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Bisherige Krisenbewältigungsversuche

Die bisherigen Krisenbewältigungsversuche ergeben sich aus den oben vorgestellten normativen und kritischen Denkschulen. Marx und Engels erarbeiten eine Kritik der Politischen Ökonomie. Eine Chance, die Entfremdung aufgrund profitorientierter anonymer Austauschprozesse aufzuheben, sehen sie in der kommunistischen Perspektive (vgl. dazu u. a. Das Kommunistische Manifest, MEW 4). Für Marx und Engels und spätere Marxisten ist die Abschaffung des privaten Eigentums an Produktionsmitteln (z. B. Grund und Boden, Gebäude, Maschinen und Werkzeuge) eine Schlüsselfrage. Als Alternative schlagen sie eine gesellschaftliche Planung der Produktion und die Verwaltung der Produktionsmittel als gesellschaftliches Eigentum vor. Statt der Anhäufung des Mehrwerts durch wenige Eigentümer sollen kooperativ gestaltete Entscheidungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten die Aneignung der Produkte entsprechend den Bedürfnissen der Menschen ermöglichen. Weil jeder weiß, für wen er produziert, kann er im Sinne einer bedarfs­orientierten Verteilung der Einkommen mitentscheiden.

Das »Kommunistische Manifest« fiel im leidgeplagten Russland auf politisch fruchtbaren Boden. Nach der Oktoberrevolution 1917 begannen die Bolschewiki mit dem Aufbau des Sozialismus in einem noch zaristisch-feudal geprägten Land. Aus heutiger Erfahrung wissen wir, dass die Kernideen zwar realisiert, kein Eigentum an Produktionsmitteln herrschte, die gemeinschaftliche Verwaltung in der Praxis aber nicht verwirklicht wurde. So scheiterte der Sozialismus u. a. am Mangel an Demokratie. Mit den diktatorischen und blutigen Auswüchsen des Stalinismus wurden auch die Hoffnungen, die vom Ideal der klassenlosen Gesellschaft ausgingen, weitgehend zerschlagen.

1989 zerfiel der Ostblock, und mit der Wende »öffneten« sich die Länder für das anscheinend bessere System, den Kapitalismus in Kombination mit parlamentarischer Demokratie6. Diesen Weg waren inzwischen die meisten westlichen Länder gegangen (allerdings ebenfalls unterbrochen von einer Diktatur, der des Nationalsozialismus). Bestätigt fühlte man sich von der rascheren Modernisierung und dem materiellen Wohlstand, weswegen es diesen Ländern nicht um die Überwindung des Kapitalismus ging, sondern um seine Verbesserung. Ob dies durch mehr Regulierung oder De-Regulierung zu erzielen sei, darüber gab es nicht nur theoretische Kontroversen. Je nach Machtverhältnissen und historischen Vorraussetzungen setzten sich vom Prinzip her einmal mehr der Staat oder einmal mehr der Markt durch. Im Folgenden gehe ich zuerst auf die Phase der verstärkten staatlichen Regulierungen in der Nachkriegszeit ein (Keynesianismus). Anschließend beleuchte ich die aktuelle Situation mit erneuten De-Regulierungen (Neoliberalismus) und weise in Rückblicken auf das Ende des 19. Jahrhunderts und die Jahrhundertwende auf Parallelen und Unterschiede zur Neoklassik hin.

