Kostenlos

Aus meinem Leben. Zweiter Teil

Text
Autor:
Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die dritte Generation des ersten deutschen Reichstags

Ende April 1872 war der Reichstag wieder zusammengetreten. Eben genesen, reiste ich nach Berlin und hielt am 1. Mai eine Rede zu dem Antrag Hoverbeck und Genossen, betreffend die Abschaffung der Salzsteuer. Ich wendete mich in der Rede gegen die gesamten indirekten Steuern auf notwendige Lebensbedürfnisse. Die besitzenden Klassen suchten in ihrem Klasseninteresse dieses System aufrechtzuerhalten und weiter auszubauen; sie suchten sich den Staatslasten, wo sie könnten, zu entziehen, aber sie machten die direkten Steuern zum Maßstab der politischen Rechte. Ob das Haus glaube, daß solche Zustände die Versöhnung der verschiedenen Klassen herbeiführten? Das Gegenteil werde erreicht; da dürfe sich die Bourgeoisie nicht wundern, wenn ihr alsdann von uns gesagt werde, was Tell über Geßler sagte: Mach' deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt, fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufen. (Stürmisches Gelächter.) Eugen Richter erklärte: Er wolle mir nicht antworten, das hieße meiner Person und meiner Doktrin eine Bedeutung beimessen, die sie nicht habe. Ich polemisierte darauf gegen Richter in einer persönlichen Bemerkung; seine geringschätzende Bemerkung gegen mich solle nur verdecken, daß ihm die Gründe zu meiner Widerlegung fehlten. Richter antwortete: Er hielt mich durchaus nicht für so unbedeutend, daß es sich nicht lohne, mir zu antworten, aber er hielt mich, wenigstens zurzeit noch nicht, für so bedeutend wie den Reichskanzler (Heiterkeit), darum habe er keine Zeit gehabt, mir zu antworten. —

Im Jahre 1872 ging der „Kulturkampf“ seinem Höhepunkt entgegen, jener „Kulturkampf“, der der größte politische Fehler war, den Bismarck in der inneren Politik machte, und der der innerpolitischen Entwicklung Deutschlands eine höchst verderbliche Richtung gab. Bismarck hatte das Jesuitenausweisungsgesetz dem Reichstag vorgelegt, um das ein heftiger Kampf entbrannte. Bei der dritten Lesung am 19. Juni kam ich zum Worte. Ich führte aus: Der englische Kulturhistoriker Buckle bemesse den Kulturgrad eines Volkes nach der Bedeutung, die religiöse Streitigkeiten bei demselben fänden. An diesem Maßstab gemessen, müßten wir in Deutschland auf einem tiefen Kulturgrad stehen. Keiner Frage werde seit längerer Zeit so viel Aufmerksamkeit geschenkt als der religiösen Frage. Freilich, die religiösen Auffassungen stünden in inniger Verbindung mit dem sozialen und politischen Zustand eines Volkes. Sei das Zentrum im Hause so stark vertreten, so nicht etwa bloß seiner religiösen Anschauungen wegen, sondern namentlich auch wegen der sozialen und politischen Interessen, die es vertrete. Die rückständigen ökonomischen Schichten im katholischen Volke schlössen sich mit Vorliebe dem Zentrum an, die anderen kapitalistischen Schichten den Liberalen. Der Protestantismus, einfach, schlicht, hausbacken, gewissermaßen die Religion in Schlafrock und Pantoffeln, sei die Religion des modernen Bürgertums. Der ganze Kampf sei, soweit die Religion in Frage komme, nur ein Scheinkampf, in Wahrheit bedeute er den Kampf um die Herrschaft im Staate. Wolle die liberale Bourgeoisie ehrlich den Fortschritt, müsse sie mit der Kirche brechen, denn die Bourgeoisie habe in Wahrheit keine Religion. Für sie sei die Religion nur Mittel zum Zweck, um die Autorität zu stützen, die sie brauche, und um in den Arbeitern willige Ausbeutungsobjekte zu erziehen.

Man sage, der Jesuitismus habe mit dem Katholizismus nichts zu tun. Das sei falsch. Der Jesuitismus sei die festeste Stütze des Katholizismus, und insofern habe das Zentrum recht, wenn es sage, der Kampf gegen den Jesuitismus sei ein Kampf gegen den Katholizismus. Die Verteidiger der Vorlage behaupteten, sie wollten durch dieselbe den Frieden herstellen; das Gegenteil werde erreicht; sie würden nicht den Frieden bekommen, sondern den Krieg.

