Arbeiten wie noch nie!?

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Weitere einführende Literatur

Altvater, Elmar u. Birgit Mahnkopf (2007): Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, 7. Aufl., Münster

Bofinger, Peter (2010): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissen­schaft von Märkten, 2. Aufl., München

Cordes, Mechthild (1995): Die ungelöste Frauenfrage. Eine Einführung in die feministische Theorie, Frankfurt/M

Füllsack, Manfred (2009): Arbeit, Wien

Gruber, Sabine (2009): ArbeitFairTeilen – eine Einführung. In: Stephan Krull, Mohssen Massarrat, Margarete Steinrücke (Hg.): Schritte aus der Krise. Arbeitszeitverkürzung, Mindestlohn, Grundeinkommen: Drei Projekte, die zusammengehören, Hamburg, 27– 42

Harvey, David (2007): Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich

ders. (2010): Marx’ »Kapital« lesen. Ein Begleiter für Fortgeschrittene und Einsteiger, Hamburg

Haug, Frigga (2003): Historisch kritisches Wörterbuch des Feminismus, Bd. 1, Hamburg

Hinterberger, Fritz, Harald Hutter, Ines Ohmann et al. (Hg.; 2009): Welches Wachstum ist nachhaltig? Ein Argumentarium, Wien

Kocka, Jürgen u. Claus Offe (Hg.; 2000): Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt/M

Stichwort »Arbeit«, in: HKWM 1

Dr. Bernd Röttger

Jg. 1961, Politikwissenschaftler, diverse Tätigkeiten an Universitäten, gewerkschaftlichen Forschungsinstituten und in der Arbeiter- und Erwachsenenbildung; Mitglied der Argument-Redaktion und der Werkstatt des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus; Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher zu Entwicklung und Regulation des Kapitalismus, zu Theorie und Geschichte der Arbeiterbewegung und zur Gewerkschaftspolitik.

bernd.roettger@ruhr-uni-bochum.de

Wege in die Befreiung der Arbeit
Traditionen, Erfahrungen und Perspektiven aus der ­Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung
Bernd Röttger

»Auch der Hass gegen die Niedrigkeit

Verzerrt die Züge.

Auch der Zorn gegen das Unrecht

Macht die Stimme heiser. Ach, wir

Die wir den Boden bereiten wollen für Freundlichkeit

Konnten selber nicht freundlich sein.«

(Bert Brecht: An die Nachgeborenen)

(Be-)Deutungen: Befreiung der Arbeit

Alltägliche Kämpfe in Gesellschaften, in denen Macht über Menschen ausgeübt wird, entfachen sich an konkreten Missständen. Sie werden zunächst mit dem Ziel geführt, für die untergeordneten Klassen erträgliche Verhältnisse herzustellen – auch in den Arbeitskämpfen: Die Maschinenstürmer im Textilsektor des beginnenden 19. Jahrhunderts rebellierten gegen die ihnen aufoktroyierte Mechanisierung ihres Arbeitsplatzes; Arbeiter zelebrieren inzwischen schon über Jahrhunderte hinweg einen »blauen Montag«, Fehlzeiten am Arbeitsplatz, um der Intensivierung und Disziplinierung ihrer Arbeit zu entgehen; Fabrikbelegschaften sabotierten Ende der 1960er Jahre die halbautomatische Fließfertigung oder schoben »Dienst nach Vorschrift«, nachdem die Taktfrequenzen der Bänder erhöht wurden.