Symptomdämpfende und krisenverstärkende Mechanismen

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es vielen westlichen Ländern Sozial- und Umweltprobleme zu bremsen oder auszulagern. Eine einflussreiche Theorie liefert dafür John Maynard Keynes (1883 –1946). Er erkennt, dass sich die Mikro-Logik von Haushalten und Unternehmen nicht einfach auf die Makrologik einer Volkswirtschaft, eines Staates oder einer Staatengruppe übertragen lässt. Die neoklassischen Wirtschaftstheorien haben nämlich nie eine eigenständige und schlüssige Makrotheorie entwickelt. Dementsprechend verstärkten sie die Probleme in der Real­wirtschaft mit falschen, nur auf die einzelbetriebliche Profitlogik zielenden Rezepten. In Anbetracht der Massenarbeitslosigkeit der 1930er Jahre setzt Keynes beim Verhältnis von Arbeitslosigkeit und Konsum an. Dabei argumentiert er nicht aus sozialer Motivation, sondern als Ökonom – er unterstreicht die Bedeutung zahlungskräftiger Lohnarbeiter als Konsumenten für die Konjunktur am Gütermarkt. Er räumt ein, dass Unterbeschäftigung eher die Regel als die Ausnahme ist und veröffentlicht in seiner Schrift »Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes« (1936) seine Ideen, wie Volkswirtschaften wieder zu Vollbeschäftigung gelangen können. In seinem nachfrageorientierten, am Konsum ansetzenden Konzept schlägt er vor, mit gezielten Interventionen am Produktmarkt in der Flaute die Konjunkturschwankungen ausgleichen. Damit würden auch Arbeitsplätze erhalten. Die Steuerung funktioniere über eine effektive Nachfrage; die Mittel für die staatlichen Investitionen sollen aus Steuereinnahmen kommen (antizyklische Fiskalpolitik). Als weiteres Problem erachtet er die Zeitverzögerung bei privaten Investitionen, weil die Menschen Spareinlagen zurückhalten. Die Investitionslücke könne ebenfalls durch Sachinvestitionen seitens des Staates geschlossen werden. Als Steuerungsinstrumente kommen eine aktive Zins- und Geldpolitik hinzu, wobei er die Abhängigkeit der Investitionen von den individuellen Renditeerwartungen herausarbeitet. Im Gegensatz zu den Neoklassikern misst er vielfältigen persönlichen Abwägungen und dem psychologischen Moment von Kauf- und Sparentscheidungen eine wichtige Bedeutung bei. Je nach Marktsitua­tion und individuellen Konstellationen werden die Erwartungen eher optimistisch oder pessimistisch eingeschätzt. In den unsicheren Erwartungen sieht er eine weitere Quelle der Instabilität. Ihr soll mit einer ausdifferenzierten Geldpolitik begegnet werden; gleichzeitig erachtet er diese als nicht mehr ausreichend. Für ein international vernetztes Finanzwesen schlägt er bereits im Jahr 1936 eine Globalsteuer vor.