Man sage ferner, das Dogma von der Unfehlbarkeit sei staatsgefährlich. Das könnte ich nicht einsehen. Schließlich ständen alle Dogmen mit der Wissenschaft und der gesunden Vernunft in Widerspruch und seien von diesem Gesichtspunkt aus ebenfalls staatsgefährlich. (Heiterkeit.) Je ungeheuerlicher ein Dogma ist, und das sei das von der Unfehlbarkeit des Papstes, um so mehr Widerspruch finde es bei allen Denkenden. Man behaupte auch, der Jesuitismus sei unmoralisch. Der Staat habe aber allezeit verdammt wenig nach der Moral gefragt, und der Reichskanzler sei der letzte, dem diese Sorge mache. Was den Reichskanzler ärgere, sei, daß man ihn in seiner Politik nicht für unfehlbar halte. (Heiterkeit.) Würden die Jesuiten und die Herren im Zentrum sich bereit erklären, seine Politik zu unterstützen, so könnten sie auf kirchlichem Gebiete tun, was sie wollten. (Sehr richtig.) Je reaktionärer dann der Jesuitismus sei, um so lieber würde es dem Reichskanzler sein. Er wolle nichts weiter, als daß die ultramontane Partei sein Werkzeug werde. Daß man es wage, dem Reichstag einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen, sei ein Zeichen dafür, wie tief man ihn einschätze. (Unruhe.) Die Liberalen suchten durch den Kampf gegen den Jesuitismus nur wieder zu gewinnen, was sie an Kredit bei dem Volk durch Preisgabe aller Volksrechte eingebüßt hätten. Man bekämpfe den Jesuitismus mit einem Ausnahmegesetz, und die Folge werde sein, daß sein Anhang größer werde, als er je gewesen. Die Masse der Menschen sympathisiere mit dem Verfolgten. Es gehe nicht an, ein Gesetz zu erlassen, wonach man einen Menschen heimatlos machen und wie ein wildes Tier von einem Orte zum andern jagen könne. Wir hätten Unterdrückungsgesetze in Deutschland genug, wofür ich Beispiele anführte; wir brauchten keine neuen. Wer habe denn den Jesuitismus gezüchtet? Der Staat. Statt jährlich viele hundert Millionen für Mordwerkzeuge auszugeben, verwende man diese Mittel auf die Bildung des Volkes, das werde dem Jesuitismus mehr schaden als alle Ausnahmegesetze. Man errichte ein auf der Höhe der Zeit stehendes Bildungssystem, man trenne den Staat von der Kirche, man verweise die Kirche aus der Schule, und ehe zehn Jahre vergingen, würde es mit den pfäffischen Wühlereien zu Ende sein. Die Herren könnten dann in Gottes Namen in der Kirche predigen, hin gehe niemand mehr. (Heiterkeit.) Doch das wolle man nicht, sie alle brauchten Autoritäten, deren Hauptstütze die Kirche sei. Man wisse, höre die himmlische Autorität auf, dann falle auch die irdische. Man fürchte, es würde alsdann auf dem politischen Gebiet die Republik, auf dem sozialen der Sozialismus und auf dem religiösen der Atheismus zur Geltung kommen. Ich würde gegen das Gesetz stimmen, müßte aber die Behauptung, Ultramontanismus und Sozialismus seien Verbündete, als eine infame Verleumdung zurückweisen. Es würde dem Ultramontanismus und dem Liberalismus gleich schlecht gehen, wenn wir am Ruder wären. (Unruhe.)

Im Verlauf der Debatte sprach auch Graf Ballestrem, der spätere Präsident des Reichstags. Mit Hinweis auf meine Ausführungen meinte er, wohin man mit Annahme des Gesetzentwurfes steuere, habe meine Rede gezeigt. Verliere das Volk erst den Glauben an das Paradies im Himmel, dann werde es das Paradies auf der Erde verlangen, und das verspreche ihm die Internationale. Ich unterstrich diese Worte, indem ich kräftig „sehr richtig“ rief.

Kurze Zeit danach erzählte man sich im Reichstag einen amüsanten Vorgang. Einige Herren vom Zentrum unterhielten sich in einer Restauration über den katholischen Kirchengelehrten Döllinger und das neue Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Döllinger war heftiger Gegner der Unfehlbarkeitserklärung. Darauf äußerte ein geistlicher Herr, Abgeordneter für München: Glaubt der alte Esel an so viel Unsinn, konnte er auch an diesen glauben. Diese Aeußerung wurde im Reichstag bekannt und viel belacht.

