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Deutsche Humoristen

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Also, wie ich nun so viel Grog hatte, als ich ungefähr vertragen konnte, verfiel ich in einen Schlaf; ich hatt' gerade noch Zeit, mich in der Koje auszustrecken und den Schafpelz überzudecken, und weg war ich. Und hab' denn auch die ganze schöne Nacht in Frieden geschlafen.

Und zuletzt hatt' ich einen Traum, daß eben das Eis unter mir bräche und ich mit aller Gewalt ins Wasser sauste, immer tiefer, immer tiefer; und ich hörte im Sinken das Wasser an meinen Ohren vorüber rauschen und rauschen und immerfort rauschen –

Und meine Angst wurde so groß, daß ich davon aufwachte. Und ich fuhr in die Höhe, stieß mir den Kopf und horchte. Denn es war etwas zu hören. Wahrhaftig, es rauschte immer noch, über mir, um mich her, rauschte und rauschte –

Himmeldonnerwetter, was sollte das sein? Nu natürlich, Regen war's, richtiger, strammer Pladderregen.

Also mit dem Tauwind hatte es doch seine Richtigkeit gehabt. Das war eine nette Bescherung. Da saß ich nun richtig im Gefängnis, konnte nicht mehr ausbrechen, und kein Mensch konnte zu mir 'rankommen. Denn wenn das Eis gestern schon so teuflisch geknistert und geknackt hatte, wie sollte das erst heute werden nach der Regennacht? Daran war gar nicht zu denken, wieder aufs Eis zu gehen, außer um schnell ein Ende zu machen.

Und daran dacht' ich nun aber wirklich. Denn was hatt' ich sonst für schöne Aussichten? Bis das verdammte Eis ganz aufging und die Schiffahrt frei wurde, das hatte gute Weile bei allem Tauwetter, wenn nicht etwa gleich Hundstagshitze kam. Bis dahin würd' ich gerade in aller Gemütlichkeit verhungert sein – denn zu essen hatte der Hallunke von Schiffer nicht eine Brotrinde dagelassen, und der Rum würde auch bald alle sein – außer wenn mich vorher ein Sturm faßte und umschmiß oder leck machte.

Da kriegt' ich's richtig mit der Verzweiflung. Mit der niederträchtigen, gemeinen, unchristlichen Hundeverzweiflung.

Das einzige ist, dacht' ich, du machst es wie mancher Matrose, wenn das Schiff nicht mehr zu halten ist und alles aus ist: du säufst Rum bis zur Bewußtlosigkeit, und dann mit einem Sprung aufs Eis und durchs Eis ins Wasser. –

Und das dacht' ich nicht bloß so wie ein Hanswurst, um mich selbst graulich zu machen, sondern in verdammtem Ernst, und war, weiß Gott, nicht mehr weit ab davon, die Flasche vor den Kopf zu nehmen.

Da mit einem Male – bum – bam – bum – bam – bum – bam – was ist das? Da fängt es draußen an zu dröhnen und zu summen und zu singen und zu klingen – bum – bam – bum – bam – richtiges, offenbares Glockengeläut, und das so laut und fest, als ob der Kirchturm nicht ein paar hundert Schritt von meinem Kahn ab sein könnte.

Allmächtiger Gott, dacht' ich, was sind das für Neuigkeiten? Entweder bist du wahnsinnig geworden von der Angst, oder – und mir kam die alte Geschichte in den Sinn, daß in der versunkenen Stadt Vineta manchmal die Glocken läuten sollen unter Wasser: aber wer das Läuten gehört hat, ist ein verlorener Mann und sieht das Land nie wieder – Und das bist du jetzt, und also sind das deine Totenglocken.

Aber Vineta liegt weit draußen in der Ostsee bei Streckelberg, wie kann man da das Läuten bis hier hören? Ja, dafür sind es Zauberglocken; christliche Glocken läuten auch erst nach dem Tode, nicht vorher.

Indessen ging das draußen ruhig weiter – bum – bam – bum – bam – immer schöner, immer freundlicher.

