50 Jahre Frauenstimmrecht

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Begründung: Staatsbürgerschaft und Männlichkeit

In dem obigen Entscheid des Bundesgerichts von 1923 wird noch etwas Weiteres deutlich. Zur Begründung, dass allein Männer Schweizer sind, wird auf «uraltes Gewohnheits- oder Gesetzesrecht» und auf einen «tief eingewurzelten Rechtszustand» verwiesen. In diesem althergebrachten Selbstverständnis hatte, so heisst es, «niemand eine derartige Änderung im Auge»18, dass dereinst mit dem Wort «Schweizer» auch die Frauen gemeint sein könnten und sie auf dieser Grundlage das Stimmrecht einfordern.

Ausdrücklicher lässt sich kaum sagen: Die Schweiz ist ein «Männerstaat»19 mit einem zutiefst männerbündischen Verständnis von Staat und Demokratie. Und dies ist nicht etwa ein feministischer Begriff, vielmehr eine Selbstzuschreibung. So wird auch explizit von «Männerstimmrecht»20 gesprochen. Ein Selbstverständnis, das nicht umsonst im Ursprungsmythos des Rütlischwurs als einem zentralen Element des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz jährlich neu aufgerufen und bekräftigt wird: In ihm konstituiert sich die Schweiz als ein Bund von wehrhaften Männern und verantwortungsvollen Familienvätern (auch wenn inzwischen an diesem Ritual auch Frauen teilnehmen dürfen).

Trotz aller Beteuerungen, der Begriff «Schweizer» sei neutral und stehe für alle, es bräuchte die unschönen Aufzählungen von Schweizern und Schweizerinnen nicht, zeigt gerade der Kampf ums (Frauen-)Stimmrecht: Mit dem Wort «Schweizer» waren nur die Männer gemeint. Mit der Folge, dass Schweizerinnen erst mit den Verfassungsänderungen 1971 politisch und ab 1988 auch zivilrechtlich gleich­berechtigt waren.

Hintergrund ist die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, wie sie sich im Zuge der Etablierung der bürgerlich hetero­patriarchalen Gesellschafts- und Geschlechterordnung herausbildet. Mit dieser Trennung ging eine Zuordnung von einerseits Beruf, Militär, Politik als ausschliesslich männlichen Bereichen und andererseits der Einschluss der Frauen in die Familie als weiblichem Bereich einher sowie die Auf- bzw. Abwertung dieser Bereiche.

Begründet wurde dies mit den natürlichen Geschlechterdifferenzen zwischen Männern und Frauen. In einem Dreischritt wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen natürlichen körperlichen Geschlechterdifferenzen, damit einhergehenden unterschiedlichen Fähigkeiten sowie der Zuordnung zu den unterschiedlichen Bereichen Beruf/Militär/Politik/Öffentlichkeit und Familie/Reproduktion/Privatheit. Entsprechend dieser Zuweisung ist der bürgerliche wehrhafte Mann für das urdemokratische Recht der Selbstgesetzgebung (Autonomie) befähigt, das heisst nur den Gesetzen zu gehorchen, denen er zugestimmt hat.21 Dabei wird zudem eine «Identität zwischen Soldat und Bürger»22 unterstellt. Die bürgerliche «wehrlose» Frau hingegen ist als Mutter und Ehefrau für die Sorge um Familie, Kinder und Ehemann zuständig; sie ist passiv, emotional und schutzbedürftig. All dies disqualifiziert sie für den beruflichen wie den politischen Bereich: Weiblichkeit wird mit Staatsbürgerschaft unvereinbar.23

Mit anderen Worten: Staatsbürgerschaft, Demokratie und die Ausübung des Stimmrechts sind konstitutiv mit Männlichkeit verbunden, mehr noch: Sie sind essentiell für die Herstellung und Selbstvergewisserung bürgerlicher Männlichkeit. Die Verweigerung des Stimmrechts ist aus Sicht der Männer folglich nur konsequent: Die Gewährung des Frauenstimmrechts und damit die Präsenz von Frauen im politischen Raum stellen eine Bedrohung sowohl männlicher Suprematie als auch einer der zentralsten Möglichkeiten der Re-Produktion von Männlichkeit dar.