Mein Majestätsbeleidigungsprozeß

Die Anklage gegen Liebknecht auf Majestätsbeleidigung war auf Beschluß der Anklagekammer von der Anklage wegen Vorbereitung auf Hochverrat getrennt und vor das Leipziger Bezirksgericht verwiesen worden. Hier wurde Liebknecht Anfang April freigesprochen. Ende Mai 1872 verwarf das Oberappellationsgericht in Dresden unsere Nichtigkeitsbeschwerde, es war somit das Urteil des Schwurgerichtes rechtskräftig geworden. Liebknecht trat Mitte Juni seine Haft in Hubertusburg an. Ich hatte nach Schluß des Reichstags auch noch eine Anklage zu erledigen. Ich war ebenfalls auf Majestätsbeleidigung, begangen durch Reden in zwei Volksversammlungen im Bezirk der Leipziger Amtshauptmannschaft, angeklagt worden. Ich hatte anknüpfend an das Dankschreiben des Königs von Preußen vom 25. Juli 1870, das mit den Worten schloß: er hoffe, daß die Freiheit und Einheit Deutschlands das Ergebnis des Krieges sein werde, allerlei kritische Bemerkungen gemacht. Ich hatte ausgeführt, daß wir zwar die Einheit bekommen hätten, die Freiheit sei aber ausgeblieben; es sei in dieser Beziehung sogar schlimmer als früher, was ich durch Tatsachen bewies. Es sei eben die alte Geschichte. Seien die Könige in der Verlegenheit, so fehle es nicht an schönen Versprechungen, habe aber das Volk die Opfer gebracht und die Könige gerettet, dann würden die gemachten Versprechen vergessen und nicht eingelöst. In diesen Ausführungen sah die Staatsanwaltschaft eine Majestätsbeleidigung, und der Gerichtshof schloß sich ihr in der Verhandlung am 6. Juli 1872 an, in der ich mich selbst verteidigte. Der Staatsanwalt hatte eine Zusatzstrafe zu der bereits erkannten Festungshaft beantragt. Das Gericht ging über diesen Antrag hinaus und verurteilte mich zu neun Monaten Gefängnis. Da es sich um eine andere Strafart als die mir bereits zuerkannte handelte, fiel die Zusatzstrafe; sonst würden, wenn es bei neun Monaten Festung geblieben wäre, diese mit der schon erkannten Festungshaft wahrscheinlich auf achtundzwanzig Monate zusammengezogen worden sein. Außerdem ging der Gerichtshof noch in einem zweiten Punkte über den Antrag des Staatsanwaltes hinaus, er erkannte mir das Reichstagsmandat ab.

 

Dieser letztere Beschluß war ein großer politischer Fehler von seiner Seite, denn da er mir nicht auch die Wählbarkeit aberkennen konnte, mußte er sich sagen, sein Beschluß werde wirkungslos bleiben, indem meine Parteigenossen mich in meinem bisherigen Wahlkreis wieder aufstellen und mich sicher wählen würden. So geschah es. Meine Wiederwahl wurde für den Gerichtshof eine schallende Ohrfeige. Darüber später.

Unsere Festungshaft und was zwischenzeitlich passierte

Hubertusburg

Am 1. Juli 1872 schrieb mir Bracke einen Abschiedsbrief, dem er äußerte: „Wenn Eure Familien nicht wären, könnte ich fast triumphieren über die Einfalt unserer Feinde! Du zum Beispiel wirst Dich körperlich erholen und viel lernen; dann bist Du ein verdammt gefährlicher Kerl, und schließlich wird Deine liebe Frau auch, trotz des harten Loses der Trennung, zufrieden sein, wenn Du auf diese Weise eine Kurzeit durchmachst, die Dich wieder kräftigt fürs ganze Leben.“ Am 8. Juli, dem Tage meines Haftantritts, veröffentlichte ich folgende Erklärung:

An meine Wähler im 17. sächsischen Wahlkreis!

Freunde und Gesinnungsgenossen! Das Königliche Bezirksgericht zu Leipzig hat die Gewogenheit gehabt, mir wegen ‚Majestätsbeleidigung‘ neben einer neunmonatigen Gefängnisstrafe auch ‚den Verlust der bekleideten öffentlichen Aemter sowie der aus Wahlen hervorgegangenen Rechte‘ abzuerkennen.

Durch dieses Erkenntnis bin ich des mir von euch verliehenen Mandats verlustig geworden.

