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Aus der Reihe: Fuldaer Hochschulschriften #54
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Bischof Heinrich Mussinghoff, Aachen

Eine differenzierte Analyse der Situation bietet der Aachener Bischof Heinrich Mussinghoff in den „Leitlinien der Pastoral in den Gemeinschaften der Gemeinden des Bistums Aachen“.10 Er entwickelt einen dynamischen Begriff von Pastoral als beständig neues Kirche-Werden (Pastoral und Ekklesiogenese in den Grundvollzügen von Kirche) und einen weiten, weil differenzierten und damit missionarischen Begriff von „Gemeinde“. Mussinghoff spricht von Pastoral im Plural: Neben „Gemeinde“ treten pastorale Sachgebiete und Einrichtungen. Hier ist zu bedauern, dass in dieser Formulierung von „Gemeinde“ die bis dahin weite Sicht von Gemeinde gegenüber einer klassischen Pfarrei-Perspektive nicht mehr durchgehalten wird. Zentrale Kategorie der Pastoral sei die Begegnung mit Gott und untereinander. Der Aachener Bischof erinnert an das gemeinsame Priestertum der Gläubigen mit Anteil am Heiligen, Lehren und Leiten und das Priestertum des Dienstes sowie an das Verständnis der Kirche als Grundsakrament (Zeichen und Werkzeug) für die Welt.11 Er entwickelt den zentralen Begriff der „Weggemeinschaft“ zur Deutung kirchlichen Tuns. Missionarische Pastoral sei eine Tautologie, recht verstanden sei jede Pastoral missionarisch und die Kirche kein Selbstzweck. Im Folgenden entfaltet Mussinghoff seine Pastoraltheologie. Den Ungleichzeitigkeiten der Situation sei es geschuldet, dass es kein einheitliches Pastoralkonzept gebe. Kategoriale Seelsorge versteht er als Seismograf für Veränderungen in der Gesellschaft mit Rückwirkung auf die gesamte Pastoral. Er votiert für eine recht verstandene kirchliche Dienstleistungsorientierung. Es gehe darum, die Kräfte zu bündeln, sinnvolle Aufgabenteilung zu versuchen und das je spezifische Profil zu schärfen. Sozialraum- und lebensweltorientiert müsse heutige Pastoral sein und nicht-katholische Kooperationspartner (Ökumene, Stadtteilkonferenzen und Bürgerinitiativen) in den Blick nehmen. Der Bischof schlägt vor, zu diesem Zweck Kundschafterrollen für „religiöse Suche“ und für „soziale Not“ zu schaffen und zu besetzen.

Der Bischof von Aachen kann sich in Zukunft unterschiedliche Modelle von Leitung vorstellen, die jedoch allesamt geistlich akzentuiert sein sollen: Neben die „klassischen“ Modelle (can. 519/524: Ein Pfarrer als Leiter der Pfarrei, can. 526: Ein Pfarrer als Leiter mehrerer Pfarreien) tritt can. 517 §1 (gemeinschaftliche Leitung durch Priester) und §2 (Gemeinschaft von Personen auf Zeit zur Teilhabe an der Wahrnehmung der Pastoral, Modell Poitiers) als Gemeindeleitung im Team. Mussinghoff zitiert abschließend Bonhoeffer: „Wir sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen […]. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.“12

