Aktive Gewaltfreiheit

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Nichts kann sich zum Guten wandeln, wenn Gottes schöpferische Liebe von der Angst des Menschen um sich selbst verschlungen wird; deshalb werden die fünfte und sechste These der Bergpredigt flankiert und gestützt durch den Refrain vom himmlischen Vater, der weiß, was Menschen nötig haben. Das Vaterunser ist das Gebet derer, die den Feind lieben sollen und wollen, aber nicht können, weil und solange sie zuerst auf sich schauen. „Sucht aber zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit (…)“ (Mt 6,33). Das ist die Vorzugsregel, die kreativer Gewaltfreiheit den Weg öffnet.

Die verwandelnde Kraft der Schwachen

An der Figur des „Gottesknechtes“ entfaltet das Alte Testament einen Weg, der von Anfang an die Anti-Logik, die Spiegelung der Gewalt im eigenen Verhalten überwindet und deshalb aus der Gewalt herausführt. Im ersten „Lied“ (Jes 42,1-9) präsentiert Gott selbst seinen Knecht vor einem imaginären Publikum. Dieser Knecht steht in einer besonders dichten Beziehung zu Gott; er ist erfüllt vom Geist Gottes, so dass in seinem Handeln Gott wirkt und seinen Willen durchsetzt. Damit ist die wichtigste Voraussetzung für alles versöhnende Handeln angesprochen: In der Annahme durch Gott werden dem Selbsthass und der Verachtung der anderen der Boden entzogen. So „erwählt“, „gerufen“ und „behütet“ (vgl. 42,6; 49,1.8) ist der Knecht „neu“, durch Gottes Annahme befreit wie am ersten Schöpfungsmorgen. Durch ihn kann Neues beginnen in der Welt des Unrechts (vgl. Jes 42,9).

Der Knecht soll in der Welt der Völker („auf der Erde“, 42,4) den Rechtszustand aufrichten, Gottes guter Schöpfung zum Ziel verhelfen. Alle Welt ist einbezogen, die ganze Weite der Schöpfung. So passt es, dass die Gottesrede an den Knecht in 42,5 nicht nur mit der üblichen Formel „so spricht der Herr“ beginnt, sondern Gott geradezu umständlich als Schöpfer von Himmel und Erde und Geber des Lebensatems beschrieben wird. Das steht nicht nur „räumlich“ in der Mitte des Textes, es erinnert an den Grund und das Ziel des göttlichen Wirkens, in den das Wirken des Gottesknechtes eingeschrieben ist.

Seine größte Sprachkraft entfaltet der Text, wenn er anschaulich wird und die „Methode“ der Durchsetzung des Rechts nennt: Der Knecht tritt nicht dröhnend und herrisch auf und er geht nicht über das Beschädigte und Schwache hinweg. Zurückhaltung und Zärtlichkeit – so könnte man die weltverändernde Methode nennen. In offenen Metaphern wird auch das „Recht bringen“ beschrieben: Licht bringen anstelle von Finsternis (vgl. Gen 1,1-3), Leben schaffen – sich überlagernde Vorstellungen für die schöpferische/göttliche Verwandlung der Welt, eine tief greifende Veränderung zur „Versöhnung“. Entsprechend der Anfangskonstellation der Bibel ist die Adressatenschaft eine doppelte: Es geht um das Volk, also Israel, und um die Nationen, alle andern, die nicht Israel sind (vgl. Gen 12,1-3). Global ist die Perspektive, aber Gottes Weg der Veränderung geht über seine Bindung an das erwählte Volk.

Damit ist die Aufgabe benannt. Was tut der Knecht? Wie reagieren die Adressaten? In Jes 49,1-9 spricht der Gottesknecht selbst. Er erinnert an seinen Auftrag: Gottes Rettung soll bis an das Ende der Erde reichen, alle umfassen. Dieser Einsatz Gottes für die Welt fängt damit an, dass Jakob/Israel zu seinem Gott zurückkehrt, aber das ist eben nur der Anfang einer weltverändernden Bewegung. Vom Ende des Liedes her gewinnt der Anfang der Rettung Kontur: Es geht wieder um Befreiung – aus der Gefangenschaft zum Licht. Die Aussagen bleiben aber bewusst offen; die metaphorische Sprache sichert ihre Bedeutung über die Ursprungssituation (also die Befreiung aus der Gefangenschaft in Babylon) hinaus.

