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Aus meinem Leben. Zweiter Teil

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„Der Sozialdemokrat.“

Schweitzer siedelte im Juli 1864 nach Berlin über und ließ sich dort naturalisieren. Sein Zweck war, die Herausgabe eines Parteiorgans „Der Sozialdemokrat“ zu betreiben, wozu sein Freund v. Hofstetten, der mit einer Gräfin Strachwitz verheiratet war und einiges Vermögen besaß, die Mittel hergab. Auffallend ist, daß Lassalle in seinem Testament keinen Pfennig für das von ihm gebilligte Unternehmen anwies.

Schweitzer war es gelungen, trotz des Mißtrauens, das ein Teil der hier Genannten gegen ihn hegte, außer Liebknecht Karl Marx, Friedrich Engels, Oberst Rüstow, Georg Herwegh, Jean Philipp Becker, Fr. Reusche, Moritz Heß und Professor Wuttke als Mitarbeiter zu gewinnen, selbstverständlich auf ein radikales Programm, das Schweitzer entworfen hatte, das sich durch Klarheit, Bestimmtheit und Kürze auszeichnete. Dasselbe erschien an der Spitze der Probenummer des „Sozialdemokrat“ vom 15. Dezember 1864 und lautete:

Unser Programm.

Drei große Gesichtspunkte sind es, welche das Streben und die Tätigkeit unserer Partei bestimmen:

Wir bekämpfen jene Gestaltungen des europäischen Staatensystems, welche, unnatürlich die Völker trennend und verbindend, aus dem feudalen Mittelalter in das neunzehnte Jahrhundert sich herübergeschleppt haben – wir wollen fördern die Solidarität der Völkerinteressen und der Volkssache durch die ganze Welt.

Wir wollen nicht ein ohnmächtiges und zerrissenes Vaterland, machtlos nach außen und voll Willkür im Innern – das ganze, gewaltige Deutschland wollen wir, den einen, freien Volksstaat.

Wir verwerfen die bisherige Beherrschung der Gesellschaft durch das Kapital – wir hoffen zu erkämpfen, daß die Arbeit den Staat regiere.

Diese drei großen auf gemeinsamer Grundlage beruhenden Gesichtspunkte weisen uns in jeder möglichen Frage mit zwingender Notwendigkeit auf die Bahnen, die wir zu wandeln haben.

Unsere Prinzipien sind einfach und klar – ihre Konsequenzen zu ziehen werden wir uns niemals scheuen.

Kein Zweifel, wäre dieses durchaus unanfechtbare, von allen maßgebenden Personen in der Partei gebilligte Programm fortan die Richtschnur des Blattes geblieben, eine Spaltung wäre unmöglich gewesen, eine Aera gesunder Fortentwicklung wäre eingetreten und hätte eine ungeahnte Ausbreitung der Partei schon in jungen Jahren höchst wahrscheinlich gemacht.

Aber Schweitzer wollte es anders. Von Herrn v. Hofstetten, seinem Associé und Miteigentümer des „Sozialdemokrat“, rede ich nicht. Hofstetten war ein schwacher Mann ohne tiefere Einsicht in das Wesen der Dinge, der sich von Schweitzer treiben und mißbrauchen ließ, und den dann Schweitzer wie eine ausgequetschte Zitrone nach einigen Jahren beiseite warf, nachdem Hofstetten sein Vermögen bis zum letzten Rest für den „Sozialdemokrat“ und für Schweitzer, der über Jahr und Tag auch an seinem Tische saß, geopfert hatte.

Die korrekte Haltung des „Sozialdemokrat“ währte nicht lange.

Bereits in Nr. 6 des „Sozialdemokrat“ waren in dem Artikel „Das Ministerium Bismarck und die Regierungen der Mittel- und Kleinstaaten“ Wendungen enthalten, in denen Schweitzers Sympathie mit der Politik Bismarcks, wenn auch noch sehr vorsichtig, zum Ausdruck kam. Mit der Nr. 14 des „Sozialdemokrat“ vom 27. Januar 1865 beginnt dann jene Serie Artikel „Das Ministerium Bismarck“, in denen er die demokratische Maske fallen läßt, was die öffentliche Absage der meisten der eben erst gewonnenen Mitarbeiter zur Folge hatte.