Bischof Dr. Gerhard Feige, Magdeburg

Unter dem Motto „Winterdienst oder Frühjahrsputz?“13 beleuchtet der Magdeburger Bischof Gerhard Feige Herausforderungen und Chancen der Gemeinden in gesellschaftlichen und kirchlichen Umbrüchen. Aus der Sicht eines ostdeutschen Bistums in radikaler Diasporasituation konstatiert Feige einen fundamentalen Gestaltwandel der Kirche. Personelle und finanzielle Ressourcen nehmen ab. Angesichts dieser Situation kann es nicht mehr nur um die Versorgung der bestehenden Gemeinden gehen, nicht darum, wie bisher, „den Laden am Laufen zu halten“. Für den Magdeburger Bischof bedeutet „Winterdienst“ eine gemeinsame Vergewisserung: Welche Nahrung brauchen die Menschen? Was stärkt, was macht Mut und Hoffnung? Zum „Frühjahrsputz“ gehört für ihn die Wahrnehmung eines zunehmenden Hungers nach geistlicher Tiefe. Neue Beauftragungen und Dienste entstünden oft gerade an den Orten, an denen es keine Hauptamtlichen mehr gibt. Kirchliche Einrichtungen erhalten größere Bedeutung, zu biografischen Anlässen wird nach Lebensbegleitung durch die Kirche gesucht. Es sei daher unter anderem Aufgabe der Kirche, ihre Haltung und Einstellung zu Menschen mit „gebrochenen Biografien“ zu überprüfen.

Feige schließt seinen Beitrag mit der Ermutigung, „auf Gottes Verheißung hin unsere Besitzstände aus der Hand zu geben und seine Gegenwart unter ganz neuen Formen zu entdecken. Hier in diesem Land, unter diesen Menschen, sind wir so als Kirche gefragt.“

Bischof Dr. Joachim Wanke, Erfurt

Sein Erfurter Mitbruder Joachim Wanke hat am 30. 1. 2010 in einem Vortrag in der Katholischen Akademie in Berlin einen „Versuch der Verständigung über notwendige gemeinsame Schritte“ gemacht.14 Für Wanke ist entscheidend, dass der österliche Mehrwert, den der Gottesglaube schenkt, in den Blick kommen muss. Der Erfurter Bischof plädiert dafür, Veränderungen in Kirche und Gesellschaft wahrzunehmen („sehende“, „hörende Kirche“), das Evangelium neu in den Blick zu nehmen und in seinem Anspruch und seinem Zuspruch tiefer zu verstehen („urteilen“). Dazu muss alles auf den Prüfstand, was im Leben der Ortskirchen eine säkulare Eigendynamik entwickelt und sich von der Mitte des Evangeliums entfernt hat. Kirche sei Ferment im Ganzen, nicht Rückzugsort für die Vollkommenen. Weil sie dies unter eschatologischem Vorbehalt in Hoffnung versuche, sei sie „pilgernde Kirche“.

Schließlich sei die Verabredung konkreter, aber verbindlicher Schritte wichtig („handeln“). In diesem Zusammenhang ist es Wanke wichtig, lebensdienliche Kirche zu bleiben und noch mehr zu werden („dienende Kirche“). Es brauche eine Pastoral, die gestuft der unterschiedlichen Situation der Menschen Rechnung trägt. Es gebe Sakramente, die vor den Kirchentüren gespendet werden (Hans Urs von Balthasar). Wanke gebraucht das Bild der Veränderung der Aggregatzustände: Tragende Grundkomponenten einer christlich-religiösen Existenz werden sich in einem anderen Aggregatzustand bemerkbar machen und neue Ausdrucksformen ausprägen. Dafür ist es notwendig, das Handeln von Laien in der Kirche zu fördern und zu profilieren, auf kirchliche Leuchttürme zu setzen und insgesamt demütiger zu werden. Der Erfurter Bischof vertraut dem Glaubenssinn des Gottesvolkes zur Bezeugung des Evangeliums und erhofft sich einen Frömmigkeitsstil, der mit den geistigen und intellektuellen Fragestellungen der Zeit korrespondiert.