Schärfer als im ersten Lied und mit neuen Tönen wird die Zwischenstellung, das „Mittleramt“, des Gottesknechtes vorgeführt: Er ist von Gott gerufen, geehrt; Gott sichert ihm zu, ihn zu behüten und ihm zu helfen. Das ist wichtig, nicht nur für die Stellung des Knechts, sondern für das Bestehen-Können in seiner Rolle. Denn offenbar stößt der Knecht auf Widerstände. Es deuten sich harte Konflikte an. Der Knecht charakterisiert sein eigenes Mühen als vergeblich, erfolg- und sinnlos. In der Verachtung, die er erfährt, hat er nur noch einen Halt: „Mein Recht ist bei JHWH“ (Jes 49,4).

Auf dieser Linie verbleibt das Lied in Jes 50,4-9. Es beschreibt die Gottesbeziehung des Knechts zunächst wörtlich als „Schülerschaft“: Es geht um das Hören, durch das allein sich Gottes Wille erlernen lässt. Als Schüler dieses Gottes erfährt er Zurückweisung, die sich in brutaler körperlicher Gewalt äußert. Die Dinge spitzen sich immer mehr zu: Einerseits wird das Gottesverhältnis enger, geradezu intimer (das Hören ist biblisch ein viel dichterer Ausdruck der Nähe und des Zusammenwirkens als in unserer gewöhnlichen Vorstellung), andererseits steht der Knecht nun mit seinem Leib für Gottes Auftrag ein. Es geht nicht um eine Botschaft, eine Mitteilung, ein Programm. Der Knecht verkörpert Gottes Rettungseinsatz für Israel und für die Nationen; deshalb schlagen die Widerstände gleichsam auf seinen Körper durch.

Der Knecht erfährt, dass er bestehen kann, „er wird nicht in Schande enden“ (Jes 50,7). Das ist schwer zu übersetzen: Er verliert nicht den Boden unter den Füßen, bleibt im Letzten er selbst. Hier versucht die Bibel eine Erfahrung zu erfassen, die alle Widerständler machen und die ihnen hilft zu bestehen. Es gibt eine Grenze der Gewalt, einen Punkt, an dem fremde zerstörerische Macht zerschellt; gemeint ist die Erfahrung einer Kraft, die allein die Treue zum Auftrag ermöglicht und das Weitergehen in letzter Konsequenz. Das ist kein Gesetz, immer nur eine stammelnd vorgetragene Erfahrung: ein Lichtfunke in einer wahnsinnigen Welt der Gewalt, der Punkt, an dem das Neue schon Wirklichkeit wird. Der zweite Teil des dritten Liedes drückt das in gewohnter Rechtssprache aus: Gott als Anwalt im Rechtsstreit, der nicht zulässt, dass das Recht unterliegt. Mit besonderem Nachdruck hält der Knecht fest, dass Gott ihm beisteht, wie in einem Refrain, der den zweiten Teil des Liedes gliedert: „Gott wird mir helfen“ – „der mich freispricht, ist nahe“ (vgl. Jes 50,7-9). Das ist die Weise, in der der Knecht dem Unrecht und der Gewalt begegnet. Er passt sich nicht den Mitteln seiner Gegner an. In einer Welt der Gewalt setzt er auf Gott als den Anwalt des Rechts.

Alle Fäden laufen zusammen in jenem berühmten Lied im 53. Kapitel des Jesjabuches – und zusätzlich bietet das vierte Lied noch entscheidende neue Aspekte über den Knecht und seinen Weg, die Welt bis zu den „fernen Inseln“ nach Gottes Willen zu verändern. Dieses Lied setzt offenkundig den Tod des Gottesknechtes voraus, deshalb spricht hier nicht der Knecht. Gott verheißt dem Knecht eine große Zukunft. Der Tod ist nicht das letzte Wort. Davon sprechen die Rahmenteile des Textes. Die Hoffnung des Knechtes geht nicht ins Leere, Gott ist treu.