Begründung: Geschlechterdifferenzen – und die Frage des Unrechts

Die Idee der Rechtsgleichheit gilt als wesentliches Element der Demokratie.24 Es stellt sich daher die Frage, wie der Ausschluss der Frauen aus dem Stimmrecht rechtlich eigentlich legitimiert wird. In der bereits angesprochenen Botschaft von 1957 finden sich hierzu einige aufschlussreiche Passagen.

Die Verwirklichung der Rechtsgleichheit der Frauen stösst, heisst es dort, auf «ganz besondere Schwierigkeiten», weil sie «fast alle Gebiete unserer Rechtsordnung, des öffentlichen und privaten Rechts, und unserer sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse tangiert»25. Hier wird ausdrücklich konstatiert, dass eine Rechtsungleichheit zwischen Männern und Frauen besteht. Mehr noch, sie ist so grund­legend, dass sie alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht. Ihre Überwindung impliziert daher nicht nur «eine Menge rechtlicher, gesetzgeberischer, politischer, sozialer, psychologischer und anderer Fragen»26. Sie erfordert zudem einen grundlegenden Wandel der gesamten Gesellschaft. Entsprechend wird erleichtert festgestellt, dass es beim Frauenstimmrecht nicht um «die Frage der Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne schlechthin [geht], welche das letzte Ziel der Frauenbewegung zu sein scheint, […] sondern nur um die Prüfung der politischen Stellung der Frau»27.

Trotz allem bleibt die Frage, ob die Verweigerung des Stimmrechts gegen das Gleichheitsgebot verstösst. Hierzu wird nochmals betont, die «Rechtsgleichheit als positives Recht [hat] nur unter den in der Bundesverfassung selbst enthaltenen Vorbehalten Geltung»28. Denn Rechtsgleichheit meint, «dass Gleiches gleich, Ungleiches aber ungleich behandelt werden muss»29. Bestehen «erhebliche Unterschiede» lässt sich «eine unterschiedliche rechtliche Behandlung […] begründen»30. Und was «erheblich ist, bestimmt sich dabei nach den im Zeitpunkt des Erlasses eines Rechtssatzes bestehenden Verhältnissen und der in jenem Moment massgebenden Auffassung von Recht und Gerechtigkeit»31.

Nun bestanden, so heisst es weiter, als die Verfassung formuliert wurde, zweifellos erhebliche Geschlechterunterschiede. Daher ist die Verweigerung des Stimmrechts weder ein Verstoss gegen die Verfassung oder die Gerechtigkeit noch stellt sie ein Unrecht dar. Was hier gesagt wird, ist: Die Frauen sind (bislang) keine dem Mann gleichwertigen Menschen, deshalb ist es kein Unrecht, sie nicht als gleichwer­tige Menschen zu behandeln.

In dieser Argumentation zeigt sich, was ich als «die Dialektik des bürgerlichen Gleichheitsverständnisses»32 bezeichne. Danach impliziert Gleichheit, dass zwar von geringen Unterschieden abgesehen werden kann, ja abgesehen werden muss; nicht jedoch von «erheb­lichen» Unterschieden, wie eben die Verschiedenheit der Geschlechter. Die Anerkennung als Menschen mit gleichen Rechten basiert hier also auf der Anerkennung ihrer Gleichheit im Sinne von Identität. Während Verschiedenheit – ob reale oder unterstellte – gesellschaftliche Ungleichheit und damit Diskriminierung rechtfertigt. Der Diskurs natürlicher Geschlechterdifferenzen sowie die modernen Rassentheorien dienten genau dem Beleg grundlegender Verschiedenheit und damit zur Legitimation des Ausschlusses aus den Menschen- und Bürgerrechten.

Im Jahre 1957 stellt sich für den Bundesrat jetzt allerdings die Frage, «ob die Verschiedenheit des Geschlechts noch immer als erheblich genug angesehen werden müsse, um die Zurücksetzung der Frauen in den politischen Rechten zu rechtfertigen, oder ob die Gleichstellung der Geschlechter heute als ein Gebot der Gerechtigkeit zu gelten habe»33.