In dem ersten dieser Artikel wurde ausgeführt:

„Parlamentarismus heißt Regiment der Mittelmäßigkeit, heißt machtloses Gerede, während Zäsarismus doch wenigstens kühne Initiative, doch wenigstens bewältigende Tat heißt. ‚Schmach den Renegaten, die jetzt der Reaktion dienen‘, rufe man. Sonderbar aber doch, daß diese radikalen Renegaten (deren rasche Abwirtschaftung wir erlebt haben. A.B.) nicht bei Pfordten und Beust (selbstverständlich nicht. A.B.), daß diese radikalen Renegaten gerade bei Bismarck sind.“

Die Renegaten, die er meinte, waren eben alles Leute, die keinen Beruf zu einem revolutionären Vorgehen in sich verspürten, die sich mit der kapitalistischen Ordnung der Dinge – vorausgesetzt, daß sie überhaupt je deren Gegner waren – abgefunden hatten und sich sagten, daß der Kapitalismus unter der Aegide des märkischen Junkers nicht zu kurz kommen werde, worin sie sich nicht täuschten.

Im zweiten Artikel Schweitzers hieß es in Betrachtung der Entwicklung Preußens:

„Von dieser Grundlage aus (dem Kurfürstentum) hat sich sodann der vergleichungsweise junge Staat, vorzugsweise durch das mächtige Genie eines großen Königs und gewaltigen Kriegshelden, eines in jeder Beziehung bewunderungswürdigen Mannes, zu einem ausgedehnten und mächtigen Königreich erweitert.“

Nach dieser Verherrlichung Friedrichs des Großen, die ein Sybel oder Treitschke tönender nicht betreiben konnte, spendet er auch der Volkserhebung von 1813 ein Lob, die eine glänzende Ausnahme von der Regel preußischer Geschichte sei. „Der Hauptsache nach und alles in allem genommen, ist Preußen das, was es ist, durch die an seiner Spitze stehende Dynastie geworden.“

Alsdann charakterisiert er das Wesen des preußischen Royalismus.

„Während ein solcher Geist in den einen deutschen Staaten zwar nicht ohne alle Begründung sein mag, jedenfalls aber alles höheren politischen Ernstes und der tieferen Würde entbehrt, in den anderen Staaten aber geradezu als Karikatur dessen erscheint, was man Royalismus nennt, ist der königliche Geist in Preußen eine wohlbegründete politische Anschauungsweise und Richtung. Denn die Dynastie und in ihr der jedesmalige Regent können mit innerer Berechtigung als der Kulminationspunkt der aufsteigenden Skala der herkömmlichen Elemente, als der Schwerpunkt der in hergebrachten Bahnen rotierenden Kräfte, als Herz und Gehirn des Organismus innerhalb eines Staatsganzen betrachtet werden, welches nur so und unter solcher Voraussetzung seine eigentümliche Wesenheit und seine dermalige Stellung erlangte und erlangen konnte.“

Des weiteren meinte er noch, daß der preußische Staat in seinem dermaligen Zustand das offenbare Gepräge des Unfertigen, einer noch nicht abgeschlossenen geschichtlichen Entwicklung auf sich trage. Ein Zustand also, der nach Annexionen schreie. Diese Mission, die Preußen in Deutschland habe, sei aber keine deutsche, wie man uns glauben machen wolle, sondern eine preußische.

Schweitzer kannte also die Natur des preußischen Staates, wie keiner sie besser kennen konnte, seine Schlüsse waren durchaus logisch. Aber um so mehr drängt sich die Frage auf, wie konnte er dann eine Politik unterstützen, die nach seinem eigenen Geständnis undeutsch, weil nur großpreußisch war, und wenn siegreich, die Niederlage der Demokratie bedeutete? Eine solche Politik durfte vom demokratischen Standpunkt aus nicht unterstützt, sie mußte vielmehr auf Leben und Tod bekämpft werden, denn es war der Todfeind der Demokratie, der diese Politik betrieb.