Ich machte die Augen zu, und da kam es mir vor, als ob es die Weihnachtsglocken wären. Und ich faltete die Hände und dachte an die Zeiten früher, wenn am heiligen Abend die Glocken gingen und dann gleich der Baum angesteckt wurde und aufgebaut war – mein Gott, was alles für Herrlichkeiten! – Und wie nachher immer mein erstes gewesen, noch schnell am Abend zu Heinz Wichards zu laufen, seine Sachen zu besehen und meine zu zeigen und zu teilen, was zu teilen war – ja wahrhaftig, wir hatten alles Gute damals geteilt als gute, treue Kameraden, ohne Neid und giftige Eifersucht bis –

Und in diesem Augenblick hatte ich nur den einen Wunsch und eine recht bitterliche Sehnsucht, meinen Heinz nur einmal noch vor meinem Ende zu sehen, ihm um den Hals zu fallen und – na, ihm eine Kleinigkeit abzubitten.

Bum – bam – bum – bam –

Und nun klang es langsam, feierlich aus und wurde ganz still, ganz still.

Und an der schauerlichen Stille merkte ich erst sicher, daß die wunderbaren Glockentöne doch kein Hirngespinst, sondern irgend etwas Wirkliches gewesen waren.

Ich hielt es nicht mehr aus in der dumpfen Kajüte, stand auf und ging aus der Tür ins Freie.

Da war es schon Morgen, ein trüber und regnerischer Morgen, aber Tageslicht.

Da tat ich einen lauten Schrei, aber wahrhaftig, zuerst nur vor Schreck und nicht vor Freude.

Dicht neben mir lag noch ein zweiter langer Haffkahn, ebenso eingefroren – und weiterhin ein anderer Küstenfahrer – und da eine holländische Kuff – und da ein abgetakelter Schoner – alle dicht nebeneinander, als ob das so sein müßte mitten auf dem Haff.

Und wieder besserhin – allmächtiger Vater – da lag ein großer Schiffsrumpf, aber nicht im Eis, sondern auf dem Stapel, halbfertig – und fünfzig Schritt von mir ist Land – Häuser – ein Kirchturm – ein altes Schloß – ganz offenkundig und reinlich unser altes pommersches Herzogsschloß –

Und nun faßte ich noch einmal an meinen Kopf und dacht', ich wäre wahnsinnig geworden vor Angst und Verzweiflung.

Aber ganz und gar nicht. Ich war klar und vernünftig wie nie.

Na nu kam's alles 'raus. Da hatte ich Unglückswurm also die ganze Nacht in meinem Elend gesessen, fünfzig Schritt weit von meinem Ziel. Und wäre gestern ganz bequem noch zur rechten Zeit gekommen, wenn ich's nur gewußt hätte. Aber welcher Mensch sollte auch auf den Gedanken kommen, daß er vom Haff, ohne es zu merken, auf die überschwemmten Wiesen geraten kann!

Na, Gott sei gelobt und gepriesen, daß ich's nicht gewußt habe! Das bißchen Angst habe ich redlich verdient, und alles Übrige war in schönster Ordnung.

Aber eine tolle Sache war's doch. Solchen Augenblick wie den erlebt man nicht zweimal im Leben.

Ich hätte jetzt aber wer weiß was drum gegeben, wenn die Glocken noch einmal geläutet hätten. Aber das taten sie nicht, sondern blieben in ihrem Schweigen.

Da packte mich die Sehnsucht nach einem Menschengesicht, und am meisten nach meinem alten Heinz. – Und eine Viertelstunde später hatte ich meinen Heinz und konnte ihm nach Herzenslust um den Hals fallen und ihm eine Kleinigkeit abbitten. Und ich habe ihm, weiß Gott, nichts vorgelogen. Von der Stunde an sind wir die alten Freunde geblieben wie in unserer Kindheit, soweit seine jetzige Gelehrsamkeit das zuläßt.

Mit der schönen Hersilie aber gab es zuletzt noch eine neue Überraschung.