Bischof Dr. Karl Kardinal Lehmann, Mainz

Anlässlich der Diözesanversammlung des Bistums Mainz am 27. 8. 2011 und beim 20-jährigen Bischofsjubiläum von Bischof Bode am 1. 9. 2011 in Osnabrück hat der Bischof von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, einen Vortrag mit dem Titel „Wohin geht die Kirche?“ gehalten.15 Er kennzeichnet den gesellschaftlichen Pluralismus als unhintergehbare Realität und fordert eine im Glauben begründete Diagnose und Interpretation der Zeichen der Zeit. Lehmann ermutigt „zum Spurenlesen: Nur wenn wir uns tief hineinbeugen in den Staub der Zeit, vermögen wir Spuren des Heils zu unterscheiden von Holz-, Ab- und Irrwegen.“16

Ebenfalls macht der Kardinal Mut zum eigenen Platz und wünscht sich mehr geistigen Wettbewerb: „Warum befragen wir andere nicht mehr nach ihren Konzepten und Lösungen, nach ihrem Menschenbild und Weltverständnis?“17 Schließlich ermutigt er zur konkreten Alternative und zum persönlichen Zeugnis in einem neuen (auch ökumenischen) Miteinander der Christen. Insbesondere die gesellschaftlichen Probleme sind für Lehmann konkrete Herausforderungen (Jugendarbeitslosigkeit, Fragen nach dem Sinn und den Vollzugsweisen menschlicher Sexualität, Umverteilung von Vermögen, Ungerechtigkeit in der Welt …). Es sei wichtig, die Radikalität und Einfachheit des Glaubens und die Leidenschaft für Gott wiederzugewinnen. Gegen Selbstgenügsamkeit gehöre das Über-sich-Hinausgehen zum Wesen der Kirche.

Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, Freiburg

Schließlich kommt der Freiburger Erzbischof und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, mit seinem viel beachteten Referat „Zukunft der Kirche – Kirche für die Zukunft. Plädoyer für eine pilgernde, hörende und dienende Kirche“ auf der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischöfe in Fulda zu Wort.18

Zollitsch begreift die kirchliche Gestalt unter den Begriffen von Pilgerschaft und Aufbruch: „Es gibt kein Reich Gottes, über das wir einfach verfügen könnten. Das Reich Gottes gewinnt Realität im Gang durch die Geschichte und beim Zug in die immer neue Fremde.“19 In diesem Zusammenhang verweist er auf „Fragen und Suchen der Menschen und deren uns fremde Welt als Ort christlicher Sendung.“20 Der Erzbischof plädiert nicht nur im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen dafür, „eine Kirche des Hörens (zu) sein“. Zollitsch wirbt für eine „Theologie des Scheiterns“ und für einen realistischen Blick auf den Menschen. Die Kirche erscheine oft zu sehr als Wissende und zu wenig als Lernende. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz fordert eine konsequente Option für die Menschen. Dialog sei, „die Wahrheit des Anderen aufnehmen und sie vom Anderen hören“21. Zollitsch ist davon überzeugt, dass die Menschen und die Welt der Kirche Entscheidendes zu sagen haben.22 Daher braucht es eine vertrauenswürdige Nähe und verlässliche Verbundenheit zwischen Kirche und Welt.23 Insgesamt benötige die Kirche nicht Reparaturen, sondern eine Verlebendigung des kirchlichen Lebens,24 eine vertiefte Sensibilisierung und neue Wertschätzung des Miteinanders.25 Große Bedeutung misst Zollitsch in diesem Zusammenhang einer offenen und angstfreien Kommunikation bei.

Zusammenfassung

Aus allen bischöflichen Äußerungen spricht die Einsicht in die Herausforderungen der veränderten gesellschaftlichen Situation und in die Notwendigkeit des kirchlichen Wandels. Erneuerung wird zumeist als ein geistlicher Prozess aufgefasst im Sinne des Hörens auf das, was Gott mit den Menschen und der Kirche vorhat, und eines Prozesses der Unterscheidung der Geister.