Entsprechend finden sich längere Ausführungen darüber, ob sich die Unterschiede inzwischen relevant verringert haben. Und es wird festgestellt, dass sich nicht nur «die Stellung der Frau in Familie, Gesellschaft und Wirtschaft» grundlegend gewandelt hat, sondern das «gleiche gilt auch von der Frau selbst (hinsichtlich Bildung, Erfahrung und Betätigung in der Öffentlichkeit) und von ihrer Einstellung zur Gesellschaft», so dass jetzt «die rein tatsächliche Emanzipation […] der Gesetzgebung vorauseilt»34.

Die Gesetzgebung hinkte also schon damals ausdrücklich der «tatsächlichen Emanzipation» der Frauen hinterher. Der Wandel sei sogar so weitgehend, dass eine «Angleichung der Frau an den Mann, insbesondere im Sinne ihrer Vermännlichung»35 stattgefunden hat. Entsprechend sei der Zeitpunkt gekommen, an dem der Frau das Stimmrecht zu gewähren nicht nur ein «Gebot der Gerechtigkeit», sondern auch der Demokratie sei.36

Massstab für das «vermehrte gesellschaftliche Ansehen» der Frau37 ist also der Mann. Die Frau muss dem Mann fast gleich bzw. identisch sein, um das Recht auf gleiche Rechte zu haben. Allerdings sei die «Vermännlichung» der Frau in der Schweiz glücklicherweise nicht so weit fortgeschritten wie in anderen Ländern 38. Letztendlich wird jedoch festgestellt, dass «die Unterschiede des Geschlechts […] nicht mehr als erheblich genug betrachtet werden [können], um den Ausschluss der Frau von den politischen Rechten zu rechtfertigen» 39.

 

Aus diesem Grund wird abschliessend in der Botschaft des Bundesrates 1957 für die Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts ohne jeglichen Vorbehalt in eidgenössischen Angelegenheiten und für eine Verfassungsrevision in diesem Sinne plädiert.40 – Trotzdem hat es bekanntlich noch bis 1971 gedauert. So stimmten in der ersten Volksabstimmung 1959 die männlichen Stimmbürger mit klarer Mehrheit gegen die Einführung des Frauenstimmrechts.

Angesichts dieser Argumentation fragt man sich jedoch, ob die erneute Verweigerung spätestens mit der Feststellung des Bundesrates 1957, wonach nach eigener Rechtsvorstellung der Regierung der Ausschluss der Frauen aus dem Stimmrecht nicht mehr (ganz) rechtens war, nicht eben doch schon Unrecht war.

Schluss: Kollektives Gedächtnis und die Frage des historischen Unrechts – ihre Bedeutung für heute

Ebenso stellt sich die Frage: Wie kommt es, dass diese lange Geschichte des Kampfes der Frauen bislang kein Teil des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz ist? Während das kulturelle Gedächtnis nach Jan Assmann vor allem das wissenschaftlich basierte Erinnern in Form von Forschungen, Ausstellungen, Archiven ist, ist das kollektive Gedächtnis eine politisch und medial ausgearbeitete Form des offiziellen Erinnerns in Unterrichtsmaterial, Denkmälern, Reden, Festen und Ritualen.41 Das heisst, das kollektive Gedächtnis stellt die Selbststilisierung und Affirmation einer Gesellschaft mit dem Ziel der Stiftung einer nationalen Identität dar. Um dieses Selbstbild wird gesellschaftlich ständig gerungen: Was, wer und wie erinnert wird oder nicht, ist stets Ergebnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse, und es ist bis heute zutiefst vergeschlechtlicht.

Teil des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz zu sein, würde kollektive Formen bedeuten, in denen die Geschichte des Frauenstimmrechts erinnert und seine Errungenschaft öffentlich gefeiert würde. Damit aber könnte sich stets erneut die Frage stellen, ob die wiederholte Verweigerung des Stimmrechts nicht doch Unrecht gewesen ist. Eine Frage, die bislang öffentlich zu stellen vermieden wurde, die aber spätestens mit der Botschaft von 1957 klar mit Ja zu beantworten ist. Denn ab da war die Verweigerung des Frauenstimmrechts – sogar im eigenen Selbstverständnis – ein Verstoss gegen die Demokratie und die Gerechtigkeit und damit Unrecht.

