Aleister Crowley & die westliche Esoterik

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„Auch ich bin die Seele der Wüste“







Auch wenn Crowley bei der Inszenierung seiner Anrufungen zwanglos vorging, ist es unwahrscheinlich, dass die Umgebung dieser magischen Unternehmung reiner Zufall war.

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 „Arabien“ und die Wüste hatten besondere Bedeutung für ihn. Crowley weidete sich an der arabischen Kultur, insbesondere an der der Beduinen. Nach einem langen Tagesmarsch, so sagte er einmal aus, erfreue ihn nichts mehr, als die Männer eines fernen Dorfes zu besuchen und die Nacht dort mit Kaffeetrinken und dem Rauchen von Tabak oder „Kif“ (Haschisch) zu verbringen. Er war bereits vertraut mit den Wirkungen einer „Huqqa … gestopft mit verrückt machendem Cannabis“, und fühlte sich befreit durch die Wüste und ihre Gesellschaft.

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 Crowley gestand ein, dass er sich, obgleich er sich spirituell in China zuhause fühlte, „mit Herz und Hand dem Arabischen“ verschrieben hatte.

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 Wenn er vom „Arabischen“ sprach, identifizierte er damit jedoch das, was er als den Geist der Wüstenkultur ausmachte: die starken Bande, die Männer miteinander verbanden und eine Existenz, die sich auf ästhetisierte Lebensgrundlagen beschränkte. Einer der Aspekte jenes „Arabiens“, das einen so speziellen Klang für ihn hatte, war ein romantisiertes Männlichkeitsethos.



Über die Faszination der Wüste für die Europäer, die Romantisierung der Beduinen und die literarische Schöpfung eines besonders mythischen „Orient“ ist in der Reiseliteratur und anderswo viel geschrieben worden.

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 Crowley war gegen diese Fiktionen nicht gefeit. Auch wenn seine persönlichen Erlebnisse mit der Wüste kraftvoll und direkt waren – sein Gefühl der Verbundenheit zum „Arabischen“ hatte eine andere Grundlage. Als er vermutete, intuitiv in das Herz der Wüste Arabiens vorgestoßen zu sein, worunter er auf einer unausgesprochenen Ebene die tief greifende Wirkung des unmittelbaren Dialogs mit den von ihm so bezeichneten acht Genien der Wüste auf den menschlichen Geist verstand, lag das daran, dass er so begierig die „Arabia Deserta“-Literatur verschlungen hatte.

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 Und wenn es einen Subtext zu Crowleys nordafrikanischem Abenteuer – und tatsächlich für alle seine Reisen – gibt, dann finden wir diesen im Leben und Werk des viktorianischen Abenteurers und Forschungsreisenden Richard Burton.



Burton repräsentierte den Typ Mann, der Crowley gern gewesen wäre – stark, mutig, unerschrocken, und doch ein Gelehrter und Dichter und ein Kerl, der an konventionellen Beschränkungen stets aneckte. Sein düsteres, vernarbtes Gesicht und seine satanische Ausstrahlung schienen Wissen und Macht zu suggerieren, die jenseits des Akzeptierten und des Akzeptablen lagen, seine Erkundungsfahrten in Afrika und dem Nahen Osten waren legendär, und durch seine Übersetzungen von Texten aus dem Italienischen, Lateinischen, Arabischen und dem Sanskrit wurde die viktorianische Leserschaft in europäische und „orientalische“ Volkskunde und Erotika eingeführt.

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 Als ein Mann mit einer erstaunlichen Bandbreite an Wissen und Fähigkeiten, war Burton zweifellos ein Vorbild für Crowley. Als Crowley seine ausgedehnten Reisen zu fernen Orten unternahm, fühlte er, dass er „zwar voller Ehrfurcht, aber weit davon entfernt sei, in die Fußstapfen des Helden meiner Jugend, Richard Francis Burton, zu treten“.

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 Dieser war einer von drei Männern, denen Crowley seine

Confessions

 widmete: „dem vollendeten Pionier des geistigen und physischen Abenteuers“.