Im Mittelteil des Textes (Jes 53,1-11) spricht eine nicht näher identifizierte Wir-Gruppe; sie ist zu einer revolutionären Erkenntnis gelangt. Im zweiten Teil des Mittelteils wird erzählt, was dieser Knecht erlitten und getan hat, wie die Menschen zu ihm standen und was Gott mit ihm vorhatte. Durch das Schicksal des Knechtes kommt die Wir-Gruppe zu einer neuen Erkenntnis, und zwar zu einer doppelten neuen Einsicht. Zum ersten geht ihr auf, wer der Knecht war und warum er gelitten hat, und zum zweiten sieht sie ein, wer sie war und was ihr Tun bewirkt hat – und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Der getötete Knecht war Gottes Knecht, er vertrat die Sache Gottes und Gott stand auf seiner Seite. Die Wir-Gruppe hatte gemeint, Gott habe sich von ihm losgesagt und ihn mit Leiden bestraft. Die Verblendung der Wir-Gruppe wird noch weiter entlarvt: Die Gewalt, die den Knecht getroffen hat, war die Gewalt der Wir-Gruppe. Nicht Gott hat sich das Leiden „ausgedacht“, sondern das Leiden hat einen konkreten Verursacher. Hier wurde also die eigene Gewaltausübung auf Gott projiziert. Die Falschheit und Verlogenheit hat nun ein Ende. Es ist klar, woher die Gewalt kommt; und die Gewalttäter erkennen das an. Es ist diese Einsicht, die aus der Täuschung, vor allem auch der Selbsttäuschung herausführt. Darin liegt schon ein Gewinn, denn zur Gewalt gehört die Täuschung über die Ursachen und die Folgen, die Propaganda der Lüge.

Aber die Veränderung der Wirklichkeit greift weiter aus. Deshalb folgt auf den Abschnitt über die Erkenntnis noch eine die ersten drei Lieder aufnehmende und deutende Erzählung über den Knecht. Er hat nämlich die Dynamik der Gewalt gebrochen. Oder vielleicht besser gesagt: An ihm ist diese Macht zerbrochen. Der Text sagt: „Er hat die Sünden getragen oder aufgehoben.“ (53,4) Die Gewalttäter werden nicht bestraft (das ist hier nicht das Thema), sondern herausgeführt aus dem „falschen Leben“.

Der Schlüssel zum Gelingen dieser mehrfachen Rollenwechsel (der Geächtete ist und bleibt der Gerechte; die Wir-Gruppe durchschaut ihre Verblendung und ihr verbrecherisches Tun) verbirgt sich in einem Bild in Jes 53,7: das Lamm, das seinen Mund nicht auftut. In einem Text, der sich so weit vorwagt und sich einer der schwierigsten Fragen stellt, sind auch die Bilder gewagt. Das stumme Lamm ist nicht in gefährlich-naiver Weise „lammfromm“. Es ist das Gegenbild zu den anderen Tieren der Kleinviehherde, die „ihren je eigenen Weg“ (vgl. 53,6) gehen. Das stumme Lamm ist hier kein dummes Lamm; das Lamm steht als Doppelbild für die Treue zu Gott und für die Absage an die Gewalt. Der Gottesknecht bleibt bei Gott und übernimmt nicht das Verhalten der Gewalttäter. Er steht für das, was Gott will, und er hält aus, was Gott nicht will. In allem Versöhnungshandeln ist das die größte Herausforderung: sich der destruktiven Macht nicht anzugleichen, weil in dem Moment das schöpferisch Neue verspielt wäre. „Fügt euch nicht in das Schema dieser Welt“ (Röm 12,2), wird später Paulus fordern, nicht als Grundsatz eines fragwürdigen Entweltlichungsprogramms, sondern im Wissen darum, dass Gott das Neue will, kein Immer-wieder-und-immer-weiter-so in einer gottfernen Welt.

 

Im Verfolgen der Spuren des Gottesknechts durch das Jesajabuch wird der biblische Weg der Versöhnung in einigen Grundzügen klarer. Gewaltlosigkeit ist kein ethisches Programm, das Menschen aus eigener Macht umsetzen können; sie ist nur theologisch möglich in einer Bindung an jenen Gott, der für den shalom „steht“, bei dem dies schon Wirklichkeit ist und der darin auch die Gewalttäter eingeschlossen hat, weil er sie nicht abschreibt: Deshalb kann die Wir-Gruppe nur erschüttert ausrufen: „Die Züchtigung war auf ihm, für unseren shalom!“ (Jes 53,5). Wie sollte ohne die Bindung an Gott im Handeln des Knechtes der Bruch mit dem Alten möglich sein? Für Jes 53 jedenfalls bricht sich an der Stelle, an der die Gewalt den Gottesknecht tödlich trifft, Gottes neue Schöpfung Bahn. Das kann man dann Stellvertretung nennen, obwohl diese Vorstellung möglicherweise viel zu statisch ist, um das Ringen, das Jes 53 abbilden will – in Reflexion und Erzählung –, auch nur annähernd einzufangen. Für die Wir-Gruppe (und schließlich die Vielen und die fernen Könige) ist die Welt neu geworden und der Knecht bleibt von Gott „behütet“.