Nach Aleida Assmann hat Verschweigen meist mit «Schuld und Scham» zu tun. Es fehlt «der Wille zur Thematisierung»42 und dient dazu, vor «etwas Irritierendem, Unbewältigtem und Unpassendem» die Augen zu verschliessen.43 Möglicherweise hat also das Schweigen über die späte Einführung des Frauenstimmrechts im kollektiven Gedächtnis der Schweiz etwas mit Schuld und Scham zu tun?

Es kann aber auch sein, dass die Verweigerung des Stimmrechts noch immer nicht wirklich als Unrecht begriffen wird. Man(n) sich nach wie vor im Recht dünkt. Schliesslich waren die patriarchalen Geschlechterverhältnisse doch schlicht selbstverständlich.

Vielleicht aber wird es inzwischen sogar als Unrecht erkannt. Dies offiziell als solches anzuerkennen, wäre jedoch etwas anderes. So gab es bislang noch keinen öffentlichen Akt der Entschuldigung. Eher findet man Versuche, sich und anderen immer wieder zu bestätigen, dass es kein Unrecht war – obwohl es spätestens, wie gezeigt, mit der Botschaft von 1957 als solches gewusst war. Ein solches Eingeständnis würde einen Bruch bedeuten. Doch kollektive Identität lebt von Kontinuität und Selbstgewissheit. Auch gälte es dann, eine andere Geschichte der Schweiz zu erzählen, eine, die nicht nur von Stolz über die eigenen (männlichen) Taten geprägt ist, wie es im Narrativ des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz bislang der Fall ist. Mit der Bewältigung von Unrecht tun sich viele Gesellschaften in ihrem Bedürfnis nach positiver Selbststilisierung schwer; die Schweiz ist da keine Ausnahme. Dies hat sich auch an der Verdrängung des Unrechts im Zweiten Weltkrieg gezeigt oder am langen Schweigen über das Unrecht an den «Verdingkindern» sowie im Zuge der eigenen Kolonialgeschichte.

Aber möglicherweise geht es noch um etwas anderes: An die Geschichte des Kampfes um das Frauenstimmrecht zu erinnern hiesse, aufmerksam zu machen auf die zutiefst männerbündische Struktur der Schweiz. Hiesse, den Blick auf mögliche Reste des patriarchalen Verständnisses in Demokratie und Gesellschaft zu richten sowie auf die tiefsitzende Auffassung natürlicher Geschlechterdifferenzen und der damit verbundenen Legitimierung der Diskriminierung von Frauen*. Die derzeit heftigen Polemiken von konservativen bis rechtsextremen Personen und Gruppen gegen den Feminismus und inzwischen mehr noch gegen die Geschlechterforschung, die sowohl am wissenschaftlichen Erinnern arbeiten als auch am Aufzeigen der nach wie vor heteropatriarchalen Gesellschafts- und Geschlechterordnung, machen nur zu deutlich, wie stark der Wille zur Bewahrung, wenn nicht Reaktivierung traditioneller Geschlechterverhältnisse ist. Schweigen vermeidet solch offizielles Erinnern an ebendiese patriarchale Struktur.

Die Feierlichkeiten 2021 zum 50-jährigen Jubiläum der Gewährung des Stimmrechts für Frauen wäre allerdings eine optimale Gelegenheit, dieses Schweigen zu durchbrechen. Eine Chance, einen (selbst)kritischen Blick auf die – bei allem Wandel – nach wie vor diskriminierenden Geschlechterverhältnisse und das patriarchale Verständnis von Demokratie zu richten. Eine Chance, diese Geschichte des Kampfes zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz werden zu lassen. Mehr noch: Es ist eine Chance, endlich offiziell anzuerkennen, dass die Verweigerung des Stimmrechts Unrecht war. Es ist an der Zeit.

Anmerkungen

1 Beatrix Mesmer: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht. Zürich 2007; Yvonne Voegeli: Zwischen Hausrat und Rathaus. Zürich 1997.

2 Meta von Salis: Die unerwünschte Weiblichkeit. Hg. von Doris Stump. Zürich 1988: 34. Von Salis war die erste promovierte Historikerin der Schweiz und eine bekannte Aktivistin für Frauenrechte.