Crowley strebte eine Art kultureller Herrschaft an, wie sie Burton in seiner berühmten „Pilgerreise“ nach Mekka 1853 zur Schau stellte, als der Entdecker, perfekt als Moslem getarnt, in das Herz der heiligen Stadt vorstieß, die Europäern verwehrt war. Dass Crowley während seiner Nordafrikareisen mit Neuburg einen auffälligen Sternsaphirring trug, gründete auf Burtons Information, dass dieser Stein von den Moslems verehrt wurde. Wie Crowley erzählt, beendete er einmal eine Kaffeehausschlägerei, indem er ruhig durch das Getümmel hindurch ging und mit seinem Ring magische Figuren in die Luft zeichnete, während er eine Sure aus dem Koran rezitierte: „Der Lärm verstummte sofort, und ein paar Minuten später kamen die ursprünglich streitenden Parteien zu mir und baten mich, zwischen ihnen zu vermitteln, da sie gesehen hatten, dass ich ein Heiliger war“.

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Auch wenn Crowley sich in seiner Erzählung selbst parodiert, war er, wie Burton, in das imperialistische Projekt verwickelt. Beide Männer wiesen die erdrückenden Beschränkungen der viktorianischen Gesellschaft zurück und versuchten, sich auf unterschiedliche Weise von den bürgerlichen Vorstellungen eines nüchternen, zurückhaltenden und geschäftigen Männlichkeitsbildes zu distanzieren. Nichtsdestotrotz verkörperten sie, obwohl sie die arabische Kultur und deren Völker aufrichtig verehrten, gleichzeitig den unhinterfragten Gestus von Überlegenheit und das Verlangen nach Herrschaft, das imperialistischen Bestrebungen zueigen ist.

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 Diese Fragen sind jedoch komplex. Im Fall Burtons und Crowleys war weder das Überlegenheitsgefühl noch das Streben nach Herrschaft notwendigerweise mit der rücksichtslosen Unterdrückung des Weiblichen gleichgesetzt, die (nach Freud) oft mit Darstellungen moderner maskuliner Subjektivität verbunden ist. Wenngleich die beiden Männer in gewisser Hinsicht dem klassischen Profil des Imperialisten entsprachen, wurden sie doch von einer Kultur angezogen, die dem Anschein nach den Aspekt des Weiblichen als unlösbaren Bestandteil mit viriler Männlichkeit verbinden konnte. Imperialismus beinhaltet immer einen gewissen Grad an Feminisierung, doch Crowley betrachtete, von Burton beeinflusst, die arabische Kultur als eine positive und unwiderstehliche Mischung aus Männlichem und Weiblichem.



„Der Islam“, so bemerkte Burton, „scheint die Bande zwischen den Geschlechtern absichtlich gelockert zu haben, um jene zu stärken, die Mann und Mann miteinander verbinden“.

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 Dies wird sowohl in Crowleys Vorstellungen von einer zutiefst maskulinistischen Gesellschaft als auch in deren Spiegelbild angedeutet, und zum Teil war Burton für diese besondere Charakterisierung des Ostens verantwortlich. Er war lange Zeit von „orientalischer“ Erotik fasziniert gewesen, als er im späteren Leben mit der Veröffentlichung seiner Studien über orientalische Päderastie sein beachtliches Wissen darüber zu Papier brachte. Durch diese und andere Schriften wurde „Arabien“ in der europäischen Vorstellung zu einem Synonym für Homosexualität.

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 Es ist nicht unerheblich, dass im selben Jahr, als Crowley und Neuburg durch die Wüste wanderten, T. E. Lawrence – der später als Lawrence von Arabien unsterblich werden sollte – einen Fußmarsch durch den Vorderen Orient unternahm und dass es um ihn Gerüchte von einer früheren engen homosexuellen Beziehung zu einem arabischen Gehilfen gab. Ebenso relevant ist, dass Oscar Wilde und Lord Alfred Douglas Crowleys „Entdeckung“ Algeriens erwarteten, und dass sie alle Freuden, die Algier zu bieten hatte, genossen hatten. Tatsächlich hatte Wilde für den ängstlichen André Gide eine Nacht mit einem jungen Araber in dieser Stadt arrangiert, damit Gide seine eigene sexuelle Identität bestätigt finden konnte.