Die Welt ist besetzt vom „Mythos der erlösenden Gewalt“ („myth of redemptive violence“)24. Es ist der tief verwurzelte Glaube, dass nur über die tödliche Gewalt Sicherheit, Frieden und Heil zu gewinnen sind. Das Evangelium, die biblische Botschaft von Gottes Engagement für die Welt, erzählt dazu die große Gegengeschichte.25 Die Bibel erzählt von dem einen Gott, der über allem und allen steht, und vom Gutsein der ganzen Schöpfung. Es geht um Überwindung der Gewalt in der Schöpfung, aber nicht um Vernichtung eines Teils von Gottes guter Schöpfung. Paulus findet dafür in 2 Kor 12,9 eine einfache Formel von großer Eindringlichkeit: Gottes Macht kommt zu ihrem Ziel durch Schwachheit.

1 Schweizer, Eduard, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 2), Göttingen 1973 u.ö., 7.

2 Konradt, Matthias, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015, 78.

3 Konradt, Matthäus, 78f.

4 Konradt, Matthäus, 79. – Die revidierte Einheitsübersetzung 2016 erinnert mit der Überschrift „Die neuen Thesen“ noch von ferne an die ältere unhaltbar gewordene Titulatur, versucht aber offenkundig die neuen Einsichten zu integrieren. Dass die Betonung des Neuen zu unbestimmt ist und der Vorschlag der Einheitsübersetzung doch wieder vor der Kontrastfolie „Altes gegen Neues Testament“ gehört werden kann, ist die Problematik und Grenze dieser Überschrift.

5 Konradt, Matthäus, 80.

6 Konradt, Matthäus, 80. – Fragwürdig konventionell bleibt demgegenüber die gerade auch für ein jüngeres Publikum konzipierte Neuübersetzung der BasisBibel der Deutschen Bibelgesellschaft von 2010, 25–28 pass., die in den Randglossen das überholte Verständnis fortschreibt. In dieser modern anmutenden Bibelübersetzung zeigt sich überhaupt ein Trend zu problematischen Klischees, wenn das „Auge um Auge“ als „Vergeltungsgrundsatz aus dem Alten Testament“ bezeichnet wird. Die Grenze zur Karikatur ist überschritten, wenn die beiden Abschnitte aus Mt 5,38-42 und 43-48 mit den unzutreffenden Überschriften „Das Gebot, nur maßvoll zu vergelten“ und „Das Gebot, den Mitmenschen zu lieben“ versehen werden.

7 Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006, 1842f.

8 Vgl. die Diskussion mit ausführlichem Belegmaterial bei Schöttler, Heinz-Günther, Christliche Predigt und Altes Testament. Versuch einer homiletischen Kriteriologie, Ostfildern 2001, 522–571.

9 Vgl. Betz, Hans Dieter, The Sermon on the Mount, Minneapolis 1995, 280: „Do not retaliate.“

10 Vgl. Wink, Walter, Engaging the Powers. Discernment and Resistance in a World of Domination, Minneapolis 1992, 184, der die Untersuchung von Mt 5,39 überschreibt mit: „The Thesis Statement. Do not mirror evil“.

11 Wink, Engaging, 185.

12 Schweizer, Matthäus, 78.

13 Wink, Walter, The Powers That Be. Theology for a New Millenium, New York 1998, 145; dt. Ausgabe: Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit, hg. von Thomas Nauerth und Georg Steins, Regensburg 2014, 124.