Freunde und Gesinnungsgenossen! Der Schlag soll nicht nur mich, er soll auch euch, deren Vertreter ich bisher war, er soll die Partei treffen, der wir angehören. Zeigen wir, daß der geführte Schlag ein Schlag ins Wasser ist. Ihr seid vor die Alternative einer Neuwahl gestellt. Ich biete mich euch für dieselbe aufs neue als Kandidat an. Habe ich nach eurer Meinung das in mich gesetzte Vertrauen gerechtfertigt, dann wählt mich wieder.

Seid versichert, die erhaltenen ‚Strafen‘ machen mich nicht mürbe. Festung und Gefängnis sind nicht die Mittel, mir bessere Begriffe über unsere faulen Gesellschaftszustände beizubringen. Die Gesellschaft, die zu solchen Mitteln der Belehrung greifen muß, verdient, daß sie aufhört zu existieren.

Führen wir also den Krieg fort mit aller uns zu Gebote stehenden Kraft und mit aller Fähigkeit; gebt mir durch die Neuwahl das Mittel in die Hand, daß ich auch für die nächsten Jahre mich an diesem Kampfe beteiligen kann. Der Tag kommt, wo auch unsere Stunde schlägt.

Lebt wohl! Auf Wiedersehen zu neuem Kampf und Sieg!“

Am Nachmittag desselben Tages reiste ich nach Hubertusburg. Am Bahnhof hatten sich eine große Zahl Männer und Frauen eingefunden, um sich von mir zu verabschieden. Meine Frau hatte ich gebeten, mit unserem Töchterchen zu Hause zu bleiben. Unter dem Gepäck, das ich mitnahm, befand sich auch ein großer Vogelbauer mit einem prächtigen Kanarienhahn, den mir ein Dresdener Freund als Gesellschafter für meine Zelle geschickt hatte. Er wurde, nachdem ich ihm zu einem Weibchen verholfen, der Stammvater einer Kinder- und Enkelschar, die ich in Hubertusburg züchtete. An der Station Dahlen, an der ich ansteigen mußte, um von dort zu Wagen nach Hubertusburg zu fahren, brachte man mir eine eigenartige Ovation. Als ich ausstieg, standen sämtliche Schaffner an dem langen Personenzug vor ihren Wagen und salutierten, indem sie die Hand an die Mütze legten. Der Lokomotivführer schwenkte die Mütze, ebenso schwenkte ein großer Teil der Passagiere, der in den Fenstern lag, Hüte und Mützen und rief mir Lebewohl zu. Ich war sehr gerührt über diese Zeichen der Sympathie.

Als ich in Hubertusburg ankam und mit Liebknecht zusammentraf, lachte er mich aus, daß ich mir noch neun Monate Gefängnis geholt. Da sei er doch klüger gewesen. Er hatte gut lachen. Er hat nachher für die Artikel, die er heimlich aus Hubertusburg an den „Volksstaat“ schrieb, weit mehr als neun Monate Gefängnis den verantwortlichen Redakteuren aufbrummen helfen. Und wie vorsichtig glaubte er zu sein. Hatte er einen solchen Artikel auf der Pfanne und hegte er Bedenken gegen seine Fassung, so zog er mich zu Rate. Er las mir alsdann die betreffende Stelle vor. Warnte ich ihn, eine mir bedenklich scheinende Stelle im Artikel zu lassen, so versuchte er mir nachzuweisen, daß und warum sie nicht gefährlich sei. Er erhielt alsdann regelmäßig von mir die Antwort: Du würdest recht haben, dächten Staatsanwalt und Richter so wie du. Er kaute alsdann an einem Fingernagel und überlegte sich die neue Fassung. Manchmal war diese aber noch schärfer als die frühere. Er trennte sich sehr ungern von einem Gedanken, mit dessen Veröffentlichung er den Gegner ärgern konnte.

Außer Liebknecht war noch Karl Hirsch und ein Chemnitzer Parteigenosse in der Festungshaft. Vahlteichs Haft war bereits zu Ende, doch sorgten die Gerichte stets für Ersatz. Wir waren meist fünf bis sechs Genossen, darunter zeitweilig auch irgend ein Student, der wegen Duellgeschichten zu kurzer Festungshaft verurteilt worden war. Erst als meine Haft zu Ende ging, war ich der letzte der Mohikaner, den Hubertusburg beherbergt hatte.

Es fiel uns auf, daß wir unsere Haft auf Hubertusburg statt auf der sächsischen Festung Königstein zu verbüßen hatten. Der Grund war, daß auf Königstein sich keine Räume für Zivilgefangene befanden, diese mußten erst erstellt werden.