3 Julie von May von Rued: Frauen-recht; in: Bund, 17. und 24. Oktober 1869: 3.

4 Ebd: 4.

5 Marie Goegg-Pouchoulin: Die Rede von Marie Goegg in Bern 26.9.1868, FrauenMediaTurm, das Archiv und Dokumentationszentrum, www.frauenmediaturm.de/themen-portraets/feministische-pionierinnen /marie-goegg/auswahlbibliografie/rede-in-bern (Zugriff am 10.4.2020).

6 Bundesblatt Nr. 10. Bern. 7.3.1957: 697. Die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts in eidgenössischen Angelegenheiten vom 22.2.1957 ist eine ausführliche Stellungnahme des Bundesrates anlässlich zweier Pos­tulate von Ständerat Picot und Grendelmeier zu dieser The­matik (im Folgenden zit. als Botschaft).

7 Siehe Olympe de Gouges [1791]: Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin. In: Schröder, Hannelore (Hg.): Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation. Bd. I 1789–1870, München 1979.

8 Botschaft 1957: 697.

9 Ebd.: 782.

10 Ebd.: 783.

11 Der letzte kantonale Versuch wurde 1989 im Kanton Appenzell unter­nommen. Vgl. hierzu in diesem Buch den Beitrag von Isabel Rohner.

12 Botschaft 1957: 699.

13 Botschaft 1957: 700.

14 Ebd.

15 Beide Vereine umfassten immerhin fast 40 Prozent der Schweizer Frauen.

16 Botschaft 1957: 727; siehe Yvonne Voegeli: Zwischen Hausrat und Rathaus. Zürich 1997: 333.

17 Iris von Roten: Frauenstimmrechts-Brevier. Basel 1959: 13.

18 Botschaft 1957: 782f.

19 Ebd.: 680.

20 Ebd.: 674.

21 Siehe Botschaft 1957: 733f. zum Selbstbestimmungsrecht und der Frage, ob dies nicht ein Menschenrecht ist, das nun auch den Frauen «als Gebot der Demo­kratie» (ebd. 734) zugesprochen werden muss.

22 Ebd.: 740.

23 Caroline Arni: Republikanismus und Männlichkeit in der Schweiz. In: Der Kampf um gleiche Rechte. Hg.: Schweizerischer Verband für Frauenrechte. Basel 2009: 20–31.

24 Botschaft 1957: 666.

25 Ebd.: 668.

26 Ebd.

27 Ebd.: 670.

28 Ebd.: 730.

29 Ebd.: 731.

30 Ebd.

31 Ebd.

32 Maihofer: Geschlechterdifferenz – eine obsolete Kategorie? In: Grisard, Dominique/Jäger, Ulle/König, Tomke (Hg.): Verschieden sein. Nachdenken über Geschlecht und Differenz. Sulzbach/Taunus 2013: 27ff.

33 Botschaft 1957: 731.

34 Ebd.: 732.

35 Ebd.

36 Ebd.: 735.

37 Ebd.

38 Ebd.

39 Ebd.: 771.

40 Ebd.: 795.

41 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. München 2018: 35ff.

42 Aleida Assmann: Formen des Schweigens; in A. Assmann/J. Assmann (Hg.): Schweigen. Paderborn 2013: 57.

43 Ebd.: 60.

«Ich wollte in jeder Beziehung so gut sein, dass niemand sagen kann: Die Frauen können das nicht.»


Foto Keystone

 

Elisabeth Kopp, geboren 1936, war von 1984 bis 1989 die erste Bundesrätin der Schweiz und damit die erste Frau in der Landes­regierung. Sie hat Jura studiert und setzte sich früh fürs Frauen­stimmrecht ein. Als Gemeinderatsmitglied ab 1970 und ab 1974 als erste Gemeinderatspräsidentin in der Deutschschweiz engagierte sie sich jahrelang auch auf kommunalpolitischer Ebene.

Ganz oder gar nicht – ein bisschen gleichberechtigt sein geht nicht
Elisabeth Kopp, erste Bundesrätin der Schweiz, im Gespräch mit Isabel Rohner und Irène Schäppi

Frau Kopp, 2021 feiern wir in der Schweiz 50 Jahre Frauenstimmrecht. Was bedeutet Ihnen das persönlich?