Sich auf Keynes berufend fordern Keynesianer bis heute die Einführung einer globalen Finanztransaktionssteuer, die in der aktuellen Krise wieder thematisiert und verhandelt wird, bis dato aber noch nicht umgesetzt wurde. Andere Empfehlungen wurden sehr wohl realisiert bzw. in die länderspezifischen Politikstile integriert. Unterschiedliche Formen einer aktiven und antizyklischen Steuerpolitik als auch indirekte Subventionen am Gütermarkt spielen in allen kapitalistisch geprägten Ländern eine steuernde Rolle. Ihre Blütezeit erleben sie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 1970er Jahre, wo nicht zuletzt der nötige Wiederaufbau zu einer fast Vollbeschäftigung führte – fast, weil viele Frauen ausgeschlossen blieben und der Anteil an informeller Arbeit in einigen Ländern hoch blieb. Insbesondere in jenen Ländern, die nicht nur staatlich steuernd in die Wirtschaft eingriffen, sondern auch ihre Wohlfahrt stark ausbauten, bildete sich eine breite Mittelschicht, die zu relativ hohem Wohlstand gelangte, bzw. wurden die Ausnahmefälle durch die flankierenden Sozialleistungen aufgefangen. Das gilt in den europäischen Ländern, allen voran Skandinavien, Deutschland, Österreich und Frankreich. Wir sprechen von Sozialer Marktwirtschaft, wobei dazu zu sagen ist, dass sich hier Formen des Laissez-faire-Ordoliberalismus (der sich für einen starken Staat ausspricht, damit er die Abschaffung wettbewerbshemmender Zusammenschlüsse und Seilschaften durchsetzten kann) mit dem Keynesianismus (der sich für einen starken Staat im Sinne einer Regulierung ausspricht) vermischen. Keines der theoretischen Modelle kam also je in reiner Form zur Anwendung. Dennoch kann man sagen, dass es den keynesianisch inspirierten Volkswirtschaften eine Zeit lang gelang, die zyklischen Einbrüche abzufedern. Hinterlassen hat uns diese Wirtschaftspolitik wachsende Umweltprobleme, ungelöste Gleichstellung, steigende Staatsschulden und schwerfällige Verwaltungsapparate. Da Vollbeschäftigung das erklärte Ziel der Politiker war, wurde in Kauf genommen, dass wir auf Kosten der Natur längst mehr produzieren als wir eigentlich brauchen. Das Modell hätte auch dann nicht funktioniert, wenn alle Frauen in den Arbeitsmarkt integriert oder die von ihnen geleistete Reproduktionsarbeit entlohnt worden wäre. Das Lohnmodell der Sozialen Marktwirtschaft definiert männliche Familienernährer und weibliche Zuverdienerinnen. Wenn dem Keynesianismus etwas vorgeworfen wird, dann aber nicht die ungelösten Umwelt- und Sozialprobleme, sondern der wieder stotternde Wirtschaftsmotor trotz steigender Staatsschulden.

Nach dem »Wirtschaftswunder« der Wiederaufbauzeit folgte zwangsläufig ein Abschwung, der den Vertretern der Neoklassik half, sich wieder in den Vordergrund zu spielen – allerdings mit dem Effekt, die Krisenerscheinungen zu beschleunigen. Unter den Neoklassischen Theorien versammelt sich eine Familie von Theorien, die weiterhin das rationale Handeln des homo oeconomicus und die Vollkommenheit des Marktes unterstellen. Typisch ist der allgemeine Paradigmenwechsel von Produktion in der Klassik hin zu Handel in der Neoklassik. Ein Teil beschäftigt sich mit der Weiterentwicklung der Gleichgewichtstheorie (Wegbereiter sind z. B. Léon Walras 1834 –1910 und Alfred Marshall 1842–1924). Ihr Ziel ist es, den optimalen Zustand einer Gesellschaft mit Hilfe mathematischer Schlussfolgerungen herzuleiten. Daraus entstehen Gleichungen, welche die von ihnen anerkannten relevanten Faktoren (wie Preis, Menge, Zeit, Lohn) in ihrem Verhältnis zueinander abbilden und variieren. Da sie davon ausgehen, dass die handelnden Subjekte aus eigenem Interesse das System optimieren wollen, müsse das System automatisch zum Gleichgewicht gelangen. Demzufolge könne es keine »unfreiwillige Arbeitslosigkeit« und Überproduktion geben, höchstens »freiwillige Sucharbeitslosigkeit« und bei Systemstörungen vorübergehend strukturelle Arbeitslose. Es wird angenommen, dass ein Gleichgewicht sich als Effekt der vielen optimierenden Einzelhandlungen rasch wieder ergebe. In der Wettbewerbspraxis bedeutet das aber Preis- und Lohndumping.