Schweitzer schließt seinen zweiten Artikel also:

„Ein wahrhaft preußisches Ministerium, ein solches, welches die aus der Geschichte des preußischen Staates hervorgegangene Wesenheit desselben zu befestigen und weiterzuentwickeln strebt, kann weder in Gemäßheit bloßen Schablonenkonservatismus lediglich die stupide Aufrechterhaltung des gerade Vorhandenen beabsichtigen, wie dies konservative Ministerien in Preußen lange getan, noch auch kann es die dem Staate von seiner Geschichte indizierte äußere Politik unter Aufhebung des inneren Charakters des Staates anstreben, wie dies die liberale Partei unter Verleugnung des Machtschwerpunktes von der Krone hinweg in das Abgeordnetenhaus beabsichtigte.“

Das heißt also in klares Deutsch übersetzt: Die Eigenart des preußischen Staates verbietet einer preußischen Regierung die Einführung eines parlamentarischen Regimes, und wenn ihr Liberalen dennoch danach strebt, so verlangt ihr etwas, was der Natur des preußischen Staates entgegen ist. Begnügt euch also, ein Ornament am Staatswagen zu sein. In der Situation, in der damals die Kammer sich der Regierung gegenüber befand, bedeuteten solche Auslassungen einfach ein In-den-Rücken-fallen der Volksvertretung und eine Unterstützung der Pläne Bismarcks.

In seinem dritten Artikel führt er zunächst aus: Die Schlußfolgerungen seines zweiten Artikels und die Untersuchungen, die zu denselben führten, seien mehrfach mißverstanden (!) worden. Er wird also jetzt noch deutlicher. Er sagt:

„Indem Preußen eine Politik verfolge, die zur Annexion der Herzogtümer (Schleswig-Holstein) führen müsse, setze es, die glorreichen Traditionen preußischer Geschichte aus langem Schlummer weckend, an den innersten Kern des preußischen Staatsgeistes seine Hebel an.

Es ist eine bedeutende Politik, die jetzt in Preußen gemacht wird! …

Wer Annexion anfängt, muß sie durchsetzen. Mehr noch.

Eine preußische Regierung, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts deutsches Land zu annektieren beginnt, eine preußische Regierung, die angesichts der offenkundigen, von Kaiser, Königen und Fürsten feierlich proklamierten Unhaltbarkeit der politischen Verfassung Deutschlands die ‚friedericianische Politik‘ (wie ein großdeutsches Blatt sich ausdrückte) wieder aufnimmt, kann nicht stille stehen nach kleinem Sieg – weiter muß sie auf der betretenen Bahn – vorwärts, wenn nötig mit ‚Blut und Eisen‘.

Denn anknüpfen an die stolzesten Traditionen eines historisch erwachsenen Staates und dann feige zurückbeben vor entscheidender Tat, hieße den innersten Lebensnerv eines solchen Staates ertöten.

 

Man kann solche Traditionen ruhen lassen – aber man kann sie nicht aufnehmen, um sie zu ruinieren!

Ein preußischer Minister, der solche Politik für Preußen machte – er verfiele unrettbar den zürnenden Manen des großen Friedrich und dem Gelächter seiner Zeitgenossen.

Wie mußte bei dem Lesen solcher Artikel das Herz jedes guten Preußen schlagen; war doch danach Preußen quasi von der Vorsehung vorher bestimmt, der Beherrscher Deutschlands zu werden. Und wie mußten die Herzen der Feudalen einem Manne zugetan sein, der besser als sie alle die „historische Mission“ des preußischen Staates darzulegen und zu verherrlichen verstand. Und das sollte unbeachtet und unbelohnt bleiben?

Was Schweitzer hier schrieb, war aber auch eine Verherrlichung der weiteren Bismarckschen Politik, es war eine förmliche Anpeitschung Bismarcks, auf dem betretenen Wege weiter zu gehen, wäre eine solche noch notwendig gewesen.

Im vierten Artikel kam Schweitzer auf den Bundestag und Oesterreich zu sprechen. Hier hatte er mit seiner Kritik leichtes Spiel, denn dümmer und dem Zeitbedürfnis widersprechender konnte nicht gehandelt werden, als diese beiden Faktoren in der deutschen Frage gehandelt hatten. Im übrigen war die Haltung, die in diesem Artikel Schweitzer Oesterreich gegenüber einnahm, wie in seiner ganzen späteren Politik, das direkte Gegenteil von dem, was er noch im Jahre 1863 – also anderthalb Jahre zuvor – in seiner Broschüre „Die österreichische Spitze“ zur Verherrlichung Oesterreichs gesagt hatte, und was das Programm besagte, das angeblich der „Sozialdemokrat“ vertreten sollte.

Der fünfte Artikel beschäftigte sich mit der Stellung der Nation und der deutschen Frage. Er kommt zu dem Resultat:

Aktionsfähig in Deutschland sind nur noch zwei Faktoren: Preußen und die Nation, preußische Bajonette oder deutsche Proletarierfäuste – wir sehen kein drittes.