Widerständigkeit folgt zunächst einer »Logik«, die der Historiker Edward P. Thompson im Anschluss an die Brotpreis- und Nahrungsrebellionen des 18. Jahrhunderts als »moralische Ökonomie der Armen« bezeichnet hat. Spontane Proteste werden getragen von Vorstellungen, wie Bedürfnisbefriedigung durch Arbeit organisiert sein sollte. Sie »bewegen sich im Rahmen eines volkstümlichen Konsens darüber, was auf dem Markt, in der Mühle, in der Backstube usf. legitim und was illegitim sei« (1980, 69). Tatsächlich aber ist die »moralische Ökonomie« immer wieder auch von den Herrschenden benutzt worden. Mit der punktuellen Aufnahme ihrer Forderungen wurden Aufstände niedergehalten oder vermieden und so die »alte Ordnung« stabilisiert. Bertolt Brecht war überzeugt, dass das Volk nicht »tümele«, sondern schlicht »realistisch« für seine Interessen kämpfe. Marx sprach von einer im Klassenkampf zur verwirklichenden »politischen Ökonomie der Arbeiterklasse« (MEW 16, 10ff). In seiner Perspektive markieren Kämpfe um erträgliche Verhältnisse innerhalb der bestehenden Ordnung – Marx hatte die Durchsetzung des gesetzlichen Zehnstundentags in England vor Augen – keinen Stillstand in der Bewegung der Rebellion, sondern im Gegenteil eine Episode, die erst weitere emanzipatorische Schritte im Kampf gegen das bestehende System der Arbeit ermögliche. Schließlich böte die »kasernenmäßige Disziplin, die sich zum vollständigen Fabrikregime ausbildet« (MEW 23, 447) keinen Raum zu menschlicher Entwicklung.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die organisierte Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung durch das Nebeneinander von verschiedenen Kampftypen gekennzeichnet: von immer wieder aufbrechenden spontanen Widerständen der lebendigen Arbeit, Kämpfen um erträgliche (tarifliche oder staatliche) Regulation der Arbeit und von Strategien der Überwindung fremdbestimmter Arbeit. Widerständigkeit artikuliert sich also in vielfältigen Formen: als Kämpfe um mehr Selbstbestimmung und Freiräume am Arbeitsplatz, als gewerkschaftliche Kämpfe um das Surplusprodukt, d. h. als Verteilungskämpfe um Geld und Zeit sowie als politische Kämpfe um Aneignung, d. h. die Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln.

Die »moralistische« kann so nicht als bloße Vorgeschichte einer »politischen Ökonomie« der Armen und der Arbeiter missverstanden werden. Dabei scheinen sich spontane Widerstände von Belegschaften oder Teilen von ihnen, die sich gegen unwürdige Arbeit richten, letztlich gegen Arbeit schlechthin zu wenden. Tatsächlich aber ist die Befreiung der Arbeit in der organisierten Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung anders gedacht: Arbeit bezeichnet in dieser Tradition einen für alle Gesellschaften notwendigen »Stoffwechsel mit der Natur«; die »freie Entwicklung der Individualitäten«, so Marx aber auch, setze »die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum« voraus. Nur so könne die »künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen« realisiert werden (Grundrisse, MEW 43, 601). Befreiung meint: Verzicht auf Mehrarbeit, die allein als Profit den Besitzern der Produktionsmittel zukommt. Verzichtet werden kann in einer solchen Perspektive nicht auf eine Produktivität der Arbeit, wie sie in neueren, zumal ökologisch motivierten »Alternativkonzepten« der Arbeit implizit immer wieder aufkeimt.

Nicht nur aber ein erreichtes Niveau der Arbeitsproduktivität bildet die Bedingung ihrer Befreiung. Keineswegs – so Marx weiter – reiche das schlichte Auswechseln des Führungspersonals. Die Stunde der Emanzipation schlage nämlich nicht, wenn sich die Arbeiterklasse zur herrschenden Klasse emporschwingt, sondern »nur, indem es [das Proletariat, B. R.] sich selbst und sein Gegenteil aufhebt« (MEW 2, 38). Die Arbeiterklasse habe als »Totengräber« der Kapitalherrschaft nicht eine neue Klassengesellschaft zu errichten, sondern die Klassengesellschaften zu überwinden. Ziel sind Verhältnisse, in denen sich eine »Assoziation« der Menschen realisiert, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MEW 4, 482). Ein hochgradig anspruchsvolles Unterfangen.

An nur wenigen Stellen hat Marx das angedachte »Reich der Freiheit« ausformuliert. Im berühmten Abschnitt des dritten Bandes des Kapital heißt es, dass dieses genau dann beginne, wenn

»das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse sich erweitern; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer in Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung« (MEW 25, 828).

Befreiung bedeutet nicht Befreiung von jeglicher Arbeit, sondern Befreiung von Herrschafts- und Unterordnungszwängen in der Organisation gesellschaftlich notwendiger Arbeit einerseits und Entfaltung umfassender menschlicher Fähigkeiten andererseits. Nur so ließe sich schließlich auch ein demokratisches Gemeinwesen organisieren. In der Deutschen Ideologie formuliert Marx:

»Sowie nämlich die Arbeit naturwüchsig verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden« (MEW 3, 33).