 

Daher votieren die Bischöfe einerseits dafür, die Situation des Menschen und der Gesellschaft in den Blick zu nehmen, wie sie ist, und sie als theologischen Ort für die Erkenntnis des Evangeliums wertzuschätzen. Andererseits ermutigen die Bischöfe angesichts der Unterschiedlichkeit der Situationen dazu, vor Ort auszuprobieren und in der Pastoral neue Wege zu gehen, was eine Prioritätensetzung und damit den Mut zum Weglassen von Bisherigem erforderlich macht. Theologisch bringen die Bischöfe das „Wofür“ von Kirche, ihren Auftrag und ihre Sendung, dem Evangelium zu dienen und die Gottesfrage wachzuhalten, deutlicher in den Blick, um von daher Strukturen und Praxis der Kirche neu zu entwickeln.

Die Bischöfe nennen verstärkt die Berufung der Getauften und Gefirmten, um dem Zeugnis der Kirche in ihren Gläubigen Gesicht zu verleihen. Es ist den Bischöfen offenbar klar, dass die Kirche der Zukunft eine pluriforme Kirche sein wird, die eine verstärkte diakonische Grundstruktur aufweisen muss. Ebenso deutlich ist, dass Partizipation und Integration erprobt werden müssen und dies zu neuen Modellen von Leitung und Verantwortung und somit zu neuen Formen von „Gemeinde“ führen wird. Dieser Kirche wird eingestiftet sein, dass Glaubende und Nicht-Glaubende voneinander lernen und miteinander handeln können. In allen Beiträgen ist das Bemühen festzustellen, eine Kirche vor Augen zu stellen, die gleichermaßen Weite, Nähe und Tiefe des Glaubens und des kirchlichen Miteinanders in Zeitgenossenschaft mit den Menschen der Gesellschaft realisieren kann.

1 Norbert TRELLE: „Seht her, nun mache ich etwas Neues“: Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit 2011. – http://www.bistumhildesheim.de/bho/dcms/sites/bistum/materialien/ index.html?f_action=show&f_entry_id=1628&f_back_action= (23. 2. 2012).

2 Felix GENN: Ansprache am Tag der Seelsorgerinnen und Seelsorger am 7. 11. 2011 in Münster. – http://kirchensite.de/aktuelles/dokumentationen2011/dokumentiert-vortrag-von-bischof-genn-am-seelsorgertagam-07112011 (23. 2. 2012).

3 Franz-Josef BODE: „Vom Wort des Lebens sprechen wir“. Osnabrück, 2009. – http://www.bistum-osnabrueck.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/kprozess_ hirtenwort_bode.pdf (23. 2. 2012).

4 Hans-Josef BECKER: Die eigene Berufung entdecken und leben. Paderborn, 2010. – http://www.erzbistum-paderborn.de/44-Angebote-Service/228-Downloads/355-Texte-des-Erzbischofs/2551,Texte-und-Ansprachen-von-Erzbischof-Hans-Josef-Becker.html (23. 2. 2012).

5 Ebd., S. 2.

6 Ebd., S. 3.

7 Ebd.

8 Ebd., S. 4.

9 Hans-Josef BECKER: Diözesanes Forum. Paderborn, 2009. – http://www.erzbistum-paderborn.de/medien/10639/original/355/k1_m10631.pdf (23. 2. 2012)

10 Heinrich MUSSINGHOFF: Leitlinien der Pastoral in den Gemeinschaften der Gemeinden des Bistums Aachen. – http://pastoralentwicklung.kibac.de/seiten/downloads?view=detail&id=a65806f1-3ee7-4a64-b2c8-9870c4cb4098 (23. 2. 2012).

11 Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Nr. 10.

12 Dietrich BONHOEFFER: Gedanken zum Tauftag von D. W. R. Mai 1944. In: DERS.: Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft / Eberhard BETHGE (Hrsg.). Berlin: Aschendorff, 1977, S. 321–322.

13 Gerhard FEIGE: „Winterdienst oder Frühjahrsputz?“: Herausforderungen und Chancen der Gemeinden in gesellschaftlichen und kirchlichen Umbrüchen. In: DERS. (Hrsg.): Auf ökumenischer Spur. Münster: Evangelische Verlagsanstalt, 2011, S. 325–331.