Das Preußentum ist der Feind des Deutschtums, aber es ist auch der Feind der bestehenden Gewalten Deutschlands.

Die Nation steht fest auf ewigem Fundament – die Fürstenstühle Deutschlands aber müssen wanken, wenn Preußen sich erinnert, daß Friedrich der Große sein König war.

Und wie stand's mit dem preußischen Thron?

Der Leser wird zugeben, daß raffinierter, demagogischer nicht zu schreiben war. Wie ein Aal windet er sich vor einer klaren Stellungnahme. Er läßt nur ahnen, spricht aber nicht aus, was er will. Klar ist, daß das Lesepublikum, an das Schweitzer sich wandte, von seinem Plädoyer für Preußen gefangen genommen wurde, und das war sein Zweck. Dazu kam, daß der ganze politische Inhalt des „Sozialdemokrat“ von der Tendenz durchtränkt war, welche die fünf Artikel erfüllte. Bismarck hatte in der ganzen deutschen Presse keine Feder, die geschickter für seine Politik Propaganda machte.

Kein Zweifel, diese Bismarckartikel standen mit dem Programm des „Sozialdemokrat“ in seiner ersten Nummer im schneidendsten Widerspruch. Es ist auch ausgeschlossen, daß der äußerst scharfsinnige Schweitzer nicht vorausgesehen habe, daß er mit diesen Artikeln der großen Mehrzahl der eben erst gewonnenen Mitarbeiter in gröblichster Weise vor den Kopf schlug. Es war eine Brüskierung sondergleichen. Es war also selbstverständlich, daß darauf Karl Marx, Friedrich Engels, W. Liebknecht, Herwegh, Joh. Ph. Becker und Friedrich Reusche von dem Blatte sich lossagten.

Schweitzer quittierte in einem Artikel in der Nr. 31 seines Blattes über die Rücktritte mit den Worten: Einige bornierte Köpfe hatten sich an unseren Leitartikeln „Das Ministerium Bismarck“ gestoßen. Mit Genugtuung konstatiere er, daß zwei Hauptorgane des österreichischen Liberalismus, die „Presse“ und die „Ostdeutsche Post“, sich auf seine Seite gestellt hätten und brachte längere Auszüge aus denselben. Weiter zitierte er die „Neue Frankfurter Zeitung“, das Blatt Sonnemanns, die ausgeführt hatte, daß die von Schweitzer befolgte Politik nichts als die Fortsetzung der Lassalleschen Politik sei.

Das war richtig! Ohne Lassalles Verhalten wäre es Schweitzer sehr schwer geworden, die von ihm beliebte Politik im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zur Geltung zu bringen. Aber doch war zwischen Lassalle und ihm ein Unterschied. Lassalle, ökonomisch vollständig unabhängig, stand zu Bismarck wie Macht zu Macht, davon konnte bei Schweitzer, der tief in Schulden steckte und nach seiner sonstigen Qualität in alle Wege keine Rede sein. Er erschien in seinem Auftreten als ein Werkzeug der Bismarckschen Politik, als ein Mann, der den Vorteil des Lassalleschen Scheins für sich hatte und ihn geschickt ausnutzte.

Im weiteren erklärte Schweitzer gegen Marx und Engels, daß sie sich vom „Sozialdemokrat“ zurückgezogen, sobald sie eingesehen hätten, daß sie nicht die erste Rolle bei der Partei spielen konnten. Im Gegensatz zu ihnen sei Lassalle nicht der Mann der unfruchtbaren Abstraktion, sondern ein Politiker im strengen Sinne des Wortes, nicht ein schriftstellerischer Doktrinär, sondern ein Mann der praktischen Tat gewesen.

Wobei wieder nicht vergessen werden darf, daß später Schweitzer den Mann der „unfruchtbaren Abstraktion“, den „schriftstellerischen Doktrinär“ Karl Marx, umschmeichelte und für sich zu gewinnen suchte.

Marx und Engels blieben die Antwort nicht schuldig. Unter dem 24.