Spätere Vertreter der Neoklassik haben zum Ziel, dem Keynesianismus ein eigenständiges makroökonomisches Modell entgegenzustellen und entwickeln den Monetarismus (ihr Hauptproponent ist Milton Friedman, 1912–2006). Demnach pumpe das nachfrageorientierte Modell von Keynes – also der Staat – zu viel Geld in den Umlauf, wodurch Inflation entstehe. In Anschluss an die klassische Quantitätstheorie hänge das Preisniveau von der Geldmenge ab. Daher könnten Wirtschaftsabläufe über Geldmengensteuerung (Kredite, Zinsen) reguliert werden. Diese Rolle kommt seit Mitte der 1970er Jahre den Zentralbanken zu. Ziel ist es, die Geldmengen entsprechend dem Produktionspotenzial stabil wachsen zu lassen, was letztlich auch zu konstant wachsenden Lohneinkommen führen würde. Ebenso wie die Gleichgewichtstheoretiker blenden die Monetaristen relevante Faktoren aus – nichtsdestotrotz strahlten ihre Empfehlungen aufgrund ihrer Machtposition, ihrer Präsenz in den Massenmedien und in der Wissenschaft auf die betriebliche Praxis aus. Staatliche Eingriffe, die über die Gewährleistung von Vertragsfreiheit, Freihandel und Sicherheit hinausgehen, lehnen sie als störend und ineffizient ab; demgegenüber sprechen sie sich für angebotsorientierte Maßnahmen aus, welche die Produktionsbedingungen verbessern sollen. Ihre Politikempfehlungen sind bestimmt von Anreizstrukturen über Geldpolitik sowie De-Regulierungsmaßnahmen und Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen. Seit den 1980er Jahren prägen sie auch in unseren Ländern die Wirtschaftspolitik.

 

Charakteristikum dessen, was wir heute Neoliberalismus nennen, ist insbesondere der Rückgriff auf den klassischen Laissez-faire-Liberalismus, was die Rolle des Staates betrifft. Der Nachtwächterstaat solle das ungestörte Wirken des Marktes sichern und mit der Bereitstellung von Infrastruktur (z. B. Verkehr, Telekommunikation, Energieversorgung, Bildung) ermöglichen bzw. ist man inzwischen dazu übergegangen, auch die öffentlich genutzte Infrastruktur zu »liberalisieren«, also nicht staatlich sondern privatwirtschaftlich zu betreiben. Die Ansicht, dass staatliche Regulierungen stören, mündete in Zeiten globaler Arbeitsteilung beispielsweise in die Erpressung von Steuerfreiheit als Lohn für die Ansiedlung von Produktionsstätten. Die Folge ist nicht der versprochene Trickle-down-Effekt (das langsame Durchsickern des Reichtums nach unten), sondern dass die Gewinne von den Konzernen vollständig abgezogen werden können; zurück bleiben leere Staatskassen und erschöpfte Beschäftigte. Die globale Wertschöpfungskette ist eine zu Gunsten der Kapital-Eigentümer.

In den mittlerweile stark globalisierten Vernetzungen liegen die Radikalisierung der Wachstumsschübe und Risikopotenziale des Neoliberalismus. Trotzdem bleibt der Einfluss der neoklassischen Theorien auf die Wirtschaftspolitik und die Realwirtschaft bis heute dominant, auch wenn Marxisten und jüngere Strömungen gegen die Neoklassik anschreiben und versuchen die blinden Flecken aufzuzeigen – z. B. unbezahlte Reproduktionsarbeit und herrschaftliche Geschlechterverhältnisse (Feminismus), globale Arbeitsteilung und hierarchische Machtverhältnisse (Globalisierungskritik; Regulationstheorie) oder Raubbau und wachsende Umweltprobleme (Nachhaltigkeitsforschung, Umweltaktivismus) – oder wenn sich die Politiker in der akuten Krise teilweise wieder auf Keynes rückbesinnen und Konjunkturpakete für »grüne« und herkömmliche Technologiebranchen schnüren (z. B. erneuerbare Energien, öffentlicher Verkehr).