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 Für diese Europäer war eine augenscheinliche Akzeptanz von

le vice contra nature

  Teil der Verlockungen der arabischen Welt. Auch wenn die Wüste für Crowley, wie auch für Lawrence, noch von weit tiefer gehender Bedeutung gewesen ist, stand sie für den – oft ehrenvollen – Ausdruck einer heterodoxen männlichen Sexualität.



Doch Crowleys Liebe zur Wüste und deren Bezug zu intensiver Sexualität war weit komplexer als dies. Mit „The Soul of the Desert“ , das 1914 veröffentlicht wurde, verfasste Crowley einen lyrischen Lobgesang auf die mystische Kraft dieser „Wildnis aus Sand“.

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 Die Wüste, so sagt er, habe die Kraft, einen Mann von allem, was er hat und ist, zu entkleiden, so dass er am Ende nackt vor dem Angesicht der Elemente stehen muss. So, schreibt er, „findet sich das Ego allein, demaskiert, nur seiner selbst und keiner anderen Dinge bewusst“ wieder.

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 Es gibt nur noch das nicht reflektierende Bewusstsein eines Wanderers in den Dünen. Diese unkomplizierte Anerkennung dessen, was

ist

, macht es möglich, in der Wüste zu lieben, „wie es unter allen anderen Bedingungen gänzlich unmöglich ist“.

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 Ein geteilter Blick, ein ausgewählter Platz im Sand, und „das Leben erregt in verschlafenem Einklang, alles, alles ist still, keine Namen, keine Schwüre werden ausgetauscht, doch mit reinem Willen ein Akt vollzogen“. „Die Liebe selbst wird so einfach wie der Rest des Lebens“.

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Diese einfache Liebe, in der kristallisierten Kraft der Wüstenexistenz entstanden, ist das Vorspiel zu



… der körperlichen Ekstase der Auflösung, dem Schmerz des körperlichen Todes, worin das Ego, für einen Moment, der ein Äon ist, das fatale Bewusstsein seiner Selbst verliert, und mit einem anderen eins wird, welches das größere Sakrament des Todes erahnen lässt, wenn „der Geist zu Gott zurückkehrt, der ihn gegeben“.

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Doch Crowley geht weiter. In „The Soul of the Desert“ wird „die Wildnis aus Sand“ zur bildlichen Vorstellung einer erotisierten Spiritualität. Sie wird mit einer ekstatischen Erfahrung gleichgesetzt, die den orgiastischen Verlust des Selbstgefühls – den „kleinen Tod“ des sexuellen Höhepunktes – weit übersteigt. Die Wüste mit ihren endlosen sandigen Ödflächen, ihrer unentrinnbaren Einsamkeit und ihrer unerbittlichen Gleichgültigkeit gegenüber den erbärmlichen Kämpfen des menschlichen Daseins ist Ursprung der wesentlichen mystischen Erfahrung: der Auflösung „der Seele … in die überbordende Glückseligkeit Gottes“. Und für Crowley ist diese „Auflösung“ ein Synonym für das, was er hier als „die Entwerdung des Selbst in Pan“ bezeichnet. Die verschlüsselte Referenz an seine Beziehung zu Neuburg und zur Opferzeremonie mit ihm auf dem Gipfel des Da’leh Addin im Jahre 1909 ist hier deutlich erkennbar. In einer ausgesprochenen Erotisierung höchster Spiritualität schreibt Crowley: „So muss der Höhepunkt jedes Rückzugs in die Wüste sein“.

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„Es war wie bei Jekyll und Hyde …“







Für Crowley waren

Selbst, Ego

 und

Seele

 zusammenhängende, wenn nicht gar gleichbedeutende Begriffe. Über das „Opfer“ auf dem Berg Da’leh Addin konnte er sagen, das jedes kleinste Teilchen seiner „Persönlichkeit“ verzehrt wurde; an anderer Stelle spricht er von der „Entwerdung des Selbst in Pan“. Ähnlich schreibt er von dem entscheidenden Moment in der Wüste, „wenn es nötig wird, unter dem Schattenspiel zum verborgenen Heiligtum der Seele vorzudringen“, und dass sich im selben Moment „das Ego allein findet, demaskiert, nur seiner selbst und keiner anderen Dinge bewusst“.