Es ist ein Jubiläum. Aber ich hätte das Frauenwahlrecht lieber 50 Jahre früher gehabt. Zumindest ist es 1971 gekommen. Das war sehr spät – aber das können wir jetzt nicht mehr ändern. Das ist unsere Geschichte, und wir müssen das Beste daraus machen.

Können Sie sich noch an die erste Abstimmung über das Frauenstimmrecht 1959 erinnern?

Oh ja. Ich war damals in einem der letzten Semester meines Jurastudiums an der Universität Zürich. In einer Pause haben wir in einer Gruppe von Studentinnen und Studenten über das Frauenstimmrecht und die anstehende Abstimmung diskutiert. Ich war natürlich dafür – und viele Männer dagegen, hauptsächlich einer. Ich erinnere mich noch genau, wie dieser junge Mann zu mir gesagt hat: «Also weisst du, Elisabeth, ich verstehe das überhaupt nicht, dass du dich so einsetzt für das Frauenstimmrecht. Du bist doch sonst eine ganz normale Frau.» Ich habe ihn angeschaut und geantwortet: «Ja, ich bin eine ganz normale Frau – und genau darum setze ich mich für das Frauenstimmrecht ein!» Das muss man sich mal vorstellen: So etwas kam von einem jungen Mann, der Jura und die Menschenrechte studierte – und der fand es abnormal, dass eine Frau sagt: «Wir wollen die gleichen Rechte wie Männer!» Meine Antwort ist ihm eingefahren. Gescheitert ist die Abstimmung 1959 trotzdem.

Wann haben Sie festgestellt, dass Frauen und Männer nicht dieselben Chancen und Möglichkeiten haben?

Ich wurde vom Feminismus schon als Teenager infiziert. Ich kann mich an zwei Begebenheiten erinnern: Einmal hat mich der Rektor meiner Schule in Bern ins Rektorat bestellt und mich gefragt, was ich eigentlich in einem Gymnasium verloren hätte: Ich würde doch nur einem Jungen den Platz wegnehmen und selber nicht für mehr als eine Eisrevue taugen. Eislaufen war damals meine grosse Leidenschaft. Ich war so wütend auf meinen Rektor. Wenn er gesagt hätte, ich würde jemandem den Platz wegnehmen, der – geschlechtsneutral! – mehr für die Schule arbeitet, dann O.K. Aber diese Argumentation war für mich damals schon nicht in Ordnung.

Dann haben Sie den Feminismus aber schon ganz schön früh entdeckt.

Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, hat mein Vater einmal in Muri, wo wir wohnten, einen Vortrag gehalten über irgendeine Finanzreform. Er war damals Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung. Ich habe ihn gefragt, ob ich mitkommen kann, und er meinte: «Du wirst zwar nichts davon verstehen, aber wenn du willst, kannst du mitkommen.» Da bin ich mit. Als ich in den Vortragsraum gekommen bin, war der Saal schon ziemlich voll. Ich habe mich in die hinterste Reihe in die Ecke gesetzt, so konnte ich den ganzen Raum sehen. Und mir ist aufgefallen, dass nur zwei weibliche Wesen anwesend waren: Ich und die Serviertochter. Da trat der Veranstaltungsleiter ans Podium und weil er mich hinten in der Ecke sitzen sah, begann er seine Rede mit «Meine Damen und Herren». Dabei habe ich vor mir nur so «beglatzte» Köpfe gesehen, die sich erst verwundert und dann zunehmend empört zu mir umsahen. Sie fragten sehr offen, was denn eine Frau hier drinnen verloren habe. Wieder zu Hause habe ich das meiner Mutter erzählt. Ihre Antwort: «Das ist halt, weil Frauen kein Stimmrecht haben. Darum gehen sie auch nicht an solche Veranstaltungen.» Ich weiss noch, wie ich zu meiner Mutter gesagt habe: «Aber das geht doch einfach nicht! Das muss man doch ändern.» Und meine Mutter hat geantwortet: «Ja, das wird sich auch einmal ändern irgendwann. Aber wahrscheinlich dauert es noch lange.»

Was hat diese Aussage in Ihnen ausgelöst?

