollen sie keinesfalls aufgeben, all diese Vorteile verteidigen sie auch mit ihrem Kampf gegen die Rente mit 67, der sich um Altersarmut von Frauen ja gar nicht kümmert. Jener westdeutsche Aufstand, der sich in der WASG-Gründung manifestierte, fußte auf einem Verarmungsschub der männlichen Arbeiter. Arme Frauen, arme Mütter, arme Witwen haben jahrzehntelang nicht ausgereicht. Erst der in die Hartz-IV-Armut abrutschende, 30 Jahre lang malochende Arbeiter machte ein Gerechtigkeitsproblem sichtbar, nicht die sich zwischen Arbeit, Kindererziehung und Geldmangel aufreibende, schon immer arme alleinerziehende Frau.

Das Festhalten der Partei DIE LINKE an der Verteidigung des fordistischen Klassenkompromisses, das Festhalten an der Nicht-Analyse, die Verweigerung einer Strategie, die sowohl den Neoliberalismus als auch den alten Wohlfahrtsstaat überwindet, bietet jenen Kräften eine Basis, die in den Gruppen, im Kreisverband und im Land ihren alten »Herr-im-Hause-Standpunkt« vertreten, den ihnen der alte Wohlfahrtsstaat zubilligte. Dieser »Herr-im-Hause-Standpunkt« gebiert immer wieder neu antiemanzipatorische Positionen und Verhaltensweisen. Er ist Emanzipation insgesamt abgeneigt. Er ist der Schöpfer aller autoritären Wege der Arbeiterbewegung seit ihrem Bestehen.12

 

Das Festhalten am fordistischen Klassenkompromiss, den die Kapitalseite längst aufgekündigt hat und den auch die eigene Ehefrau kritisiert, erklärt auch die Gleichgültigkeit gegenüber den schlechten Ergebnissen der Partei DIE LINKE bei den Wählerinnen. Es erklärt, warum bei allen Programmentwürfen mit Mühe und Not noch die feministische Petersilie untergebracht werden kann, aber eine durchgehende Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse in der Programmatik nicht nur nicht verstanden, sondern eben auch abgelehnt wird. Es erklärt, warum das Erziehungsgehalt, das Christa Müller in die Diskussion brachte, als sozialer Fortschritt gesehen werden kann, aber der emanzipatorische Rückschritt nicht. Es erklärt, warum dies auch von Oskar Lafontaine so gesehen wird. Sein Populismus ist Interessenvertretung. Insofern haben wir es mit einer Linken zu tun, die, wenn sie nicht lernt, feministisch zu werden, nicht links wird.