Februar 1865 veröffentlichten sie folgende Erklärung:

„Die Unterzeichneten versprachen ihre Mitarbeit am ‚Sozialdemokrat‘ und gestatteten ihre Nennung als Mitarbeiter unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß das Blatt im Geiste des ihnen mitgeteilten kurzen Programms redigiert werde. Sie verkannten keinen Augenblick die schwierige Stellung des ‚Sozialdemokrat‘ und machten daher keine für den Meridian Berlin unpassenden Ansprüche. Sie forderten aber wiederholt, daß dem Ministerium und der feudalabsolutistischen Partei gegenüber eine wenigstens ebenso kühne Sprache geführt werde wie gegenüber den Fortschrittlern. Die von dem ‚Sozialdemokrat‘ befolgte Taktik schließt unsere weitere Beteiligung an demselben aus. Die Ansicht der Unterzeichneten vom königlich preußischen Regierungssozialismus und von der richtigen Stellung der Arbeiterpartei zu solchem Blendwerk findet sich bereits ausführlich entwickelt in Nr. 73 der ‚Deutschen Brüsseler Zeitung‘ vom 12. September 1847, in Antwort auf Nr. 206 des damals in Köln erscheinenden ‚Rheinischen Beobachters‘, worin die Allianz des Proletariats und der Regierung gegen die liberale Bourgeosie vorgeschlagen war. Jedes Wort unserer damaligen Erklärung unterschreiben wir noch heute.“

Die Erklärung in der „Deutschen Brüsseler Zeitung“, auf die hier Marx und Engels sich bezogen, lautete:

„Wenn eine gewisse Fraktion deutscher Sozialisten fortwährend gegen die liberale Bourgeoisie gepoltert hat, und zwar in einer Weise, die niemandem Vorteil brachte als den deutschen Regierungen, wenn jetzt Regierungsblätter wie der ‚Rheinische Beobachter‘, auf die Phrasen dieser Leute gestützt, behaupten, nicht die liberale Bourgeoisie, sondern die Regierung repräsentiere die Interessen des Proletariats, so haben die Kommunisten weder mit der ersteren noch mit der letzteren etwas gemein….

Das Volk oder, um an die Stelle dieses weitsichtigen, schwankenden Ausdrucks den bestimmten zu setzen, das Proletariat räsoniert ganz anders, als man im geistlichen Ministerium sich träumen läßt. Das Proletariat fragt nicht, ob den Bourgeois das Volkswohl Nebensache oder Hauptsache sei, ob sie die Proletarier als Kanonenfutter gebrauchen werden oder nicht. Das Proletariat fragt nicht, was die Bourgeois bloß wollen, sondern was sie müssen. Es fragt, ob der jetzige politische Zustand, die Herrschaft der Bureaukratie, oder der von den Liberalen erstrebte, die Herrschaft der Bourgeoisie, ihm mehr Mittel bieten wird, seine eigenen Zwecke zu erreichen. Dazu hat es nur nötig, die politische Stellung des Proletariats in England, Frankreich und Amerika mit der in Deutschland zu vergleichen, um zu sehen, daß die Herrschaft der Bourgeoisie dem Proletariat nicht nur ganz neue Waffen zum Kampfe gegen die Bourgeoisie in die Hand gibt, sondern ihm auch eine ganz andere Stellung, eine Stellung als anerkannte Partei verschafft.

Es heißt weiter: „Das Volk kann sich nicht für die ständischen Rechte interessieren. Aber ein Landtag, der Geschworenengerichte, Gleichheit vor dem Gesetz, Aufhebung der Frondienste, Preßfreiheit, Assoziationsfreiheit und eine wirkliche Repräsentation verlangt, ein Landtag, der ein für allemal mit der Vergangenheit gebrochen und seine Forderungen nach den Bedürfnissen der Zeit eingerichtet hat statt nach alten Gesetzen, solch ein Landtag kann auf die kräftigste Unterstützung des Proletariats rechnen.