 

(Strategie-)Probleme: Zyklen von Kämpfen um und Kämpfen gegen Arbeit und die immer wiederkehrenden Krisen des Kapitalismus

Der Weg in eine solche Befreiung der Arbeit ist nicht nur oft verschüttet worden, sondern auch mit Leichen gepflastert. Die Geschichte des Kapitalismus ist (auch) eine Geschichte abgemordeter historischer Hoffnungen. Das Ziel der vollständigen Emanzipation der Arbeit ist entweder gewaltsam unterdrückt (staatliche Repression, Faschismus), kanalisiert, d. h. in Form eines »nur« Lohnkonfliktes mit den Reproduktionserfordernissen des Kapitalismus in Einklang gebracht (fordistische Massenproduktion) oder in Gestalt eines institutionell abgesicherten Klassenkompromisses (im so genannten »keynesianischen Staat«) involviert worden.

Entscheidende Triebkräfte der Veränderung gesellschaftlicher Arbeit und der Kämpfe um sie waren immer wieder »große Krisen« des Kapitalismus. Durch die Krise der 1870er Jahre entfaltete sich ein organisierter Kapitalismus, der den Weg zu einer »verstaatlichten« Arbeiterbewegung (mit entsprechenden »Staatsmythen«) ebnete; die Große Depression der 1930er Jahre brachte in der so genannten Nachkriegsordnung den fordistischen Klassenkompromiss hervor (und damit eine spezifische Einhegung der Kämpfe um Arbeit); die Weltwirtschaftskrise seit 1974/75 bereitete das Terrain für »neoliberale Konterrevolutionen« (Milton Friedman) und bewirkte, dass die eingefahrenen Strategien der »institutionellen« Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung selbst in eine tiefe Krise gerieten. Auch in der »großen Krise« des Kapitalismus seit 2008 deuten sich erneut grundlegende Verschiebungen in den Kämpfen um Arbeit an. Nur: In welche Richtung gehen sie?

»Alles, was auf Erden erfunden wird,

liegt irgendwo schon auf der Lauer.«

(Peter Rühmkorf)

Marx und die Emanzipation der Arbeit

Bekanntlich haben weder Marx noch Engels ›Kochrezepte‹ für die Emanzipation der Arbeit geschrieben; ihnen wurde vielmehr vorgeworfen, dass sie solche Entwürfe für die »Zukunftsgesellschaft« verweigerten (MEW 34, 18). Stattdessen hoben sie hervor, dass »jeder Schritt wirklicher Bewegung« wesentlich wichtiger sei »als ein Dutzend Programme« (MEW 19, 13). Weit davon entfernt »ein neues, vollkommeneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden«, das nur »von außen her« der Gesellschaft »aufzuoktroyieren« sei (MEW 19, 194), konzentrierte sich ihre theoretische Anstrengung darauf, die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft waltenden Entwicklungen aufzudecken, durch die der Kapitalismus selbst seinen »Totengräber« produziert. Die diesen Totengräber verkörpernde Arbeiterbewegung aber habe dann »keine Ideale zu verwirklichen, sondern nur Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen« (MEW 25, 879).

Zunächst herrschte in der sozialistischen Bewegung ein Revolutionsoptimismus, den der französische Regulationstheoretiker Alain Lipietz zu Recht als eine »rationalistische Endzeiterwartung« charakterisiert hat. Die »Gesetze« kapitalistischer Entwicklung, die sich notwendig durchsetzen, schaffen aus sich selbst heraus jene Bedingungen, die für die Überwindung der herrschenden Produktionsweise nötig sind. Marx ließ an einer solchen dialektischen Sicht der Dinge nie einen Zweifel. Die Bedingungen solidarischer Arbeit sollten sich bereits »im Schoße« der alten, unsolidarischen Gesellschaft entwickeln. Der marxsche Grundgedanke, dass »jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger« geht (MEW 12, 3), findet sich auch in seinen Analysen lebendiger Arbeit.

Im Zentrum seines Interesses stand die Kooperation der Arbeiten. Die Zusammenballung der Arbeiter in immer größeren Produktionseinheiten schaffe nicht nur günstigere Verwertungsbedingungen des Kapitals (das ist ihre kapitalistische Formbestimmung): Kooperation erscheint dem Arbeiter hier als »fremde Macht« (MEW 43, 253), die ihm »ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber« tritt (MEW 23, 351). Kooperation in der Arbeit produziert aber zugleich Voraussetzungen für den Zusammenschluss der Arbeitenden im Kampf gegen die Herrschaft des Kapitals, ihre Solidarisierung zur Klasse. Kooperation beschreibt bei Marx eine Praxis, die mit der Veränderung der Umstände in der Verausgabung lebendiger Arbeit gleichzeitig eine Selbstveränderung der Klasse bewirkt. Durch Kooperation »streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen« (MEW 23, 349). Kooperation wird zur Bedingung, in der sich eine vereinzelte und fragmentierte Unterklasse im Prozess kapitalistischer Entwicklung zu einer sozialen Bewegung solidarisiert.