Resümee: Arbeitsverhältnisse sind Gesellschaftsverhältnisse

Wir haben gezeigt, dass Arbeitslosigkeit und Armut systemimmanente Bestandteile einer kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft sind. Sie können weder von neoklassischen noch von keynesianischen Reformansätzen gelöst werden. Vielmehr nehmen sie ein Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung in Kauf bzw. finden aus ihrer Logik heraus für uns unbefriedigende Antworten, die zu keinen sozial- und umweltverträglichen Lösungen führen. Die Neoklassiker leugnen »unfreiwillige Arbeitslosigkeit« schlechthin ab und werben für eine Freiheit mit einer nicht einlösbaren Chancengleichheit – durch Individualisierung und Flexibilisierung sollen wir zur Selbstverwirklichung gelangen. Modelle keynesianischer Tradition sind nur auf den ersten Blick beruhigender – zur Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit wird eine Arbeitslosenversicherung eingerichtet oder ein Grundeinkommen überlegt; es geht um ein Sockeleinkommen, damit niemand unter die Armutsgrenze rutschen muss. Eine tiefere Bestimmung bietet man den für die Produktion »Überflüssigen« aber nicht an. Stattdessen animiert man sie, sich weiter zu qualifizieren. Die Frage ist aber, wohin qualifizieren, wenn die entsprechenden Arbeitsplätze fehlen (Arbeitsplatzlücke) und Überproduktion keinen Sinn ergibt? Es erhärtet sich also der Verdacht, dass es nur darum geht den Schein zu wahren. In diesem Zynismus begründet sich das oben beschriebene allgemeine Unbehagen und die zunehmende Wut vieler Menschen7.

Vollbeschäftigung kann es in der kapitalistischen Produktionsweise nicht geben, Selbstregulationsfähigkeit des Marktes ist ein uneinlösbarer Mythos. Das Wachstumsdogma verstellt die Einsicht, dass Ungleichheit ein Instabilitätsfaktor ist, der nicht durch mehr vom Gleichen – nicht durch noch mehr Markt, nicht durch noch mehr Staat – ausgemerzt werden kann. Daher wird die Theorie für den Wandel der Arbeitswelt auch nicht aus einer rein wirtschaftstheoretischen Perspektive geschrieben werden können, weil sie sonst einem Zirkelschluss aufsitzt. Dementsprechend können wir sie auch nicht mit ihren eigenen Waffen schlagen. Wenn wir der Problemlage theoretisch gerecht werden wollen, muss uns eine interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingen. Manche Phänomene lassen sich mathematisch beschreiben (z. B. Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern), andere nicht (z. B. Rollenzuschreibung zur Rechtfertigung der Unterschiede oder überhaupt die strukturerhaltende Funktion unbezahlter Frauenarbeit im Haushalt für die kapitalistische Produktion und Reproduktion).

Die referierten ökonomischen Theorien tun so, als seien alle Wirtschaftssubjekte gleich stark. Holt man jedoch Macht als Analysekriterium herein, werden unterschiedliche Diskriminierungen (von Erwerbslosen, Frauen, Migranten, Menschen im globalen Süden) sichtbar, ohne die der Kapitalismus nicht funktionieren würde. Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaftsordnung bedingen sich gegenseitig. Ausgehend vom Feudalismus war dies ein relevanter Fortschritt und ein gewisser Akt der Befreiung aus Leibeigenschaft, Pachtwesen und anderen Formen unfreier Arbeit. Die alte Unfreiheit wurde jedoch gegen eine neue, diffizilere eingetauscht: Unsere Gegenüber sind anonyme Kapitalisten mit Machtkonzentrationen wie es sie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit gab.