14 Konradt, Matthäus, 95.

15 Konradt, Matthäus, 95.

16 Wink, Engaging, 182.

17 Vgl. Schockenhoff, Eberhard, Die Bergpredigt. Aufruf zum Christsein, Freiburg 2014, 230f.

18 Schweizer, Matthäus, 82f.

19 Schweizer, Matthäus, 83.

20 Konradt, Matthäus, 99.

21 Pröpper, Thomas, Gottes Freundschaft suchen. Predigten, Geistliche Gedanken und Gebete, Regensburg 2016, 108.

22 Pröpper, Gottes Freundschaft, 109.

23 Schockenhoff, Bergpredigt, 233.

24 Wink, Enganging, 13–31; vgl. Wink, Verwandlung, 48–63.

25 Vgl. Wink, Powers, 62; Wink, Verwandlung, 63; vgl. Johanna Tschautscher, Vom Mythos der erlösenden Gewalt, Essayfilm mit Th. Nauerth, G. Steins u.a., Österreich 2017, 95 min (www.johanna-tschautscher.eu).

Rauf Ceylan

Der gewaltbereite Salafismus als Herausforderung

Einleitung

Die abrahamischen Weltreligionen werden in einer externen Kritik häufig beschuldigt, durch ihren strengen Monotheismus intolerant zu sein, während polytheistischen Religionen aufgrund ihrer Vielgötterei eine immanente Offenheit gegenüber anderen Weltanschauungen attestiert wird. Auf diese Vorurteile trifft man im Kontext des Judentums und Christentums heute eher in der historischen Literatur. In Bezug zum Islam dagegen sind diese Vorwürfe sowohl in (populärwissenschaftlichen) Publikationen als auch in den öffentlichen Diskursen (Politik, Medien) allgegenwärtig. Aktuell wird diese Sichtweise durch die globalen Konflikte wie in Syrien, Afghanistan, Libyen oder Irak forciert. Seitdem die salafistische Terrororganisation „Islamischer Staat“ plötzlich in Erscheinung getreten ist und in einem rasanten Tempo in Syrien und im Irak expandierte, haben sich die negativen Berichtserstattungen verstärkt. Intensiviert wurde die Assoziation „Islam gleich Gewalt“ ebenso durch das salafistische Milieu in westlichen Einwanderungsgesellschaften, das durch medienwirksame Auftritte gezielt dieses negative Bild immer wieder bestätigt.

Insbesondere in Deutschland hat sich diese Szene mit etwa 10.000 Anhängern etabliert, die mit ihren populären deutschsprachigen Predigern eine rückständige Ideologie propagieren. Aufgrund der großen Aufmerksamkeit in den Medien und in der Politik hat der Salafismus es geschafft, im Diskursfeld Islam eine wichtige Rolle zu spielen. Zugleich ist ein Expertenkreis rund um dieses Phänomen entstanden, die Experten werden als „Islamexperten“ tituliert. Darunter sind überwiegend Soziolog/innen, Pädagog/innen und Politikwissenschaftler/innen anzutreffen, die jeweils aus ihrer eigenen Perspektive versuchen, das Phänomen zu erklären und ebenso Präventionskonzepte zu formulieren. Muslimische Theolog/innen setzten sich kaum als Forschungsschwerpunkt mit der Frage nach dem Salafismus auseinander. Im besten Fall sind historische Analysen zu lesen, doch finden kaum gegenwartsbezogene theologische Auseinandersetzungen statt. Zwar nehmen hin und wieder muslimische Theolog/innen in den Medien Stellung zu diesem Phänomen. Allerdings fehlt ein akademisches Forschungsprofil zum Thema Fundamentalismus, obwohl seit 2010 die Islamische Theologie in Deutschland massiv ausgebaut wurde. Daher ist es notwendig, dass hierzulande diese Forschungslücke geschlossen wird. Zugleich müssen diese Studien Bezug nehmen zum übergeordneten Kontext, und zwar auf die Frage der Gewalt und Gewaltfreiheit im Islam und wie man das Friedenspotenzial der Religion in Zukunft stärker zur Entfaltung bringen könnte. Mit diesem Kontext eröffnen sich für die Islamische Theologie Kooperationsmöglichkeiten mit den Christlichen Theologien, die eine längere Wissenschaftstradition zu diesen Fragen aufweisen. Vor diesem Hintergrund sollen in der vorliegenden Abhandlung dieser Gedanke der Kooperation im Kontext von Gewalt bzw. Gewaltfreiheit in den Religionen aufgegriffen und einige Perspektiven entwickelt werden.