Am 4. März schlossen sich Georg Herwegh und Wilhelm Rüstow der Erklärung von Marx und Engels ausdrücklich an. Am 5. März erklärte Fr. Reusche in der „Rheinischen Zeitung“ seinen Rücktritt von der Mitarbeiterschaft am „Sozialdemokrat“, wobei er unter anderem bemerkte, er habe wiederholt die Redaktion aufgefordert, das Junkertum rücksichtslos zu bekämpfen. Rüstow habe Anfang Februar eine eingehende Kritik der Militärfrage an die Redaktion gesandt; aber trotz der wiederholten Anfragen von Rüstow und ihm erschienen weder diese noch ein von ihm eingesandter Artikel gegen den königlich preußischen Regierungssozialismus. Bald habe es geheißen, es sei kein Raum vorhanden, bald, man wolle warten, bis die Zeit geeignet wäre. Am 11. März erklärte Jean Philipp Becker in Genf im Hamburger „Nordstern“, dem Vorgehen von Marx und Engels sich anzuschließen. Liebknecht hatte sich gleichzeitig mit den letzteren von Schweitzer und dem „Sozialdemokrat“ losgesagt. Professor Wuttke in Leipzig gab zwar keine öffentliche Erklärung ab, stellte aber seine Mitarbeiterschaft am „Sozialdemokrat“ ein. Der einzige, der von dem ganzen Mitarbeiterstab einstweilen noch dem „Sozialdemokrat“ verblieb, war Moritz Heß in Paris. Er schied Ende 1866 aus. Eine zweite Erklärung von Marx und Engels, datiert London den 15. März und abgedruckt in der Berliner „Reform“ vom 19. März 1865, richtete sich gegen einen Artikel, den Schweitzer aus der „Neuen Frankfurter Zeitung“ im „Sozialdemokrat“ abgedruckt hatte, in dem nachgewiesen werden sollte, „wie inkonsequent und innerlich haltlos das Verfahren der Herren Marx und Engels dem ‚Sozialdemokrat‘ gegenüber ist“. Marx konstatiert: Schweitzer habe am 11. November 1864 ihm das Erscheinen des „Sozialdemokrat“ angezeigt und habe bei dieser Gelegenheit geschrieben:

„Wir haben uns an etwa sechs bis acht bewährte Mitglieder der Partei oder derselben wenigstens nahestehende Männer gewandt, um sie für die Mitarbeiterschaft zu gewinnen…. Allein für ungleich wichtiger halten wir es, daß Sie, der Begründer der deutschen Arbeiterpartei und ihr erster Verfechter, uns Ihre Mitwirkung angedeihen lassen. Wir hegen die Hoffnung, daß Sie einem Verein, der, wenn auch nur indirekt, auf Ihre eigene Wirksamkeit zurückzuführen ist, nach dem großen Verlust, der ihn betroffen, in seinem schweren Kampfe zur Seite stehen werden.“

In dem Prospekt habe der Name Lassalle nirgends gestanden. Der Prospekt habe nur drei Punkte enthalten: „Solidarität der Völkerinteressen“, „Das ganze gewaltige Deutschland – ein freier Volksstaat“, „Abschaffung der Kapitalherrschaft“. Daraufhin hätten er und Engels ihre Mitarbeit zugesagt…. Am 28. November habe Schweitzer ihm geschrieben, daß seine und Engels' Zusage in der Partei, soweit sie überhaupt eingeweiht sei, die freudigste Sensation hervorgerufen…. Marx erzählt weiter, wie er im Laufe des Januar gegen die Taktik Schweitzers im „Sozialdemokrat“ protestierte und daß, als trotz Schweitzers Beruhigungsschreiben die Taktik im Blatte dieselbe geblieben, er aufs neue protestiert habe, worauf Schweitzer ihm am 15. Februar folgendes geschrieben:

„Wenn Sie mir wie im letzten Schreiben über theoretische Fragen Aufklärung geben wollen, so würde ich solche Belehrung von Ihrer Seite dankbar entgegennehmen. Was aber die praktischen Fragen momentaner Taktik betrifft, so bitte ich Sie, zu bedenken, daß, um diese Dinge zu beurteilen, man im Mittelpunkt der Bewegung stehen muß. Sie tun uns daher unrecht, wenn Sie irgendwo und irgendwie Ihre Unzufriedenheit mit unserer Taktik aussprechen. Dies dürfen Sie nur dann tun, wenn Sie die Verhältnisse genau kennen. Auch vergessen Sie nicht, daß der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ein konsolidierter Körper ist und bis zu einem gewissen Grade an seine Tradition gebunden bleibt. (Der Verein war damals kaum 22 Monate alt und hatte nur einige tausend Mitglieder. A.B.) Die Dinge in concreto schleppen eben immer irgend ein Fußgewicht mit sich herum.“

 