Marx analysierte diese doppelte Bestimmung der Kooperation auch am Beispiel der von Arbeitern selbst gelenkten Produktionsgenossenschaften des 19. Jahrhunderts. In den Kooperativfabriken sah er den praktischen »Beweis, dass der Kapitalist als Funktionär der ­Produktion ebenso überflüssig geworden [ist], wie der Kapitalist selbst […] den Großgrundbesitzer überflüssig findet« (ebd., 400). Ihr großes Verdienst bestehe darin, »praktisch zu zeigen, dass das bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das demokratische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten« (MEW 16, 195). Marx zufolge waren die Kooperativfabriken des 19. Jahrhunderts »als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten«. Sie seien »das erste Durchbrechen der alten Form« (MEW 25, 456). Marx hatte die von Robert Owen seit den 1820er Jahren ausgehende owenistische Bewegung vor Augen. In der »Musterfabrik« einer Wollspinnerei im schottischen New Lanark hatte Owen als Direktor einschneidende Reformen hinsichtlich der Gesundheitsvorsorge, der Arbeitszeitverkürzung, der Kindererziehung und des Verbots von Kinderarbeit durchgesetzt – und gleichzeitig die Produktivität gesteigert. Robert Owen investierte 1825 einen großen Teil seines Privatvermögens in das genossenschaftliche Siedlungsprojekt New Harmony in den USA – und verlor es im Zuge des Scheiterns dieses Projekts. Er inspirierte aber die Genossenschaftsbewegung seit den 1830er Jahren, durch die eine ganze Reihe von genossenschaftlichen Betrieben entstand, die in Eigenregie der Beschäftigten, ohne das Diktat der »Fabrikherren« produzierten. Trotz ihres begrenzten Charakters als Versuche zur Selbsthilfe – und nicht als Ausdruck einer auf die gesamte Gesellschaft wirkungsvollen Umbaustrategie – revidierte Engels seine ursprüngliche Kritik am »Fabrikantensozialismus« Owens (MEW 2, 451ff).

»Ja, mach nur einen Plan

Sei nur ein großes Licht!

Und mach dann noch ’nen zweiten Plan

Geh’n tun sie beide nicht.«

(Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper)

Desillusionierungen, oder: Die erste Krise des marxistischen Denkens

Dass diese »rationalistische Endzeiterwartung«, die aus der dem Kapitalismus innewohnenden Dialektik quasi automatisch begründet sein soll, doch nicht so einfach durch »reale Bewegung« getragen wird, zeigen die Erfahrungen des Scheiterns auch der Genossenschaftsbewegung und die daraus resultierenden Debatten in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Rosa Luxemburg hatte schon in Sozial­reform oder Revolution (1899) hervorgehoben, dass die Produktionsgenossenschaften »die wichtigsten Zweige der kapitalistischen Produktion« nicht berühren, »als allgemeine Reform schon aus dem Grunde nicht erscheinen«. In ihrer Perspektive müssen Alternativen nicht als »Nischen«, sondern als gesamtgesellschaftliche gedacht werden. Franz ­Oppenheimer (1896, 41) hatte kurz vorher für die Arbeiterkooperativen des 19. Jahrhunderts das »eherne Gesetz der Transformation« ­erkannt: Diese müssen sich entweder gegenüber dem sie umgebenden kapitalistischen Markt komplett abschotten, um ihren eigenen ­Ansprüchen genügen zu können – was aber infolge der totalitären Tendenz kapitalistischer Vergesellschaftung nie wirklich realisierbar sei –, oder sie müssen sich anpassen, von hehren Ansprüchen verabschieden bzw. schlicht untergehen.

Weil die Übergänge in Prozesse der Befreiung der Arbeit sich doch nicht so einfach einstellen wollten, wurden auf mehreren Ebenen Korrekturen an ursprünglichen Annahmen und strategischen Orientierungen vorgenommen. Ihren Ursprung fanden sie in einer ersten Krise des Marxismus, die, wie Eric Hobsbawm (1981, 42) gezeigt hat, just in die Zeit fällt, »da sich die Krise des Kapitalismus in eine neue Expansionsphase auflöst (um 1897)«, wo also die Gewissheiten über den Zusammenhang krisenhafter Kapitalentwicklung und Emanzipation zu verdampfen drohten. Im Kern bestanden die »Revisionen« in drei Punkten:

Erstens: in der Einschätzung der Bedeutung ökonomischer Krisen des Kapitalismus.