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 Eine präzise Ontologie der menschlichen Identität zu liefern, war niemals Crowleys Anliegen, und wenn er auf das Wesen des Seins anspielte, schöpfte er aus verschiedenen metaphysischen Quellen. Crowleys Kommentare deuten jedoch darauf hin, dass er sein erfahrungsbezogenes Selbstempfinden sowohl auf einem esoterischen als auch auf einem liberal-humanistischen Verständnis von einem einzigartigen, individuellen Wesenskern gründete. Er verstand eine Menge von dem „Schattenspiel“ der Selbstdarstellung, für die der Mann Aleister Crowley ein anschauliches Beispiel war, doch hegte er eine Vorstellung von einem „verborgenen Heiligtum der Seele“ als einer Art okkultem Schrein des ultimativen „Selbst“. Der „entscheidende Moment in der Wüste“ weist auf ein Abstreifen der Schichten der „Persönlichkeit“ – eine essentielle Vorbereitung auf die Enthüllung dieses endgültigen „Selbst“.



Crowley war ein Mann, der alles über Masken wusste. Er hatte Freude daran, mit Identitäten zu spielen. In Cambridge wurde aus ihm ein leidenschaftlicher Jakobit, der seinen Namen von Alexander zu Aleister (einer Falschbuchstabierung dessen gälischen Äquivalents) änderte, und danach in die Rolle des unechten Lord Boleskine schlüpfte, eines Gutsbesitzers aus dem Hochland. Kurz nach seiner Initiation in den Golden Dawn nahm er sich unter dem Namen Vladimir Svareff eine Wohnung in London und genoss es, als junger russischer Edelmann aufzutreten. 1904 beschloss Crowley in Kairo, sich als persischer Prinz auszugeben, und wurde zu Prinz Chioa Khan. Während Crowley diese Experimente als Spaß und Abenteuer unternahm, wirkte sich darin zweifellos eine gewisse Unruhe aus, die mit seiner Haltung zu der ihm vorgegebenen Position im Leben zu tun hatte. Zwar sicherten Crowleys Wohlstand und seine Ausbildung ihm eine gesellschaftliche Stellung, doch sein streng puritanischer Hintergrund und die kaufmännische Familientradition waren weit entfernt von seinen romantischen Phantasien von aristokratischer Abkunft und Lebensart. Crowley wollte etwas anderes sein als der Sohn eines Bierbrauers.

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Diese angenommenen Identitäten waren jedoch nie mehr als die Phantastereien eines reichen Mannes. Es gibt z. B. keine Anhaltspunkte, dass Crowley je so als Chioa Khan gelebt hätte, wie Richard Burton und T. E. Lawrence als Araber gelebt haben. Tatsächlich war das niemals seine Absicht. Crowleys Imitation eines persischen Prinzen war nur eine Möglichkeit zu exotischer Selbstdarstellung, eine Gelegenheit, sich in prächtige Seidengewänder zu kleiden und durch Kairos Straßen zu schlendern. Es gibt keine Darstellungen, nach denen sich Crowley als traumatisch „gespalten“ empfand. Er war nicht wie Burton ständig davon überzeugt, zwei Männer zu sein, und er teilte auch nicht Lawrence’ schmerzhaftes Gewahrsein einer psychischen Störung, in welcher er buchstäblich die Dislokation verkörperte, die in theoretischen Diskussionen über Verkleidungen identifiziert wurde.

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 Crowleys Annahme verschiedener Identitäten war, wie er freimütig einräumte, bloße Schauspielerei. Er empfand seine vielfältigen Rollen nicht als „Selbste“.