Es war also selbstverständlich, daß Marx, Engels und Genossen handeln mußten, wie sie gehandelt haben. Schweitzer scheint geglaubt zu haben, daß er seinen Mitarbeitern eine ähnliche Rolle zumuten dürfe, wie sie Lothar Bucher im Einverständnis mit Bismarck Marx im „Staatsanzeiger“ zugemutet hatte. Sie sollten Mitarbeiter sein, aber kein Recht haben, über die Taktik mitzusprechen, die mit dem Programm, auf Grund dessen sie ihre Mitarbeiterschaft zugesagt hatten, im schneidendsten Widerspruch stand. Schreibt so radikal wie möglich für Sozialismus und Kommunismus, je radikaler, desto besser; ihr seid dann die Flagge, unter der ich meine Konterbande decke. So ungefähr mochte Schweitzer räsonnieren. Es war daher eine Unverschämtheit, wenn er auf die Beschwerde von Marx und Engels über die Haltung des Blattes erklärte: sie im Ausland könnten die Dinge in Deutschland nicht beurteilen. Diese konnten aber selbst Personen durchaus richtig beurteilen, die den Marx und Engels nicht das Wasser reichten. Eines konnte man damals Bismarck nicht vorwerfen, daß er seine Politik verschleierte und mit verdeckten Karten spielte.

Bucher hat später, im Herbst 1878, als anläßlich des bevorstehenden Sozialistengesetzes seine Einladung von Marx, für den „Staatsanzeiger“ zu schreiben, Gegenstand der öffentlichen Erörterung wurde, die Marxsche Darlegung dieser Einladung bestritten. Darauf antwortete Marx in der „Daily News“ unter anderem:

Der Brief, worin mich Herr Bucher für den „Staatsanzeiger“ zu kirren suchte, datiert vom 8. Oktober 1865. Es heißt darin unter anderem:

„In betreff des Inhaltes versteht es sich von selbst, daß Sie nur Ihrer wissenschaftlichen Ueberzeugung folgen; jedoch wird die Rücksicht auf den Leserkreis – haute finance —, nicht auf die Redaktion, es ratsam machen, daß Sie den innersten Kern nur eben für den Sachverständigen durchscheinen lassen.“ Dagegen besagt die „Berichtigung“ des Herrn Bucher, daß er bei „Herrn Marx anfrug, ob er die gewünschten Artikel liefern wolle, indem es auf eine objektive Behandlung ankäme. Von des Herrn Marx ‚eigenem wissenschaftlichen Standpunkt‘ steht nichts in meinem Briefe.“

Ferner heißt's in dem Briefe Buchers:

„Der ‚Staatsanzeiger‘ wünscht monatlich einen Bericht über die Bewegungen des Geldmarktes (und natürlich auch des Warenmarktes, soweit beide nicht zu trennen). Ich wurde gefragt, ob ich nicht jemanden empfehlen könnte, und erwiderte, niemand würde das besser machen als Sie. Ich bin infolgedessen ersucht worden, mich an Sie zu wenden.“

Klassisch ist der Schluß der Bucherschen Einladung, die Marx in jener Erklärung ebenfalls abdruckt:

„Der Fortschritt (er meinte die liberale oder Fortschrittsbourgeoisie) wird sich noch oft häuten, ehe er stirbt; wer also während seines Lebens noch innerhalb des Staates wirken will, der muß sich ralliieren um die Regierung.“

Das war also der Grund, der Bucher Bismarck in die Arme trieb und der ihn veranlaßte, bei anderen das gleiche zu versuchen.

Nach einer Erklärung, die Liebknecht am 24. März in der „Rheinischen Zeitung“ veröffentlichte, habe Schweitzer nach dem Tode Lassalles Marx zum Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins vorgeschlagen. Marx habe abgelehnt, sich mit einer Bewegung zu identifizieren, deren Taktik er für grundverkehrt hielt, auch habe er keine Neigung gehabt, unter den obwaltenden politischen Zuständen nach Deutschland überzusiedeln. Schweitzer habe sich verpflichtet, daß das neue Blatt die Lassallesche Taktik nicht befolgen, jedes Kokettieren mit der Reaktion vermeiden sollte, unter dieser Bedingung, und nur unter dieser, habe er sich zur Mitarbeiterschaft bereit erklärt, vorausgesetzt, daß auch Marx und Engels sich beteiligen würden. Beide hätten sich schließlich nur mit dem größten Widerstreben dazu verstanden, und nur auf seine wiederholte Versicherung, daß er an die Loyalität Schweitzers – von dem er sehr schlimme Dinge gehört – glaube.