Der Heinz nämlich lachte so recht gemütlich und sagte:

»O lieber Junge, unsere Hersilie ist schon seit dem Sommer – lange ehe ihr Vater starb – heimlich verlobt mit einem jungen Leutnant; nur daß sie leider vorläufig noch nicht ans Heiraten denken können, weil sie beide zu arm sind. Aber auch ohne das wäre es mir gar nicht eingefallen, noch an die alte Flamme zu denken – weißt du, ich habe inzwischen schon eine neue Jugendliebe verschmerzt – sondern ich bin wirklich nur um die antiken Fragmente hergekommen. Mit den Dingern bin ich freilich auch angeführt, ich habe sie gestern Abend noch besichtigt; sie sind rein gar nichts wert, nicht einmal der Frauentorso in der Hausnische, höchst mittelmäßige Arbeit aus spätrömischer Zeit, wie sie in Italien und Griechenland an jeder Landstraße zu finden sind. Wunderlich genug, daß der Alte sich mit dem Kram geschleppt hat; er muß doch nicht viel davon verstanden haben.

Übrigens ein merkwürdiges Beispiel, wie einem die jugendliche Illusion mitspielt oder die idealisierende Kraft der Erinnerung: ich hätte darauf geschworen, der Torso wäre ein gutes Stück und eines guten Preises wert. – Mit Hersilien ist's anders: die ist ein nett Mädchen und nicht häßlicher geworden, und nicht dumm. Ob sie aber zur Gelehrtenfrau gepaßt hätte, ist mir doch fraglich, und zur Seemannsfrau vielleicht erst recht nicht. Darüber können wir uns beruhigen. Aber ein nett Mädchen ist sie.«

So urteilte mein Heinz, und er ist wirklich ein Kenner, für Marmor sowohl wie für Frauenzimmer.

Otto Ernst:
Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben

Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers und des Verlegers abgedruckt aus dem Buche »Vom geruhigen Leben. Humoristische Plaudereien über groß und kleine Kinder« (Leipzig: Verlag von L. Staackmann, 1903).

Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben

Wer je in seinem Leben den vortrefflichen Roman »Auch Einer« des noch vortrefflicheren Humoristen Friedrich Theodor Vischer gelesen hat, der wird sich auch in späteren Jahren noch mit Behagen erinnern, daß der Dichter ein Erkleckliches und Erquickliches zu reden weiß von der »Tücke des Objekts«. Man wird sich desgleichen erinnern, daß der Dichter unter solcher »Tücke des Objekts« die große Summe der kleinen Hindernisse versteht, die uns von äußeren und zufälligen Umständen gerade bei unseren wichtigsten und erhabensten Handlungen in den Weg geworfen werden. Eine große Tat vollbringen, ist keine Kunst, wenn man im entscheidenden Augenblicke nicht durch Niesen oder durch das Platzen einer Naht an ihrer Vollbringung gehindert wird. Das ist der Sinn der Vischerschen »Tücke des Objekts«.

Hat nun der mehrfach benannte Poet aus Württemberg die Vermessenheit besessen, den Humor des hirnzerschlitzenden Nasen-Rachenkatarrhs und der unzeitig geplatzten Hosennähte recht ausführlich zu kultivieren, solcher Dinge also, die eines großen Hintergrundes durchaus entbehren und die geradezu dem schlimmen Verdachte Raum geben, der Autor habe ehrenhafte deutsche Mitbürger mit Bewußtsein zum Lachen gereizt: so geht der ganz unwürdige Verfasser dieser Plauderei in seinem Unterfangen gar so weit, der reinen Vernunft jenes Spaßmachers noch seine vermeintlich praktische Vernunft hinzuzufügen. Der ganz unwürdige Schreiber dieser Zeilen ist nämlich nicht nur davon überzeugt, daß so etwas wie die Tücke des Objekts in Wahrheit vorhanden sei, sondern er lebt auch des Glaubens, daß es eine Weise gebe, ihr erfolgreich zu begegnen.

 

Schwerer als auf anderen Zeiten der schwarze Tod, lastet auf unserem Zeitalter die Seuche des grellen Lebens. Es ist die ansteckende, hartnäckige, tragikomische Krankheit, die man Nervosität nennt. Sie ist tragikomisch von einer schlimmen Art: wer von ihr befallen ist, dem ist sie sehr tragisch – den anderen aber meist komisch. Oder sie halten sie für eine Lumperei, von der man kein Wesens machen sollte. Ich finde, man soll viel, viel Wesens von ihr machen. Denn obwohl sie dem einzelnen meistens das Leben läßt, ist sie eine tödliche Krankheit. Manchen tötet sie 24mal an einem Tage; was aber mehr bedeutet: sie tötet Völker und Generationen.