Empörung! Ich war voller Empörung. Auch dass die Männer damals so irritiert waren und fragten, was ich denn in diesem Saal verloren hätte. Solche Momente gab es auch später immer wieder. Ich weiss noch, dass ich einmal als gewählte Gemeindepräsidentin44 – ich war damals in der Deutschschweiz die einzige Frau in dieser Funktion und dementsprechend viel in der Presse –, an einer Sitzung aller Gemeinden teilgenommen habe. Das Thema war das kommunale Abfallwesen. Ich bin in den Saal gekommen und habe mich auf einen freien Stuhl gesetzt. Da dreht sich mein Sitznachbar zu mir um und sagt: «Gut, dass Sie hier sind, Fräulein. Sie kommen, um das Protokoll zu schreiben, nicht wahr?» Erst wollte ich wütend werden und ihn fragen, ob er eigentlich keine Zeitung liest. Dann habe ich es aber anders gemacht und gesagt, dass ich sehr gern bereit bin, in der ersten Hälfte das Protokoll zu schreiben, wenn er es in der zweiten Hälfte übernimmt.

Und? Was war seine Reaktion?

Er wurde rot wie ein Granatapfel. Plötzlich war ihm klar, dass ich dieselbe Funktion und Stellung hatte wie er. Aber meine Reaktion war doch ziemlich elegant, oder? (lacht)

Was war Ihre Motivation, in die Politik zu gehen?

Zwei Jahre, bevor die Frauen auf Bundesebene das Stimmrecht bekamen, hatten sie in einigen Gemeinden ein Stimmrecht, wenn es um Gemeindeangelegenheiten ging. Als dies bei uns 1969 in Kraft trat, haben die Zumiker Frauen sofort geschnallt, was das für die anstehenden Gemeinderatswahlen im Ort bedeutet. Die Präsidentin des Frauenvereins kam auf mich zu und sagte mir, dass sie mich aufstellen wollten.

Und wie haben Sie darauf reagiert?

Ich war überrascht und habe um Bedenkzeit gebeten. Ich hatte zwar mein Studium mit einem Summa cum laude abgeschlossen – übrigens als erste Frau der Fakultät! –, aber ich hatte noch kein Anwaltsexamen. Das wollte ich damals machen. Und ich wollte diese Frage auch mit meinem Mann besprechen. Der schaute mich nur mit grossen Augen an und sagte: «Hör mal, du kannst dich doch nicht jahrelang fürs Frauenstimmrecht einsetzen und dann eine Kandidatur ablehnen, wenn du gefragt wirst!» Da hatte er natürlich recht – und so habe ich der Kandidatur zugestimmt und wurde 1970 in den Gemeinderat gewählt.

Und wie ging es weiter?

Drei Tage nach der Wahl war schon die konstituierende Sitzung. Dort wurden als erstes die Ressorts verteilt. Die Männer haben sich auf die Finanzen gestürzt und auf Hochbau. Für mich blieb «Gesundheit und Fürsorge» übrig. Mein erster Impuls war, das als typische Frauenthemen abzutun. Ich habe aber meine Meinung sehr schnell revidiert, denn zu meinen ersten Aufgaben gehörte auch die Planung und die Baubegleitung von einem Schwimmbad in Zumikon. Nach dem Willen des Gemeinderats sollte es ein Hallenbad werden, bei dem eventuell später mal ein Freibad angegliedert werden konnte. Aus meiner Sicht war das Blödsinn. Was sollten denn die Frauen mit kleinen Kindern im Sommer machen? Da nutzte doch ein Hallenbad gar nichts. Und irgendwann einmal vielleicht ein Freibad – das hielt ich für reine Aufschieberei. Ich wollte alles gleichzeitig bauen. Dem Gemeinderat passte das nicht, aber sie liessen sich auf eine Abstimmung in der Gemeindeversammlung ein – und diese Abstimmung habe ich haushoch gewonnen. Für mich ist das ein Beispiel, das ich auch bei Vorträgen oft erwähne, denn es zeigt: Frauen setzen in der Politik oft andere Prioritäten, weil sie Auswirkungen auf Frauen und Kinder stärker im Blick haben. Darum ist es so wichtig, dass Frauen und Männer gleichermassen in der Politik vertreten sind.

War das nicht eine absurde Situation, gewählte Gemeinderätin zu sein mit Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten – und gleichzeitig formal nicht dieselben Rechte wie ein Mann zu haben?