Wir gehen davon aus, dass Menschen ihrem Wesen nach produktiv füreinander tätig sein wollen. Das können sie im herrschenden System aber nicht entfalten, weil sie der Gewinnmaximierung unterworfen sind. Daher stellt sich die zentrale Frage, welches System unseren menschlichen Bedürfnissen entspricht und nicht, wie wir dem System entsprechen können. »Es geht darum, den Zweck der Tätigkeit und das Maß der Verausgabung in ein Verhältnis zueinander zu bringen, dass fremdbestimmte Über- und Unterordnung der spannungsgeladenen Dimensionen von Tätigkeiten ausgeschlossen werden. Die Emanzipation der Menschen liegt demnach in der entwickelnden Verausgabung von Kraft zum gemeinschaftlich bestimmten Zweck« (Haug 2009). Daher kann es nicht darum gehen, die »Normalarbeitsverhältnisse« der Nachkriegsära zurück zu wünschen. Abgesehen davon, dass die Voraussetzungen historisch einmalig und damit nicht wiederholbar sind (z. B. Wiederaufbau), ist es wegen seiner emanzipatorischen Defizite und seines zerstörerischen Potenzials für Umwelt und Menschen nicht als idealtypisches Modell anzustreben.

Ungelöst ist allerdings das Paradoxon, dass solange die kapitalistische Produktionsweise weiter existiert, die Integration in den Arbeitsmarkt gesellschaftliche Teilhabe und Emanzipation bedeutet. Daher kann man leicht dem trügerischen Schluss aufsitzen, dass die Umformung von unbezahlter Hausarbeit in Lohnarbeit ein Fortschritt sei und dabei übersehen, dass es nur eine Besserstellung im bürgerlich-kapitalistischen System wäre, nicht aber eine Emanzipation daraus. Es ist also die Frage aufgeworfen, welche Produkte und Dienste wir brauchen bzw. was wachsen soll – und wovon wir besser ablassen. Danach stellt sich die Frage, wie produziert werden soll – was wir weiterhin marktförmig herstellen oder dem Markt wieder entziehen wollen (de-kommodifizieren). Ferner geht es um die Frage, wie wir den Wohlstand verteilen wollen und gesellschaftliche Teilhabe und Mitbestimmung bestmöglich garantieren können. Kurz: Wie können wir gesellschaftliche Spaltungen vermeiden? In den Produktionsverhältnissen steckt ein Schlüssel dafür.

Literatur

Bontrup, Heinz-Josef (2008): Lohn und Gewinn: Volks- und betriebswirtschaftliche Grund­züge, 2. Aufl., München/Wien

Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur leçon, Frankfurt/M

ders. (Hg.; 1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz

Bude, Heinz (2008): Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München

Guger, Alois u. Markus Materbauer (2007): Die langfristige Entwicklung der Einkommens­verteilung in Österreich, WIFO Working Papers, 307, Wien

Haug, Frigga (2009): Arbeitsbegriff bei Marx, vgl. Stichwort Arbeit, in: Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1, Hamburg 1994, S. 401–422 (Auszuge auf: http://www.vier-in-einem.de/forum/topic.php?id=4, 28.8.2010)

Haug, Wolfgang Fritz (Hg.; 1994ff): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Hamburg (Zit. HKWM)

Kromphardt, Jürgen (2004): Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus, 4. Aufl., Göt­tingen

Malli, Gerlinde (2005): Alltagsbefindlichkeiten, in: Andreas Exner, Judith Sauer u. Pia Lichtblau et al. (Hg.): Losarbeiten – Arbeitslos? Globalisierungskritik und die Krise der Arbeitsgesellschaft, Münster, 96–105

Marx, Karl u. Friedrich Engels: Das Kommunistische Manifest, MEW 4

Statistik Austria (2010): Arbeitslose und Arbeitssuchende 2009, Wien (http://www.statistik.at/web_de/statistiken/arbeitsmarkt/arbeitslose_arbeitssuchende/index.html, 25.8.2010)

Stichwort »industrielle Reservearmee«, in: HKWM 6/II

Stichwörter»Kapitalismus«, »Kapitalismusentstehung« und »kapitalistische Produktions­weise«, in: HKWM 7/I

Wolf, Winfried (2010): Sieben Krisen – ein Crash, Wien

Zelter, Joachim (2006): Schule der Arbeitslosen. Ein Roman, Tübingen