Marx hatte in seiner Schrift Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 noch getönt, das bei allgemeiner Prosperität »von einer wirklichen Revolution keine Rede sein [kann] … Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso ­sicher wie diese« (MEW 7, 98). Er musste jedoch bereits 1858 zurückrudern, weil sich die revolutionären Konsequenzen der Krise von 1857 nicht einstellen wollten. Er stellte im berühmten Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie fest, dass »eine Gesellschaftsordnung […] nie unter[geht], bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind […]; und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenz­bedingungen derselben im Schoße der alten selbst ausgebrütet sind« (MEW 13, 9). Und hieß es im Manifest noch, dass die Bourgeoisie durch ihre Form der Krisenüberwindung – Vernichtung von Produktivkräften und Eroberung neuer Märkte – nichts anderes tue, als »allseitigere und gewaltigere Krisen vor[zu]bereiten und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert« (MEW 4, 467f), fallen die späteren Krisenbefunde von Marx und Engels eher ambivalent aus. Die ökonomische Krise wurde zwar als »Zwangsmittel der gesellschaftlichen Umwälzung« (MEW 20, 268) begriffen, nicht aber zwingend in einem emanzipatorischen Sinn. Sind »im Schoße« der alten Gesellschaft die Bedingungen einer revolutionären Umwälzung bereits entfaltet, kann die Krise eine revolutionäre Situation hervorbringen; wenn nicht, wird sie zur Triebkraft, die eine »vorzeitige Erneuerung des Betriebsgeräts auf größrer gesellschaftlicher Stufenleiter« erzwingt (MEW 24, 171) – und so die »Brut« der Emanzipation gedeihen lässt. Vor diesem Hintergrund weist Engels der Arbeiterklasse die Aufgabe zu, »auf jeden Fall eine ­Krise herbeizuführen« (MEW 8, 98f) und steigenden Lohn nicht als In­strument der Krisenüberwindung, sondern als »Sturmvogel einer Krise« (MEW 24, 409) für sich in den Dienst zu stellen: Wenn sie schon keine Revolution erzwingt, dann schafft sie wenigstens günstigere Voraussetzungen, dass sich die nächste Krise zu einer revolutionären Krise entfaltet. Die revolutionäre Endzeiterwartung, die immer wieder durch ökonomische Krisen des Kapitalismus geschürt wurde, hatte sich aber deutlich relativiert. Ohne die »gesellschaftliche Tat« der Arbeiterbewegung erhob sich offensichtlich keine emanzipatorische Perspektive. Was »im Schoße« der kapitalistischen Klassengesellschaft ausgebrütet wird, sind historische Möglichkeiten für alternative Entwicklungen, nicht schon die geschlossenen Bataillone, die sie durchsetzen. Die Bedingungen für emanzipatorische Praxis mussten immer neu erforscht werden. Marx notierte 1888 in einem Brief an Lassalle, dass »die Zeit der Krise« immer und zuvorderst »die der theoretischen Untersuchungen« sei (MEW 28, 612), keine Situation, in der sich notwendig die Frage der Befreiung der Arbeit stellt.

Nichtsdestotrotz hielt sich ein Krisendeutungsmuster in der Arbeiterbewegung, das Krisen mit revolutionären Umwälzungen identifizierte. Eugen Varga, Chefökonom der Kommunistischen Internationale, hat die Krise der 1930er Jahre als Ausdruck einer ganzen »Periode der ständigen Krise« (1969 [1922], 7) oder einer »allgemeinen Krise des Kapitalismus« (1969 [1931], 218) interpretiert. Als die Krise dann 1929 endlich ausbrach, wurde eine neue Runde von Revolutionen erwartet. Die wirkliche Krise mündete in Europa nach wenigen Zwischenetappen (Volksfront in Frankreich) jedoch in ganz anderen Herrschaftsformationen. Antonio Gramsci war wohl der Erste, der die notwendige Schlussfolgerung zog. Gegen den Revolutionsoptimismus in Krisenzeiten behauptete er, dass die unmittelbaren Wirtschaftskrisen »von sich aus« keineswegs »fundamentale Ereignisse hervorbringen«. Aber die Terrains, auf denen die antagonistischen Interessenkonflikte ausgetragen und gelöst werden – daran ließ Gramsci keinen Zweifel –, verändern sich in der Krise und ebnen bestimmten Krisenstrategien und -lösungen den Weg (H. 13, § 17, 1563). Ein erster »Meilenstein« für die Erforschung von Handlungskorridoren in der kapitalistischen Entwicklung.

 
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