Sehr wahrscheinlich, daß sie eine Ansteckungskrankheit ist wie Chauvinismus und Grippe, Bigotterie und schwarze Pocken und ihr spezifisches Kontagium hat, das zu allen Zeiten auftreten kann. Gewiß ist aber, daß sie in unserer Zeit eine besondere »Disposition« vorfindet. Kein Märchen von »guter, alter Zeit« ist es, daß unsere Väter zu allen ihren Taten wundervoll viel Zeit hatten. Sie waren gewiß so lebendig und fleißig wie wir; aber wenn der Blitz ihr Haus in Brand steckte, so rauchten sie, bevor sie hinausgingen, noch eine lange Pfeife. Wollt ihr noch die Abendröte jenes Zeitalters genießen, so geht in eine Kleinstadt; dort wächst noch alte Zeit zwischen den Pflastersteinen. Du verabredest dich mit deinem Freund in der Kleinstadt für Punkt zwei Uhr zu einem gemeinsamen Gange. Naiv, wie du als Großstädter bist, erscheinst du Punkt zwei Uhr oder auch eine Minute früher auf dem Posten. Dein Freund empfängt dich mit einer leichten Überraschung im Blick, erklärt aber, er werde gleich bereit sein und habe nur noch einen Blick in den Stall zu tun. Nach dreiviertel Stunden kommt dein Freund aus dem Stalle, unschuldig wie ein Schaf, und tut gar nicht, als ob irgend jemand sich zu entschuldigen hätte. Er ist überzeugt, daß du dich mit seinem Großvater, der dir von sämtlichen Fleisch- und Gemüsesorten die Preise zu Anfang und zu Ende des vorigen Jahrhunderts vorgerechnet hat, vortrefflich unterhalten habest. Ihr wollt gerade gehen, als die Gattin bemerkt, daß ihr Mann mit dem Hut unmöglich auf die Straße gehen könne, und daß der andere Hut beim Hutmacher sei.

»Ach, dann schick' eben die Anna zum Hutmacher und laß ihn holen, ja? Mein Freund nimmt noch 'n Augenblick Platz, nicht wahr?«

Aber natürlich. Warum nicht? Time is money. Man muß es einmal ansehen, mit welcher Nervenruhe diese Leutchen auf Anna und den Hut warten. Sie sind noch nicht wieder zurück, als Verwandtenbesuch aus dem benachbarten Dorfe erscheint. Bis dieser Besuch ordnungsmäßig empfangen ist und sich auf mehreren Stühlen in Linie entfaltet hat, vergeht eine Viertelstunde. Der Besuch erzählt, daß Onkel Thomsen sich eine Ziege gekauft und der kleine Franz sich die Finger verbrannt hat. Es ist ganz selbstverständlich, daß du mit anhörst, wie Onkel Thomsen sich eine Ziege kaufte und der kleine Franz sich die Finger verbrannte. Inzwischen empfindet die Hausfrau, daß es Zeit zum Kaffeetrinken sei, und meint, eine gute Tasse Kaffee würdest du »im Fluge« gewiß noch mitnehmen. Freilich, freilich. Dir ist jetzt schon alles egal. Die Zeit ist dir nur noch eine leere, nichtssagende Form der Vorstellung. Du kannst von hier aus ja gleich zum jüngsten Gericht gehen, wenn die Zeit knapp werden sollte. Nachdem der Kaffee mit allen Vorsichtsmaßregeln aufgetragen und er sowohl wie zahlreiche Butterbrote in einem sehr gedeihlichen Tempo genossen worden sind, erklärt dein Freund ohne jede Anwandlung von Schwäche, daß es jetzt, um halb fünf Uhr, doch zu spät für den verabredeten Gang sei, aber man könne ihn ja ebensogut morgen um zwei Uhr unternehmen.