Anders sah es mit seiner magischen Identität aus. Crowley

war

 Perdurabo, und als Meistermagier reiste er durch die zeitlosen Aethyre eines Magus des sechzehnten Jahrhunderts. Das magische Selbst war in einem spezifischen Sinne Teil von Crowleys Vorstellung von Identität. Seit seiner Initiation in den Golden Dawn gewann Crowley, wie die anderen Eingeweihten, ein Verständnis von Magie als komplexe Wechselbeziehung zwischen der Person des Magiers und der Anwendung des magischen Willens. Um 1900 experimentierte er mit der bewussten Bewegung zwischen zwei eigenständigen Selbsten und perfektionierte eine Praxis, die zu einem großen Teil Robert Louis Stevenson geschuldet ist:



Als Mitglied des Zweiten Ordens trug ich ein bestimmtes, juwelenbesetztes Goldornament über meinem Herzen. Ich nahm mir vor, dass ich, wenn ich es trüge, keinen Gedanken, kein Wort und keine Handlung zulassen würde, außer solchen, die meine magischen Bestrebungen direkt betrafen. Wenn ich es ablegte, erlaubte ich mir hingegen letztere Dinge nicht; ich würde zutiefst uneingeweiht sein. Es war wie bei Jekyll und Hyde, nur, dass die beiden Persönlichkeiten einander ausglichen und ergänzten.

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Crowleys Bezugnahme auf Stevensons

Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde

  ist aufschlussreich. Dieser sehr populäre Roman aus dem Jahre 1886 handelt von einem angesehenen Arzt, der sein besonderes Wissen dazu nutzt, ein zweites Selbst zu schaffen, das sich mittels eines erschreckenden Transformationsprozesses in seinem Körper manifestiert. Der abscheuliche Mr. Hyde – „die Bestie Hyde“ – ist die sprichwörtliche Verkörperung all dessen, was sein Schöpfer nicht ist; er ist die Schattenseite des spätviktorianischen bürgerlichen Mannes. Hyde versteht nichts von vernünftiger Selbstdisziplin und gibt sich freimütig seinem Verlangen nach nicht näher bezeichneten „heimlichen Gelüsten“ hin. Dass Hydes nächtliche Eskapaden sowohl sexueller als auch gewalttätiger Natur sind, wird in der sensationellen Bühnenfassung deutlich, die im August 1888 in London uraufgeführt wurde. In W. T. Steads Pall Mall Gazette wurde das Theaterstück mit den grausamen Morden Jack the Rippers in Verbindung gebracht, der in jenem Herbst im Londoner East End fünf Prostituierte umgebracht hatte. Der darauf folgende Skandal eskalierte dermaßen, dass die Aufführungen schließlich eingestellt werden mussten.

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In

Dr. Jekyll and Mr. Hyde

 werden spezifische, die bürgerliche Männlichkeit betreffende Ängste artikuliert. Um die 1880er Jahre herum hatte das konventionelle Bild vom zurückhaltenden, disziplinierten und gottesfürchtigen Gentleman als Inbegriff des respektablen männlichen Mittelklassebürgers einige tiefe Risse bekommen. Die spätviktorianischen Sorgen über Prostitution, Pornographie, Geschlechtskrankheiten, das moralische Wohl der Kinder und die Sicherheit ehrbarer Frauen auf städtischen Straßen konzentrierten sich in einer Reihe öffentlicher Kampagnen, die die männliche Sexualität als rücksichtslos und gefährlich darstellten.

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 Gemäß der Rhetorik dieser Kampagnen gaben verheiratete wie alleinstehende Männer gleichermaßen Anlass zur Besorgnis. Tatsächlich wuchs, obwohl das Ehebett und die angeblich erlösenden Qualitäten reiner viktorianischer Weiblichkeit üblicherweise als Bollwerk gegen die männliche Lasterhaftigkeit betrachtet wurden, der Gedanke, dass die Ehe lediglich eine lizenzierte Form der sexuellen Ausbeutung von Frauen war. Eine undifferenzierte „männliche Lust“ wurde für die scheinbar endemische Verbreitung des „Lasters“ verantwortlich gemacht, und Gemeinschaften der Sittlichkeitsbewegung und der Wachsamkeitskomitees machten im ganzen Land zur Bekämpfung dieser Einflüsse mobil. Obwohl Stevenson jegliche indirekte Bezugnahme auf Sexualität in seinem Roman von sich wies, wurde die männliche Welt, die er darin beschrieb, von weiten Kreisen als das Milieu einer bildlichen Darstellung des minderwertigen Hyde betrachtet, der in Jedermann steckt – des abscheulichen und mörderischen Lüstlings, der unter der Oberfläche urbaner Höflichkeit schlummert. Die Aufführung von 1888 machte das Ziel der Gelüste des Schurken deutlich.



„Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ beschäftigt sich jedoch ebenfalls zentral mit der Vorstellung von einem gespaltenen Selbst und ist gleichermaßen eine Wiederaufnahme des Begriffs der gespaltenen Persönlichkeit, der die um die Jahrhundertwende verbreitete Faszination für Dualität, Zersplitterung und Verfall ansprach. Im Roman kann Dr. Jekyll von seinem anderen Selbst, seinem „Teufel“, nur in der dritten Person – der „Er-Form“ – sprechen („Er, sage ich – ich kann nicht Ich sagen“), während der Trank, der die Macht hat, einen Jekyll in einen Hyde zu verwandeln, einen Überfall auf die „wahre Festung der Identität“ repräsentiert.

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 Die in dem Roman mitschwingende Infragestellung des Konzepts eines einheitlichen Selbst als einziger Quelle der Identität fand ihren Widerhall auch andernorts, als das Jahrhundert seinem Ende entgegen ging, was in den zeitgenössischen Diskussionen über den menschlichen Geist wahrscheinlich besonders ausgeprägt war. Tatsächlich gibt es einige Hinweise, dass Stevenson mit den Entwicklungen der Psychologie in Europa vertraut gewesen und von einer „wissenschaftlichen“ Abhandlung über das „Unterbewusstsein“, die er in französischer Sprache gelesen hatte, „zutiefst beeindruckt“ gewesen sei.

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 Das Interesse an den unerschlossenen Territorien des Geistes und des Bewusstseins sowie an den Verbindungen zwischen Geist, Körper und sexueller Perversion verbreitete sich in der spätviktorianischen Zeit explosionsartig, was sich in vielen Neuerungen auf dem relativ neuen Feld der medizinischen Psychologie, in der Pionierarbeit von Sexualforschern und der Gründung der Society for Psychical Research in London niederschlug.

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 In Frankreich wagte der renommierte Neurologe Jean-Martin Charcot kühne Interpretationen der körperlichen Manifestationen psychischer Zustände, während Sigmund Freud, der in den 1880er Jahren mit Charcot zusammenarbeitete, versuchte, die zwangsläufige Verbindung zwischen physischer Ursache und psychischer Auswirkung zu durchtrennen. Die Society for Psychical Research, die sich vieler führender internationaler medizinischer Psychologen unter ihren Mitgliedern rühmte, verfolgte diese Debatten und partizipierte daran mit dem Bestreben, das Wesen numinaler Erfahrung und psychischer Phänomene (im Sinne von übernatürlichen und paranormalen Erscheinungen) vollständiger zu begreifen.

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 Was diese verschiedenen Annäherungen und Programme verband, war der einvernehmliche Einsatz für ein klareres Verständnis der Vielschichtigkeit emotionaler und psychischer Erfahrungen.



Eine wachsende Aufmerksamkeit wurde auf das Rätsel unerklärlicher körperlicher Symptome gelenkt, wie Hysterie, gespaltene und multiple Persönlichkeiten und veränderte Bewusstseinszustände. Zur selben Zeit galten bisher bewährte Erklärungsmodelle, nach denen ein einziges, stabiles Bewusstsein die Wurzel allen menschlichen Verhaltens sei, plötzlich als veraltet und nicht mehr stimmig. Das Haus des Geistes, so schien es, bestand aus mehreren Räumen – einige davon waren dunkel, unterirdisch und schwer zu betreten. Der menschliche Geist offenbarte sich als ein Labyrinth, von dem nur einige Teile der bewussten Selbstkontrolle zugänglich waren. Diese Interpretation deutet an, dass die Psyche eher als geteilt und fragmentiert zu verstehen ist denn als einheitliche Ganzheit. Extreme Verfechter dieser These gingen davon aus, dass der Geist – als Sitz der bewussten Identität – sich in einem dauerhaften Zustand der Anomie befindet. Ob beabsichtigt oder nicht: diese neuen Forschungsgebiete implizierten einen Angriff auf die Integrität des vernünftigen, selbstbestimmten Individuums.