Das resistente Stigma: Religionen als Ursache von Konflikten

Wenn man heute über Religion spricht oder liest, wird immer wieder das Thema Gewalt erwähnt. Religionen seien oft Ursache von Gewalt, weil sie aufgrund ihres Wahrheitsanspruchs eine dichotome Weltsicht – „Gläubige und Ungläubige“ – förderten. Damit würden alle anderen Menschen außerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft als untergeordnet betrachtet, sodass Vorurteile und Feindbilder begünstigt werden. Um diese These zu untermauern, wird auf die zahlreichen historischen Religionskriege verwiesen. Im christlichen Kontext werden hierbei oft die Kreuzzüge erwähnt, die nicht nur zur Vertreibung der Muslime aus dem Heiligen Land, sondern ebenso zur Ausgrenzung von als „Häretikern“ abgestempelten Christen geführt haben:

„Innozenz‘ Pontifikat wurde für die Weiterentwicklung (oder auch Depravierung) der Kreuzzugsidee von großer Bedeutung. Der von ihm ausgerufene vierte Kreuzzug ohne Beteiligung eines Königs war der erste, der sich – gegen seine Absicht – gegen Christen richtete. Um den benötigten venezianischen Schiffsraum bezahlen zu können, eroberten die Kreuzfahrer 1202, trotz Kritik in den eigenen Reihen, die an Ungarn abgefallene christliche Stadt Zara in Dalmatien für Venedig zurück. Gegen die Eroberung des unermeßlich reichen christlichen Konstantinopel 1204 durch das Kreuzheer hatte der Papst schließlich weniger Einwände, eröffnete sie doch Möglichkeiten einer Kirchenunion mit der Ostkirche. Die Dämme aber waren gebrochen, und Innozenz zögerte jetzt nicht mehr, die Kreuzzugsidee gegen innere Feinde der Kirche, die häretischen Katharer in der Provence, anzuwenden.“1

Die These der Gewalttätigkeit wird zudem durch die Konfessionskonflikte untermauert, die nach der Reformation zum 30-jährigen Krieg führten. Schließlich wird das Konfliktpotenzial im Christentum historisch in seinem Kampf gegen die Wissenschaft festgemacht, welche sein Weltbild und seine Deutungshoheit herausforderte. Während bis ins vierte Jahrhundert die Anhänger des Christentums – trotz Verfolgungen und drakonischen Strafen im Römischen Reich – friedlich missionierten, sei im Zuge der konstantinischen Wende – die zum Imperium Romanum Christianum führte – das Konfliktpotential sukzessive in Erscheinung getreten. Dieser einseitige Blick auf das Christentum führt dann schließlich dazu, dass man die gesamte Geschichte dieser Weltreligion polemisierend als „Kriminalgeschichte“ liest.2

Im islamischen Kontext wird ebenso eine lange „Blutspur“ nachgezeichnet. Zunächst wird immer darauf verwiesen, dass die 12-jährige Verkündungszeit in Mekka (610–622 n.Chr.) sich durch die friedliche Mission des Islam auszeichnete. Als der Prophet Muhammad mit seiner Verkündung des absoluten Monotheismus im Jahre 610 n.Chr. begann, war er mit der Feindschaft der mekkanischen Oligarchie konfrontiert. Die Mekkaner sahen ihren polytheistischen Kult – der aufgrund der zahlreichen Pilger mit ökonomischen Interessen gekoppelt war – an der Kaba durch die neue Religion als gefährdet an. Da die Anhänger des Propheten Muhammad sich eher aus sozialschwachen Kreisen rekrutierten, fiel es den Machthabern leicht, diese zu unterdrücken. Aufgrund der Intensität der Verfolgungen wanderten die Muslime daher ab 622 n.Chr. in die Stadt Medina aus und konnten dort von nun an ihre Religion öffentlich praktizieren. Nicht nur das, sie waren dann auch in der Lage, sich gegen die Mekkaner kriegerisch zu behaupten. Es kommt daher zu einer Reihe von militärischen Auseinandersetzungen, die mit der Eroberung der heiligen Stadt Mekka endeten.3 Nach dem Tod des Propheten Muhammad 632 n.Chr. entstanden mit der Zeit unterschiedliche Islamische Reiche, wobei den Europäern vor allem das Osmanische im historisch-kollektiven Gedächtnis präsent ist. Das liegt nicht nur darin, dass es sich erst 1922 auflöste, sondern auch an seiner langen Präsenz in Südosteuropa sowie den beiden Belagerungen Wiens im Jahre 1529 und im Jahre 1683. Obwohl die Beziehung zwischen dem Osmanischen Reich und dem Europäischen Kontinent auf den Feldern von Wirtschaft, Politik und Kultur sehr vielschichtig war, wird dieses Verhältnis auf die geführten Kriege reduziert.