Hubertusburg ist weiteren Kreisen bekannt geworden durch den 1763 hier abgeschlossenen Friedensvertrag, der den siebenjährigen Krieg beendete. Das Schloß ist ein stattlicher Bau im Zopfstil. Vor demselben dehnt sich ein großer Hof aus, der durch pavillonartige ein- und zweistockige Gebäude eingeschlossen ist, die früher den Hofbeamten und Bediensteten zur Wohnung dienten. Zu unserer Zeit wohnten dort die Beamten der in Hubertusburg vereinigten Anstalten und hatten daselbst ihre Bureaus. Längere Zeit waren Teile der Gebäude als Landesgefängnis benutzt worden. Für uns Festungsgefangene war ein Flügel dieser Bauten reserviert, in dem man sieben oder acht Zellen eingerichtet hatte. Mit Hubertusburg verbunden war ein Siechenhaus und eine Irrenanstalt für Frauen, und eine Pflegeanstalt für blinde und blödsinnige Kinder. Die Insassen dieser Anstalten bekamen wir aber nicht zu sehen. Unsere Zellen besaßen hohe Fenster, die mit Eisenstäben versehen waren. Wir blickten aus den Fenstern in den großen Wirtschaftsgarten, in dem wir unsere Spaziergänge zu machen hatten, und über dessen Mauern hinaus auf Wald und Flur und das in der Ferne liegende kleine Städtchen Mutzschen.

Die Reinigung unserer Zellen besorgte ein sogenannter Kalfakter. Für deren Reinigung und Miete – der Staat gibt auch den Gefängnisraum nicht umsonst – hatten wir monatlich fünf Taler zu zahlen. Unser Essen bezogen wir aus einem Gasthaus des an Hubertusburg grenzenden Wermsdorf. Unsere Tagesordnung war folgende: Morgens 7 Uhr mußten wir angekleidet sein, alsdann wurden die Zellen zwecks der Reinigung geöffnet. Während dieser Zeit frühstückten wir auf dem breiten Korridor, der vor den Zellen hinlief. Diese Pause benutzte Karl Hirsch, um mit einem Zivilgefangenen eine Partie Schach zu spielen, wobei sich die beiden zu unserem größten Ergötzen regelmäßig in die Haare gerieten. Um 8 Uhr wurden wir wieder eingeschlossen bis 10 Uhr, zu welcher Zeit wir unseren Spaziermarsch im Garten unternahmen. Um 12 Uhr wieder Einschließung bis 3 Uhr im Winter, 4 Uhr im Sommer, dann zweiter Spaziergang, von 5 beziehungsweise 6 Uhr ab wieder Einschließung bis nächsten Morgen. Da wir das Recht hatten, bis 10 Uhr abends Licht brennen zu dürfen, waren diese Stunden meine Hauptarbeitszeit. Nach einigen Monaten erlangte ich, daß Liebknecht den Vormittag von 8 bis 10 Uhr in meine Zelle mit eingeschlossen wurde, um mir englischen und französischen Unterricht zu geben. Bei dieser Gelegenheit wurden dann auch die Interna der Partei und die politischen Vorgänge erörtert. Die Korrespondenz für mein Geschäft erledigte ich auf Grund der Unterlagen, die mir täglich meine Frau sandte.

Liebknecht und ich waren passionierte Teetrinker. Tee konnten wir aber nicht erhalten, und das Selbstkochen war der Feuersgefahr wegen verboten. Aber Verbote sind da, um übertreten zu werden. Ich verschaffte mir also heimlich eine Teemaschine und die nötigen Ingredienzien. Sobald am Abend der Aufseher die Zelle abgeschlossen und sich entfernt hatte, begann ich Tee zu brauen. Um aber auch Liebknecht den Genuß desselben zu ermöglichen, hatte ich mir im Garten einen etwa zwei Meter langen Stock zurechtgeschnitten. An dessen Ende befestigte ich eine Schnur, die mit einem von mir geflochtenen Netz versehen war, in das ich das gefüllte Glas stellen konnte. War der Tee fertig, klopfte ich Liebknecht, dessen Zelle neben der meinen lag, damit er ans Fenster trete. Alsdann streckte ich den Stock mit dem Teeglas zum Fenster hinaus, beschrieb mit demselben einen Bogen nach Liebknechts Fenster, worauf dieser, sobald er das Glas in Händen hatte, mit einem: „Ich hab's, danke!“ den Empfang anzeigte. Aehnlich machten wir's mit dem Austausch der Zeitungen, die jeder sobald als möglich lesen wollte. Wir hatten vor den Fenstern der Zellen, längs der Eisenstäbe, eine Schnur ohne Ende angebracht. Wer mit dem Lesen seiner Zeitung fertig war, befestigte diese mit einem Haken an die Schnur, darauf klopfte er dem Nachbar, der alsdann ans Fenster trat und das Zeitungspäckchen zu sich heranlotste.