 



Die Gründung des Order of the Golden Dawn fiel mit diesen zeitgenössischen Entwicklungen zusammen; ich würde sogar sagen, sie sprach diese direkt an. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Astralreisen oder fortgeschrittene magische Praktiken, mittels derer die Adepten lernten, ein zweites magisches Selbst zu entwickeln, um ausgedehnte Ausflüge in Welten zu unternehmen, die gleichzeitig sowohl als innerlich wie auch als äußerlich konzipiert waren, im Zentrum der Blütezeit des okkulten Wiederauflebens standen. Doch während man diese Übungen als bemerkenswerte und anhaltende Erkundungen der Psyche interpretieren kann, war den Magiern des späten neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts nicht an der Theoretisierung des Geistes gelegen. Sie waren von magischen Unternehmungen besessen, und ihre Auffassung dieses Unterfangens drückte sich in den entsprechenden Begriffen aus. Magiern war sicherlich bewusst, dass die Anwendung magischen Wissens und magischer Kräfte auch das innere Reisen beinhaltet, doch sprachen sie nicht von der Psyche, sondern von „Aethyren“ und „Ebenen“. Die magische Praxis diente dazu, diese Ebenen zu verstehen und Kontrolle über sie zu erlangen, und die Adepten grübelten nicht übermäßig darüber nach, ob solche Reiche über eine objektive oder subjektive Existenz verfügten oder nicht. Was zählte, war, dass die magische Erfahrung mit anderen Magiern geteilt und von diesen verifiziert werden konnte, und die Authentizität wurde nach dem Erfolg der gewünschten Ergebnisse bewertet. Die unbedingte Realität der Erlebnisse wurde angenommen, ohne sie zu hinterfragen.



Das Bestreben der magischen Praxis lag darin, ein macht- und wirkungsvolles zweites Selbst zu erschaffen, das die Sphären jenseits der bewussten Wahrnehmung erkunden würde. Dieses zweite Selbst war jedoch keine getrennte Persönlichkeit, wie etwa bei einem spiritistischen Medium oder bei psychischen Störungen. Als Crowley andeutete, dass die Existenz seiner beiden Persönlichkeiten, der eingeweihten und der „nicht eingeweihten“, dem gespaltenen Selbst des Dr. Jekyll ähnele, bestätigte er damit einfach den Bezug des Romanthemas zur magischen Praxis. Der Hauptunterschied zwischen ihm selbst und Dr. Jekyll bestand in der Tatsache, dass Crowleys „zwei Persönlichkeiten an sich ausgeglichen und in sich abgeschlossen “. Crowley hätte wohl auch gesagt, dass Perdurabo kein Monster war. Er war ein in die Magie eingeweihtes Selbst und repräsentierte in keiner Weise eine persönliche Identitätskrise. Der Punkt ist, dass ein erfahrener Magier durch eine ritualisierte Abfolge von Praktiken die eingeweihte Persönlichkeit unter Kontrolle hat; er (oder sie) kann nach Wunsch darauf zugreifen und sie mit dem weltlichen Selbst in perfektem Gleichgewicht halten. Für den wahren Adepten gibt es kein Verwischen der Grenzen. Im magischen Sinne bestätigte Crowley nicht nur ein Selbst, sondern viele (über die Zeit gesehen). Und aufgrund seiner magischen Übung erlebte er diese nicht als problematische Spaltung: „Es war wie bei Jekyll und Hyde, doch mit beiden Persönlichkeiten ausgeglichen und in sich abgeschlossen“.



Nachdem das neue Jahrhundert begonnen hatte, fing Crowley an, das begriffliche Wörterbuch der Magie um Erkenntnisse aus der Erforschung des Geistes zu erweitern. Es erscheint wahrscheinlich, dass Crowley Freud um 1914 entdeckt hatte, zur selben Zeit, als er auch „The Soul of the Desert“ schrieb, worin er sich – wie wir gesehen haben – auf die Demaskierung des „Ego“ bezieht. Auch wenn dies noch kein schlüssiger Beweis ist, dass er das „Ego“ streng im Freud’schen Sinne betrachtete – der Begriff wurde zwar in Übersetzungen Freuds übernommen, doch wurde er fast ein Jahrhundert lang auch verwendet, um das bewusste Subjekt zu bezeichnen und war unter Okkultisten allgemein bekannt