Leben sie nicht, diese guten Leute, wie in einem Schlaraffenlande, wo Milch, Zeit und Honig in vollen Bächen fließt, und wo man, wenn das Leben ausgetrunken ist, wieder einschenkt? Wo man selbst den Tod so lange bei Wein und Politik hinhält, bis er gemütlich die Sense in den Winkel lehnt und sagt: »Auf ein paar Jahre kommt mir's nicht an?« Und derweilen sich diese Leute in Zeit wälzen wie Ferkel in der Kleie, lebst du in der Großstadt – nicht nach einem Stundenplan, o nein – nach einem Halbeminutenplan. »4 Uhr 15 ist der Vortrag zu Ende; 4 Uhr 17½ Minuten ist die grüne Straßenbahn an der Ecke der Pfälzerstraße, in 2½ Minuten kann ich sie erreichen: in 15 Minuten, also 4 Uhr 32½ ist sie am Moltkeplatz; wenn ich Glück habe, erwische ich dort die rote Bahn und fahre mit dieser in 14½ Minuten nach der Domgasse; wenn ich die Beine nachziehe, kann ich in 13 Minuten an der Esplanade sein und komme dann eben rechtzeitig um 5 Uhr zur Konferenz.« Hast du aber kein Glück – und mit Straßenbahnen hat man nie Glück – dann fällt deine ganze Tagesordnung über den Haufen wie ein Kartenhaus, das auf den großen Zeiger einer Turmuhr gebaut wurde; über den ganzen Rest des Tages fällt der Schatten der versäumten 10 Minuten; alles ist verschoben, alles verdreht und verspätet; die Galle tritt ins Blut, und in jener halben Minute, die du zu spät zur roten Bahn erschienst, hast du einen Tag verloren.

Oder du sitzest in deinem Bureau oder Kontor und prüfst eine Statistik, die morgen abgeliefert werden muß. Ha, denkst du, die Eingabe des Herrn X. muß ja noch heute erledigt werden! Und dann das Attest, das Frau Y. erbeten –! Ja, richtig, der Z. wartet schon drei Tage auf die Empfangsbestätigung für seine Sendung – und dann muß der Bericht an die Behörde angefangen werden; es sind nur noch acht Tage bis zum Einlieferungstermin – I, sollte nicht heute eine Sitzung des Wohlfahrtsausschusses sein? (Du suchst längere Zeit nach einem Papier.) Richtig: Sitzung am 3. Juni morgens 11 Uhr – es ist jetzt ¾ 12 – also versäumt! Hm – dem Dr. N. hab' ich noch gar nicht auf seine Einladung zum Diner geantwortet; es hat, glaub' ich, vor 14 Tagen stattgefunden – halt! Hab' ich eigentlich schon meine Feuerversicherung erneuert? Nein – nein! Und dabei gewittert's jetzt alle Tage, und überall schlägt's ein! Zum Augenarzt komm' ich auch nicht mit meinem Bindehautkatarrh – ach ja, das Buch über Lungenheilstätten von Dr. M. sollt' ich ja lesen, das liegt schon seit Weihnachten hier – hab' ich eigentlich schon dem Fräulein O. geantwortet? Ah, da muß ich doch aber gleich – nein, erst muß P. Bescheid haben, daß ich – oder nein, noch eiliger ist der Brief an Q.; die andern kann ich heute Abend – Donnerwetter, heute Abend ist ja der Vortrag von Professor R.; wenn ich da nicht hinkomme, wird er mir sein Lebtag nicht wieder – ja, was ist denn das, heut' Abend hab' ich ja Gesellschaft im eigenen Hause –

Du bist längst aufgesprungen und rennst wie eine vergiftete Ratte an allen vier Wänden der Zeit hinauf, um ein Loch zu finden. Da tritt dein Diener ein und sagt: Herr Soundso (wie du nun eben heißt), es ist höchste Zeit, aufs Gericht zu gehen, sonst wird Ihre Klage als zurückgezogen betrachtet! Du greifst nach deinen Stiefeln, und indem du natürlich den linken Stiefel auf den rechten Fuß zu ziehen versuchst, fallen dir fünf notwendige Besuche, sieben wichtige Sitzungen und neunzehn dringliche Briefe ein; du stürzest davon, kehrst aber in der Tür wieder um und rufst dem Diener zu: »Lieber Meyer, mir fällt ein, ich habe auf 1 Uhr dem Porträtmaler eine Sitzung versprochen; sagen Sie, ich wäre plötzlich abgerufen worden, und dann gehen Sie sofort hin und bezahlen Sie die Einkommensteuer, die hab' ich total vergessen; der Gerichtsvollzieher ist schon dagewesen und hat Zettel angeklebt …«

Und so kommst du vor tausend Arbeiten zu keiner einzigen und erleidest das graueste Elend, das diese Welt gewährt: der Katzenjammer nach einer übervollen Nacht ist Himmelsfreude gegen den Kater nach einem leeren Tage!