Kaum hatte ich mich in meiner Zelle häuslich eingerichtet, als ich wie ein Taschenmesser zusammenklappte. Die großen Anstrengungen und Aufregungen der letzten Jahre hatten mir nicht zum Bewußtsein kommen lassen, wie sehr meine Kräfte heruntergekommen waren. Jetzt, wo ich gewaltsam zur Ruhe verwiesen worden war und die Spannung nachließ, brach ich zusammen. Die Erschöpfung war so groß, daß ich wochenlang keine ernste Arbeit vornehmen konnte. Aber absolute Ruhe und frische Luft brachten mich allmählich wieder auf die Füße. Mein Hausarzt hatte recht, als er meine Frau tröstete, ein Jahr Festung werde meiner Gesundheit nützlich sein. Später stellte sich bei einer genauen ärztlichen Untersuchung auch heraus, daß mein linker Lungenflügel stark tuberkulös angegriffen war und eine Kaverne aufwies, die auf der Festung ausheilte. Freunde, die das erfuhren, meinten lachend, da sei ich ja dem Staate Dank schuldig, daß er mich auf die Festung geschickt. Ich antwortete: Dank würde ich ihm schulden, hätte er mich zu meiner Gesundung zu Festung verurteilen lassen. Ich hatte wieder einmal, wie so oft im Leben, „Schwein“ gehabt. Was mein Verderben sein konnte, schlug zum Guten aus.

Nachdem unabänderlich feststand, daß ich für einunddreißig Monate meine Freiheit eingebüßt hatte, entschloß ich mich, diese Zeit mit aller Kraft zu verwenden, um die Lücken meines Wissens einigermaßen auszufüllen.

Sobald ich also wieder arbeitsfähig war, stürzte ich mich mit aller Energie in die Arbeit, das beste Mittel, über eine unangenehme Situation hinwegzukommen. Ich studierte hauptsächlich Nationalökonomie und Geschichte. Zum zweitenmal studierte ich Marx' „Kapital“, dessen erster Band damals nur vorlag, Engels' „Lage der arbeitenden Klassen in England“, Lassalles „System der erworbenen Rechte“, Stuart Mills „Politische Oekonomie“, Dührings und Careys Werke, Lavelayes „Ureigentum“, Lorenz Steins „Geschichte des französischen Sozialismus und Kommunismus“, Platos „Staat“, Aristoteles' „Politik“, Machiavellis „Der Fürst“, Thomas Morus' „Utopia“, v. Thünens „Der isolierte Staat“.

Von den Geschichtswerken, die ich las, fesselten mich besonders Buckles „Geschichte der englischen Zivilisation“ und Wilhelm Zimmermanns „Geschichte des Deutschen Bauernkriegs“. Letztere gab mir die Anregung, eine populäre Abhandlung zu schreiben unter dem Titel „Der Deutsche Bauernkrieg mit Berücksichtigung der hauptsächlichsten sozialen Bewegungen des Mittelalters“. Das Buch erschien bei W. Bracke in Braunschweig; später, unter dem Sozialistengesetz, wurde seine Verbreitung verboten. Eine zweite Auflage, die eine Neubearbeitung erforderte, gab ich wegen Zeitmangel nicht mehr heraus. Auch die Naturwissenschaften vernachlässigte ich nicht. Ich las Darwins „Die Entstehung der Arten“, Häckels „Natürliche Schöpfungsgeschichte“, L. Büchners „Kraft und Stoff“ und „Die Stellung des Menschen in der Natur“, Liebigs „Chemische Briefe“ usw. Ebenso widmete ich dem Lesen der Klassiker einen Teil meiner Zeit. Ich war von einer wahren Lern- und Arbeitsgier befallen.