Die Politik des „Sozialdemokrat“ trug rasch die gewünschten Früchte. Bereits Anfang Februar 1865 hielt ein Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Peter Rex, in Köln eine Rede, worin er sagte: ihm sei die jetzige Regierung lieber als ein Fortschrittsministerium. Der „Sozialdemokrat“ druckte ohne ein Wort der Kritik diese Aeußerungen ab. Am 12. März erklärte der Rheinisch-Westfälische Arbeitertag zu Barmen sich mit der Haltung des „Sozialdemokrat“ einverstanden, auch sei es durchaus zu billigen, die Vorschläge der preußischen Regierung, die bei verschiedenen Gelegenheiten die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen durch die Gesetzgebung versprochen habe, abzuwarten, bevor man über dieselbe aburteile, indem es keineswegs unmöglich sei, daß dieselbe das Dreiklassenwahlgesetz aufhebe und statt desselben das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht, wie es das von Lassalle, dem Begründer der deutschen Arbeiterpartei, vorgezeichnete nächste Ziel der jetzigen deutschen Arbeiterbewegung sei, einführe.

Form und Inhalt dieser Resolution sprachen dafür, daß Schweitzer sie verfaßt hatte, auch empfahl der „Sozialdemokrat“, überall dieselbe zur Abstimmung zu bringen, ein Akt, der einem Vertrauensvotum für die preußische Regierung gleichkam.

Bereits begann aber auch die Opposition im Verein sich bemerkbar zu machen. In seiner Nr. 38 polemisierte der „Sozialdemokrat“ gegen die offenen Feinde und falschen Freunde, die Zwietracht in die Partei zu säen suchten. Und da die Opposition auch begann, gegen die diktatorischen Organisationsbestimmungen im Vereinsstatut zu polemisieren, so mußte die Organisation als das ureigenste Werk Lassalles mit einer Art Glorienschein umgeben werden. Der Lassallekultus wurde von jetzt ab systematisch gefördert und jeder als eine Art Schänder des Heiligsten gebrandmarkt, der andere Ansichten zu hegen wagte. Es waren namentlich die Worte im Lassalleschen Testament: „Dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein empfehle ich, den Frankfurter Bevollmächtigten, Bernhard Becker, zu meinem Nachfolger zu wählen. Er soll an der Organisation festhalten; sie wird den Arbeiterstand zum Siege führen“, die das Schibolet wurden, das den echten von dem falschen Lassalleaner unterschied. Und Schweitzer unterstützte diese allmählich ans Idiotenhafte grenzenden Anschauungen, die schließlich eine Art religiöser Glaubenssätze wurden. Kam es doch im Laufe der Jahre dahin, daß das Thema „Christus und Lassalle“ das Thema für die Tagesordnung zahlreicher Volksversammlungen wurde. F.W. Fritzsche erhielt sogar 1868 in Berlin eine Anklage wegen eines Vortrags über dieses Thema, in dem der Staatsanwalt eine Gotteslästerung erblickte. Fritzsche wurde nur freigesprochen, weil ihm der Dolus nicht nachgewiesen werden konnte.

Wie Schweitzer innerlich über dieses von ihm geförderte Treiben dachte, bedarf keiner Auseinandersetzung.

In einem merkwürdigen Gegensatz zu den Bismarckartikeln veröffentlichte der „Sozialdemokrat“ in seiner Nr. 43 vom 5. April 1865 eine Schlußbetrachtung über die österreichischen Staatsverhältnisse, worin es hieß:

„Die Deutsche Volkspartei ist, wie in allem, so auch in der deutschen Einheitssache radikal, das heißt sie will die ganze und ausnahmslose Verwirklichung der als gut und richtig erkannten Idee.

Die Deutsche Volkspartei also will das ganze Deutschland zum freien Volksstaat vereinen.

Das ganze Deutschland! sagen wir. Nicht ein Dorf, nicht ein Meierhof, nicht die kleinste Hütte im fernsten Winkel darf uns fehlen!

Der kleindeutsche Gedanke eines ‚einigen Deutschland‘ ohne die deutsch-österreichischen Provinzen ist ein Hochverrat an der Nation und ihrer Zukunft. (Auch im Text gesperrt gedruckt.)

Ein einiges Deutschland – bedingungslos, ausnahmslos!

Das war eine der Doppelzüngigkeiten, womit Schweitzer bezweckte, die Opposition zum Schweigen zu bringen, die sich anläßlich der Bismarckartikel innerhalb und außerhalb des Vereins geltend machte. Er sah, daß er sich zu weit vorgewagt hatte. Ein solches Manöver wiederholte er regelmäßig, sobald er wegen seines Verhaltens öffentlich Angriffen ausgesetzt war. Alsdann warf er sich wieder auf die linke Seite und schrieb mit einem Radikalismus, der nichts zu wünschen übrig ließ. Er konnte so, aber auch anders.