Diese Skizzierung zeigt bereits, dass Religion oft reduktionistisch auf ihr Konfliktpotenzial hin diskutiert wird. Zudem wird oft ausgeblendet, dass die Kriege nicht immer religiös, sondern politisch oder ökonomisch motiviert und somit kaum mit der religiösen Lehre kompatibel waren. Ein näherer Blick auf die Geschichte der Religion müsste daher vielmehr ihre Ambivalenz herausarbeiten. Wie Hans Küng zu Recht darauf hinweist, hat Religion immer ein Wesen und Unwesen. Das gilt übrigens für alle Religionen und nicht nur für die monotheistischen. Denn die gängige These lautet: Die Intoleranz sei dem Ein-Gott-Glauben immanent.4 Andere Gottheiten, Götter usw. werden nicht geduldet, wie es explizit vom „eifersüchtigen Gott“ in den zehn Geboten offenbart wird: Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Historische Beispiele wie die Christenverfolgung im Römischen Reiche sowie die Drangsalierung und Verfolgung der Muslime durch die polytheistischen Mekkaner in der frühmekkanischen Epoche (610–623 n.Chr.), als der Islam verkündet wurde, zeigen, dass auch nicht-monotheistische Weltanschauungen intolerant sein können. Ein Vorwurf – neben machtpolitischen Interessen vor allem der mekkanischen Oligarchie – war der Traditionsbruch mit der Religion der Urväter, die man über Jahrhunderte durch den polytheistischen Kult pflegte. Ein aktuelles Beispiel liefert die Massenvertreibung und Verfolgung von Muslimen in Myanmar durch Buddhisten, die nicht zu den monotheistischen Traditionen zählen.

 

Aktuelle Beispiele belegen aber auch, dass säkulare Ideologien genauso eine Quelle von Gewalt und Konflikten sein können. Die meisten Kriege im 20. Jahrhundert waren nicht religiös bedingt, worauf José Casanova zu Recht hinweist. Sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg waren keine Religionskonflikte, sondern basierten auf säkularen Ideologien bzw. Interessen (Nationalismus, geopolitische Interessen usw.).5 Ebenso wurzeln die gegenwärtigen globalen Konflikte wie in Syrien nicht primär in religiösen Fragen. Gefährlich wird es nur dann, wenn diese politischen Krisen mit religiösen Narrativen untermalt werden. Denn: politische Konflikte kann man lösen, religiöse eher nicht. Exemplifizieren kann man dieses Problem anhand des Nahost-Konfliktes, der zunächst rein ethnisch-politische Ursachen hatte. Im Laufe der Jahrzehnte hat die religiöse Deutung des Problems immer mehr zugenommen, sodass eine friedliche Lösung immer mehr in die Ferne gerückt ist. Ebenso war der Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien – der mittlerweile zu einem internationalen Konflikt geworden ist – nicht religiös begründet, sondern es ging um den Sturz eines Diktators. Überhaupt war der Auslöser des „Arabischen Frühlings“ nicht religiös motiviert, sondern demokratisch.

Rückkehr von Religion im Mantel des Fundamentalismus

Das Beispiel Syrien führt auch vor Augen, wie schnell ein Machtvakuum durch extremistisch-religiöse Gruppen gefüllt werden kann. Von Anbeginn des Bürgerkrieges gab es zwar extremistische Splittergruppen, die eine gemeinsame Opposition gegen das diktatorische Regime in Syrien verhinderten, doch der Aufstieg des sogenannten „IS“ (Islamischer Staat) hat dem religiös umgedeuteten Krieg zu einer neuen Dimension verholfen. In einem rasanten Tempo hat der IS geografisch expandieren können und sich zu einem der gefährlichsten internationalen militantterroristischen Netzwerke entwickelt. Besonders auf junge Menschen hat das Netzwerk eine hohe Anziehungskraft ausgeübt, sodass allein aus den westlichen Gesellschaften mehrere Tausend junge Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sich dem IS angeschlossen haben. Lange Zeit handelte es sich bei den Salafisten um ein männliches Phänomen, allerdings hat sich das seit den „IS-Bräuten“ geändert. Zahlreiche Frauen aus westlichen Gesellschaften sind nicht nur in die Kriegsgebiete ausgereist, sondern übernehmen mittlerweile auch Führungspositionen.