Ferner übersetzte ich während der Haft „Etude sur le doctrines sociales du Christianisme“ von Ives Guyot und Sigismond Lacroix, eine Uebersetzung, die unter dem Titel „Die wahre Gestalt des Christentums“ bis heute erscheint. Dazu verfaßte ich eine Gegenschrift unter dem Titel „Glossen zu Ives Guyots und Sigismond Lacroix' Die wahre Gestalt des Christentums, nebst einem Anhang über die gegenwärtige und zukünftige Stellung der Frau“. Der letztere Aufsatz war, glaube ich, die erste parteigenössische Abhandlung über die Stellung der Frau vom sozialistischen Standpunkt aus. Die Anregung zu dieser Abhandlung hatte mir das Studium der französischen sozialistischen und kommunistischen Utopisten gegeben. Auch machte ich während dieser Haft die Vorstudien zu meinem Buche „Die Frau“, das zuerst im Jahre 1879 unter dem Titel „Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ erschien und trotz des Verbreitungsverbots unter dem Sozialistengesetz acht Auflagen erlebte. Im Jahre 1910 erschien die 50. und 51. Auflage.

 

Es war schön und nützlich, daß ich die Zeit meiner Gefangenschaft zu meinem eigenen Besten verwenden konnte, nichtsdestoweniger atmete ich auf und begrüßte den Tag, an dem ich meine Freiheit wieder erlangte. Da aber jeder Gefangene, der seiner baldigen Befreiung entgegensieht, von großer Unruhe und Ungeduld gepackt wird und Tage und Stunden zählt, suchte ich dieselbe dadurch zu meistern, daß ich mir vornahm, noch ein Pensum Arbeit zu erledigen, das nur unter äußerster Aufbietung der Kräfte bewältigt werden konnte. Nach dieser Methode verfuhr ich auch bei späteren Freiheitsentziehungen; ich fand sie probat.

Unsere Familien besuchten uns alle drei bis vier Wochen einmal. Wir setzten schließlich durch, daß sie die Gültigkeit der Rückfahrkarten – drei Tage – ausnutzen durften. Sie wohnten während der Zeit im Dorfe. Jede der Frauen brachte ein Kind mit; Frau Liebknecht ihren Aeltesten, der etwas jünger war als meine Tochter. Die Reise war beschwerlich, namentlich in der ungünstigen Jahreszeit. Die Frauen und Kinder mußten schon früh vor 7 Uhr von Hause fort; Geld für eine Droschke auszugeben, hätte jede der Frauen als ein Verbrechen angesehen. Von vormittags ½10 bis abends 7 Uhr durften sie in unserer Zelle bleiben, auch den Spaziergang im Garten mitmachen. Das war für uns eine große Erleichterung der Haft.

Ich hatte ein großes Bedürfnis zu körperlicher Arbeit. So kam ich auch auf den Gedanken, wir sollten uns zu diesem Zweck im Garten einige Beete anlegen. Unser Gesuch, uns dazu ein Stückchen Land zu überweisen, wurde abgelehnt, wir könnten aber von dem mehrere Meter breiten Rain, der sich längs der Gartenmauer hinziehe, in Betrieb nehmen, so viel wir wollten. So geschah es. Mit dem nötigen Werkzeug ausgerüstet, gingen wir an die Arbeit. Liebknecht, der damals seine Abhandlung über die Grund- und Bodenfrage schrieb, betrachtete sich als agrarischen Sachverständigen. Er versicherte, wir hätten an dem Rain einen vorzüglichen Humusboden zu bearbeiten. Als wir aber die Spaten in den Boden stießen, antwortete ein Mark und Bein durchdringendes Aechzen. Wir stießen bei jedem Spatenstich auf Steine. Liebknecht machte bei diesem Resultat ein langes Gesicht, wir lachten unbändig. Statt aus Humus bestand der Boden aus magerem Lehm, den wir, wie unser Aufseher versicherte, düngen müßten, wenn wir ernten wollten. Liebknecht und ich nahmen also einen großen Korb und zogen nach einem Komposthaufen, der in einer Ecke des Gartens angelegt war. Wer einen solchen Komposthaufen kennt, weiß, daß, wenn man ihn ansticht, ihm Düfte entströmen, die alle Wohlgerüche Indiens und Arabiens nicht überwinden können. Aber wir gingen mit wahrer Todesverachtung ans Werk, und nachdem wir den Korb gefüllt, steckten wir durch die Henkel zwei Stangen und trabten, Liebknecht vorn, ich hinten, nach unserem Beet. Die im Garten arbeitenden Frauen lachten aus vollem Halse, als sie unser Tun sahen. Ich habe damals und später öfter geäußert: Mutete der Staat uns eine solche Arbeit zu, wir hätten sie mit höchster Empörung zurückgewiesen. Das ist der Unterschied zwischen Zwang und freiem Willen.