Absolut. Es war ein grosses Ärgernis.

Warum hat es so lange gedauert, das zu ändern?

Damals hiess es in der Verfassung: Jeder Bürger ist vor dem Gesetz gleich. In der Praxis hiess das: Die Männer konnten abstimmen und wählen, aber die Frauen nicht. Es war eine kleine Gruppe, ich war auch dabei, die der Meinung war, dass der Sinn dieses Passus sei: Jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich – nicht spezifisch Männer oder Frauen. Aber die Auslegung war Gewohnheitsrecht – und um das Gewohnheitsrecht zu ändern, muss man die Verfassung ändern. Dazu braucht es eine Mehrheit der Kantone und eine Mehrheit der Stimmberechtigten, und das war ein dickes Brett.

Können Sie sich noch an den 7. Februar 1971 erinnern, als die Männer tatsächlich Ja gesagt haben zum Frauenwahlrecht?

Natürlich. Ich war damals im Vorstand der Frauenzentrale, und wir Frauen haben es gross gefeiert.

Haben Sie damit gerechnet, dass das Stimmrecht 1971 durchkommt?

Mehr gehofft, als damit gerechnet. Mir war klar: Der politische Druck war hoch, und ewig konnten sie es nicht verklemmen. Die Männer machten sich und die Schweiz ja lächerlich. Darum war ich auch sehr froh, als es angenommen wurde – ich wollte nicht, dass sich die Schweiz weiter lächerlich macht. Im Vorfeld der Wahl war ich fast jeden Abend unterwegs, habe Vorträge gehalten, an Diskussionsrunden teilgenommen. Und so wie mir ging es vielen engagierten Frauen. Umso grösser war die Freude, als wir es endlich geschafft hatten.

Wann haben Sie sich entschieden, sich parteipolitisch zu engagieren?

Das kam erst viel später. Als Gemeinderätin war ich noch in keiner Partei. Die FDP kam irgendwann auf mich zu, weil sie mich für den Erziehungsrat des Kantons Zürich aufstellen wollten.45 Auch dort war ich die erste und einzige Frau. Das war in Gremien immer mein Schicksal, im Gemeinderat, später als Gemeindepräsidentin und dann im Bundesrat. Ich hätte viel dafür gegeben, nicht immer die Erste und Einzige sein zu müssen, sondern noch zwei, drei Kolleginnen zu haben.

Wir sind sehr froh, dass Sie es gemacht haben!

Danke! Solche Rückmeldungen sind auch heute noch echte Highlights für mich.

Auf uns haben Sie schon als Kinder bzw. junge Frauen immer sehr «perfekt» gewirkt.

Ich würde es nicht so ausdrücken. Ich wollte einfach in jeder Beziehung so gut sein, dass niemand sagen kann: Die Frauen können das nicht. Das war mein Ziel und mein Ehrgeiz – und übrigens auch mein erster Gedanke, als ich damals bei der Bundesratswahl nach vorne gegangen bin, um die Wahl anzunehmen. Ich wollte den Frauen den Weg ebnen – womöglich auch in jeder Beziehung.

Ist das nicht eine grosse Bürde?

Doch natürlich. Es war eine riesige Bürde und ein grosser Druck. Auch für meinen Mann war das nicht lustig, aber er hat mich immer unterstützt. Als ich das erste Mal in den Nationalrat gewählt wurde, gab er mir zur Feier ein kleines Schächtelchen. Es war ein unscheinbares Ding, nicht schön eingepackt – ich dachte: Gut, dass es kein Schmuck ist. Ich habe es aufgemacht, es lag ein ganz normaler Schlüssel drin. Ich war etwas ratlos und mein Mann sagte: «Weisst du, ich kenne dich gut genug. Du kannst tagelang arbeiten, aber du musst irgendwo zu Hause sein. Darum habe ich dir in Bern eine Wohnung gekauft.» Da dachte ich, jetzt kenne ich diesen Mann schon so lange und immer noch gelingt es ihm, mich zu verblüffen. Ich war wahnsinnig froh. Unter den männlichen Politikern löste es aber oft Unverständnis aus, dass ich eine eigene Wohnung hatte. Lustigerweise wurde ich oft gefragt, was denn mein Mann dazu sagen würde.