14 Joachim WANKE: Katholische Kirche in Deutschland – wie geht es weiter?: Versuch einer friedlichen Verständigung über notwendige gemeinsame Schritte. Katholische Akademie Berlin, 30. 1. 2010. – http://www.bistum-erfurt.de/upload/2010/wanke_2010_katholische_Kirche_in_deutschland.pdf (23. 2. 2012).

15 Karl LEHMANN: „Wohin geht die Kirche?“ Mainz, 2011. – http://www.bistummainz.de/bistum/bistum/kardinal/texte/zukunftkirche.html (23. 2. 2012).

16 Ebd., S. 9.

17 Ebd.

18 Robert ZOLLITSCH: Zukunft der Kirche – Kirche für die Zukunft: Plädoyer für eine pilgernde, hörende und dienende Kirche. Fulda, 2010. – http://www.ebfr.de/html/aktuell/aktuell_u.html?&cataktuell=955|957&m=19781&artikel=7643&stichwort_aktuell=&default=true (23. 2. 2012).

19 Ebd., S. 2.

20 Ebd.

21 Ebd., S. 7.

22 Ebd., S. 8.

23 Ebd.

24 Ebd., S. 10.

25 Ebd., S. 13.

Zeichen der Zeit sehen1

Gerhard Stanke

Liebe Schwestern und Brüder,

Sie befassen sich auf Ihrer Tagung mit den Veränderungen in der Landpastoral. Aus einem Vortrag habe ich folgende Fragestellung im Blick auf Veränderungen in Gesellschaft und Kirche mitgenommen, die mich seither begleitet. Der Referent hat zunächst festgestellt, dass wir Entwicklungen gut analysieren können: Welche Faktoren spielen eine Rolle? Wie sind die Veränderungen verlaufen? Wie werden sie wahrscheinlich weiter verlaufen, wenn es keine einschneidenden Umbrüche gibt? Dann wird oft unvermittelt die Frage gestellt: Was müssen wir jetzt tun? Wie müssen wir darauf reagieren? Welche Konzepte müssen wir entwickeln? Davor ist aber – so der Referent − die Frage zu stellen: Was will uns Gott mit diesen Veränderungen sagen? Welche Botschaft von ihm liegt darin? Dahinter steht die Überzeugung, dass Gott durch die konkrete Wirklichkeit zu uns spricht. Die Antwort auf diese Frage liegt natürlich nicht auf der Hand. Sie ist auch nicht leicht zu finden. Aber diese Frage muss uns unterschwellig bei den Überlegungen begleiten in der Hoffnung, dass wir da und dort Elemente einer Antwort entdecken.

Ich meine, es war Max Frisch, der als Ziel seines literarischen Schaffens sinngemäß gesagt hat: Ich möchte eine Frage so stellen, dass der Leser ohne die Antwort nicht leben kann.

Die Frage „Was will uns Gott durch diese Veränderungen, die wir erleben und z. T. erleiden, sagen?“ berührt die Rede von den „Zeichen der Zeit“. Papst Johannes XXIII., dessen Gedenktag wir heute feiern, hat diesen Begriff in seiner Enzyklika „Pacem in terris“ verwendet. Er nennt drei Merkmale, die seine Zeit kennzeichnen: 1) den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg der Arbeiterklasse; 2) die Tatsache, dass, wie er schreibt, „die Frau am öffentlichen Leben teilnimmt …“; 3) das Faktum, „dass die Menschheitsfamilie im sozialen wie im öffentlichen Leben eine völlig neue Gestalt angenommen hat.“ Diskriminierungen wegen Hautfarbe, Rasse, Religion oder Geschlecht werden nicht mehr akzeptiert.