Wir hatten unser Beet mit Radieschensamen bestellt und warteten sehnsüchtig auf die Ernte. Der Same ging prachtvoll auf, das Kraut schoß mächtig in die Höhe, aber die ersehnten Radieschen zeigten sich nicht. Jeden Vormittag, sobald wir unseren Spaziergang antraten, veranstalteten wir ein Wettrennen nach dem Radieschenbeet, denn jeder wollte die ersten Früchte ernten. Vergebens. Als wir nun eines Tages kopfschüttelnd um unser Beet standen und tiefsinnige Betrachtungen über die fehlgeschlagene Ernte anstellten, lachte unser Aufseher, der in einiger Entfernung unserer Unterhaltung zugehört hatte, und sagte: „Warum Sie keine Radieschen bekommen, meine Herren, das will ich Ihnen sagen, Sie haben zu fett gedüngt.“ Tableau! So war also alle unsere Mühe vergeblich gewesen.

* * * * *

In den ersten Monaten des Jahres 1873 sollte wieder der Reichstag zusammentreten, und so mußte die sächsische Regierung wohl oder übel eine Neuwahl für den von mir innegehabten Wahlkreis anordnen. Der Wahltag wurde auf den 20. Januar festgesetzt. Die ganze Partei betrachtete es als eine Ehrensache, nicht bloß das Mandat für mich wiederzuerobern, sondern auch mit höherer Stimmenzahl. Was an agitatorischen Kräften zur Verfügung stand, eilte in den Wahlkreis. Auer, Motteler, Vahlteich, Wilhelm Stolle, Walster, York usw. gingen an die Arbeit. Als Gegenkandidat hatten die Gegner den Bezirksgerichtsdirektor Petzoldt in Glauchau aufgestellt, ein wegen seines leutseligen Wesens im Wahlkreis sehr beliebter Herr. Aber das half ihnen nichts. Am Abend des Wahltags wurden für mich 10740, für meinen Gegner 4240 Stimmen gezählt. Ich brauche nicht zu versichern, daß dieses Wahlresultat im Wahlkreis wie in der ganzen Partei stürmischen Jubel hervorrief. Das Resultat war eine klatschende Ohrfeige für den Gerichtshof, der mir das Mandat aberkannt hatte. Ich hatte fast 4000 Stimmen mehr erhalten als am 3. März 1871. Und damit nicht genug. Einige Tage nach der Wahl veröffentlichte mein besiegter Gegner in der Presse des Wahlkreises seinen Dank an die Partei, die den Wahlkampf gegen ihn in so anständiger Weise geführt habe.

Auer und York kamen nach der Wahl, nachdem sie zuvor meine Frau in Leipzig besucht und sie beglückwünscht hatten, zu mir nach Hubertusburg, um mir ebenfalls zu gratulieren. Es war ein fröhliches Wiedersehen.

Als dann die Session des Reichstags begann, machte ich den Versuch, von der sächsischen Regierung für die Teilnahme an dessen Sitzungen Urlaub zu erhalten. Wie ich vorausgesehen, ohne Erfolg. Nunmehr stellte Schraps, unterstützt von einer Anzahl liberaler Abgeordneter, den Antrag, mich für die Dauer der Session aus der Strafhaft zu entlassen. Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Der Abgeordnete v. Mallinckrodt erklärte, er bedauere, daß ich an den Sitzungen des Reichstags nicht teilnehmen könne, aber der § 31 der Reichsverfassung erstrecke die Immunität der Abgeordneten nicht auf die Strafhaft.

Ich bekenne, daß ich diesen Beschluß nicht bedauerte. Wäre ich freigekommen, so mußte ich um die Urlaubszeit länger im Gefängnis zubringen. Und da mich dieses Schicksal während drei bis vier Sessionen getroffen haben würde, wäre statt im Frühjahr 1875 frühestens Sommer 1876 meine Haft zu Ende gewesen.

In einem konstitutionellen Staate sollte es eine selbstverständliche Sache sein, daß ein Abgeordneter, der in Strafhaft sich befindet, bei Beginn einer Session sofort aus der Haft entlassen wird, um seine Pflichten als Abgeordneter erfüllen zu können. Davon will man in Deutschland nichts wissen. Und doch ist für einen Abgeordneten, der wie ich mehrere Jahre Strafhaft zu verbüßen hatte, die regelmäßige Beurlaubung während einer Session keineswegs eine Annehmlichkeit, wie irrtümlicherweise allgemein angenommen wird. Ich wenigstens würde sie als eine Verschärfung meiner Haft angesehen haben, weil sie vor allem meine wirtschaftliche Existenz noch schwerer geschädigt haben würde.