Armer, verstörter Geist, ruheloses Herz, gequälter Zeitgenosse und Mitmensch, komm' zu uns und empfange Frieden in den Armen der

Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben.

Siehe, wir nennen uns nicht die »Brüder vom ruhigen Leben«, sondern »Brüder vom geruhigen Leben«, woraus du ersehen mögest, daß wir Zeit haben. Nachdem du so vielen Vereinen und Ausschüssen beigetreten bist, tritt endlich diesem bei, den ich mit anderen weisen Männern gegründet habe und der dich alle anderen Vereine ertragen lehrt. Du hast bereits dein Eintrittsgeld in der Hand – festina lente – höre und erwäge wohl, bevor du handelst.

Ich seh' es dir an: du wähnst, ich lüde dich zu einem Klub der Wurschtigkeit, in welchem man lebt nach dem Grundsatze: »Nachher ist alles eins; in der Nacht des Todes sind alle Katzen grau, und obendrein sieht, wer tot ist, kein Grau und keine Katze.« Irre dich nicht. Unsere Brüderschaft lebt das Leben mit eifriger Aufmerksamkeit und reger Kraft.

Oder glaubst du, wir schraubten uns und unsere Welt zurück in die Zeiten der Väter, die sich an dem Blitz, der ihr Haus entzündete, eine lange Pfeife entbrannten? O nein, mein Freund, unsere Brüdergemeinde weiß, daß Leben nicht zurück kann; Leben kann immer nur vorwärts.

Unsere Gemeinschaft weiß, daß Reize und Sorgen den Menschen von heute zehnfach so stark bestürmen wie seine Vorfahren. Es ist wahr: der Ernst des Lebens und die Lust des Lebens reißen sich um die moderne Menschenseele mit einem Ungestüm, das ehemals unerhört war. Wir Kinder dieses goldenen Zeitalters der Technik und der Wissenschaft sind ein Geschlecht von Parvenus, und unter diesen Parvenus sind wir Deutschen noch ein besonderes Stück emporgekommen. Wer aber so jählings emporkommt, dem wird schwindelig. Das ist das Schicksal der Parvenus.

Arbeit und Genuß tanzen uns vor den Augen, daß uns wirblig wird und alles sich mit uns im Kreise dreht. Wir haben den Überblick verloren; wir haben noch nicht gelernt, über die neue, unerwartete Fülle zu disponieren. Ruhig gesehen ist über die Hälfte geschafft. Wir werden hineinwachsen in unsere Aufgabe; wir werden sie bewältigen, wie jedes vorhergegangene tapfere Geschlecht. Aber noch flimmert's uns vor den Augen. Die einfachsten, banalsten Gebote der Ordnung, der Beschränkung und Überlegung sind uns abhanden gekommen, und bei wem du eintrittst, suchst du vergebens nach der philosophischen Hausapotheke.

Erwarte daher nicht orphische Weisheit, nicht rabendunkle Urworte aus Morgendämmerungen der Menschheit, der du eintrittst in unsere Gemeinschaft! Es sind die gewöhnlichen Rhabarbertropfen der Seelentherapie, die du hier findest; was aber das Eigentümlichste ist, sie stehen nicht da in verstaubten Fläschchen sondern sie werden angewandt. Wer in die Brüdergemeinschaft aufgenommen wird, leistet zuvor einen heiligen Eid, daß er ihr alle seine Sünden gegen ein geruhiges Leben beichten, sich den über ihn verhängten Bußen unterwerfen und die Lehren der Weisen mit Ehrerbietung hören und redlich befolgen werde.

In großen, ehrwürdigen Protokollen ist niedergeschrieben, was in den sonnabendlichen Konventen gebeichtet, verhandelt, geurteilt und gelehrt worden, zu denkwürdigem Zeugnis von der gewaltigen Macht und Tücke des Kleinen und von der Überwindung solcher Macht. In diesen heiligen Büchern mit mir zu blättern, bist du nunmehr, teuerster Leser, herzlich gebeten.