Die Rede von den Zeichen der Zeit kann sich, wie Sie wissen, auch auf ein Wort aus dem Lukasevangelium stützen. Dort heißt es im 12. Kapitel: „Außerdem sagte Jesus zu den Leuten: Sobald ihr im Westen Wolken aufsteigen seht, sagt ihr: Es gibt Regen. Und es kommt so. Und wenn der Südwind weht, dann sagt ihr: Es wird heiß. Und es trifft ein. Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr deuten. Warum könnt ihr dann die Zeichen dieser Zeit nicht deuten? Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?“ (Lk 12,54−57).

Schließlich hat diese Redewendung auch Eingang gefunden in die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“: „Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie mit Hilfe des Evangeliums zu deuten. […] Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen.“ Das Konzil führt dann weiter aus, dass die Kirche der Welt nicht nur etwas zu geben hat, sondern dass sie auch von der Welt vielfältige Hilfen erfährt.

Die Kirche tritt in den Dialog mit der Welt in der Überzeugung, dass sie den Menschen etwas zu sagen hat, was die Menschen von sich aus nicht wissen können. Sie hat ihnen das zu sagen, was uns Jesus von Gott mitgeteilt hat, nicht nur in Worten, sondern in seinen Taten, in seinem Leben, Sterben und Auferstehen. In Jesus hat Gott sein innerstes Wesen gezeigt und seine radikale Liebe zur Welt und zu den Menschen offenbart. So kann sie denen Auskunft geben, die nach Gott und nach dem Weg zum Leben fragen.

Aber sie tritt in diesen Dialog auch mit der Bereitschaft, zu lernen und Hilfe anzunehmen. Der Dialog mit Menschen, die am Rand oder auch außerhalb der Kirche stehen, hat seinen guten Grund und seinen Sinn, denn die Kirche kann dadurch lernen, ihre eigene Botschaft besser zu verstehen. Die verantwortliche Mitarbeit von Laien in der Kirche – vor allem auch von Frauen – verdankt sich auch Impulsen aus der demokratischen Gesellschaft – ebenso wie die Ablösung des hierarchischen Verständnisses der Ehe durch das partnerschaftliche. Papst Benedikt XVI., d. h. der damalige Professor Joseph Ratzinger, schreibt in einem Beitrag zu dieser Thematik, dass die Kirche manches, was sich außerhalb von ihr entwickelt hat, als ihr Eigenes erkannt und rezipiert hat.

Ich glaube, man kann auch sagen, dass Jesus gelernt hat. In Begegnungen mit Menschen außerhalb des Volkes Israel staunt er jedenfalls öfter über den Glauben, den er dort findet und der größer ist als bei den Angehörigen seines Volkes. Vielleicht hat die Begegnung mit der syrophönizischen Frau seinen Blick geweitet für seinen Auftrag. Er ist nämlich nicht nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt (vgl. Mt 15,24), sondern das Wort des Lebens ist auch für die, die nicht zum Volk Israel gehören, bestimmt. Am Ende des Matthäusevangeliums steht jedenfalls der Auftrag, zu allen Völkern zu gehen und ihnen die Botschaft des Evangeliums zu verkünden. Dass Jesus gelernt hat, sagt ausdrücklich der Hebräerbrief: „Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt“ (Hebr 5,8).

Es bleibt die Frage, was Gott uns durch die Veränderungen in Gesellschaft und Kirche sagen will. Sie muss uns bei unseren Überlegungen begleiten. Dass er uns dadurch etwas sagen will, davon bin ich überzeugt. Er will uns etwas sagen, das uns hilft, sein Evangelium besser zu verstehen und dann auch entsprechend zu verkünden und danach zu handeln.

 

1 Die Dokumentation der in Hünfeld gehaltenen Predigt dient dazu, die Notwendigkeit der Wahrnehmung der Zeichen der Zeit und der daraus wachsenden Herausforderungen für neue Entscheidungen biblisch und konziliar zu begründen.