Die Geschichte islamisch-extremistischer Gruppen lässt sich dabei bis in die frühislamische Gemeinde zurückverfolgen. Die erste Gruppe, genannt „Kharidschiten“, die im 7. Jahrhundert entstanden ist, weist bereits alle typischen Merkmale von religiösem Extremismus auf:

– Sie beansprucht für sich das religiöse Interpretationsmonopol,

– sie versteht sich selbst als Richter und Henker zugleich,

– sie zeichnet sich durch Null-Toleranz gegen Andersdenkende

– und Legitimierung von Gewalt auf dem Hintergrund religiöser Textstellen aus.

Im Laufe der Historie sind dann immer wieder – vor allem in Zeiten von politischen Umbrüchen – Gelehrte und Strömungen aufgekommen, die ähnliche Merkmale aufwiesen und die bis heute als geistige Väter von extremistischen Gruppen der Gegenwart fungieren. Allerdings handelt es sich bei diesen Erscheinungen eher um quantitative Randphänomene. Erst mit der Moderne treten muslimische Chefideologen des Extremismus auf, die religiöse Texte und Symboliken politisch interpretieren und versuchen, einen muslimischen Staat zu legitimieren. Nicht nur das, auch werden Mittel wie Gewaltanwendung, Selbstmordanschlag usw. geheiligt, die zur Erreichung der Ziele als erforderlich gesehen werden. Was die fundamentalistischen Autoren nicht kritisch reflektieren, ist die Tatsache, dass ihre Ideen, Terminologien wie Staat, Regierungssystem usw. Produkte der Moderne sind und keinesfalls aus den religiösen Texten oder aus der islamischen Geschichte heraus abgeleitet werden können.6

Insgesamt ist der Fundamentalismus wirkungsgeschichtlich ein Produkt der Moderne. Das kann man nicht nur an den abrahamischen Religionen exemplifizieren, sondern auch am Buddhismus oder Hinduismus. Sie sind als Reaktion auf die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaften entstanden. Aus Angst, dass die Religion völlig aus der individuellen und gesellschaftlichen Sphäre verschwindet, sollte die Formel „Back to the Roots“ eine Wiederbesinnung auf die Fundamente der Religion bewirken. Denn der Rationalisierungsprozess, so wie ihn Max Weber für die christlich-abendländischen Gesellschaften identifizierte und analysierte, hat nicht nur die politischen, ökonomischen oder wissenschaftlichen Systeme erfasst, sondern ebenso die Religion. Die Folge dieser Entwicklung ist nicht nur die Auflösung von Traditionen, sondern auch die Rationalisierung der Theologien. Am Beispiel des christlichen Fundamentalismus, der in den USA seinen Ursprung hat, werden durch die Rückbesinnung auf die „Five Fundamentals“ diese Umkehrungsversuche deutlich.7

Im islamischen Kontext hat der Fundamentalismus allerdings zwei Formen hervorgebracht: Einen traditionellen Fundamentalismus, der ähnlich wie die christlichen Fundamentalisten sich einem rationalen Diskurs völlig verschließt und auf die wortwörtliche Auslegung der heiligen Schriften pocht. Im Rahmen des „cultural lag“ in islamisch geprägten Ländern ist zu erwarten, dass diese Bewegung mit zunehmender Modernisierung noch erstarken wird. Daneben existiert ein rationaler Fundamentalismus, der historische, symbolische bzw. metaphorische Zugänge zum heiligen Text erlaubt, wenn sie dem Ziel einer „islamischen“ Staatsform dienlich sind. Beide Formen sind seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bis heute aktiv.

Salafisten in Deutschland – eine neue fundamentalistische Jugendbewegung

Im Rahmen der Arbeitsmigration nach Deutschland wurde auch fundamentalistisches Gedankengut importiert. Die Rahmenbedingungen in Deutschland wie neue potenzielle Mitglieder, Finanzquellen, demokratische Rechtsordnung usw. haben dazu beigetragen, dass sich im Laufe der 1970er, 1980er und 1990er Jahre zahlreiche fundamentalistische Gruppierungen hierzulande niedergelassen haben. Oft sind zudem wichtige Führungspersonen als politische Flüchtlinge eingereist und haben sich als solche im religiösen Feld eine Position verschafft. Trotz der Heterogenität war diesen Gruppierungen gemeinsam, dass sie

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