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Aus meinem Leben. Erster Teil

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Am 6. Februar 1863 hatte ich noch eine Auseinandersetzung mit Vahlteich. Dieser war für den Vorwärts, ich für den Gewerblichen Bildungsverein Delegierter beim Stiftungsfest des Dresdener Arbeiterbildungsvereins. Bei dem gemeinschaftlichen Essen hielt Vahlteich eine provokatorische Rede, in der er in alter Weise ausführte, daß die Arbeiter wohl politische und humanitäre Bildung sich aneignen, nicht aber auch Elementarbildung pflegen sollten. Diese letztere den Arbeitern zu gewähren sei Sache des Staates. Er brachte auf die erstere ein Hoch aus. Das rief mich auf den Plan. Ich polemisierte gegen ihn und brachte ein Hoch auf die allgemeine Bildung aus. Unser Auftreten machte natürlich keinen erfreulichen Eindruck, aber auf die Vahlteichsche Provokation konnte ich nicht schweigen, um so weniger, da der Dresdener Verein die gleichen Ziele verfolgte wie der unsere.

Lassalles Auftreten und dessen Folgen

Anfang März 1863 erschien Lassalles „Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig“. Wenige Tage vor dieser Veröffentlichung hatte ich auf dem zweiten Stiftungsfest des Gewerblichen Bildungsvereins die Festrede gehalten, in der ich mich gegen das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht aussprach, weil die Arbeiter dafür noch nicht reif seien. Ich stieß mit dieser Anschauung selbst bei einigen meiner Freunde im Verein an. Ausnehmend gut gefiel dagegen die Rede meiner späteren Braut und Frau, die mit ihrem Bruder das Fest besuchte. Ich habe aber die begründete Vermutung, daß es mehr die Person des Redners war, die ihr gefiel, als der Inhalt seiner Rede, der ihr damals ziemlich gleichgültig gewesen sein dürfte.

Das Antwortschreiben Lassalles machte auf die Arbeiterwelt nicht entfernt den Eindruck, den in erster Linie Lassalle und nächst ihm der kleine Kreis seiner Anhänger erwartet hatte. Ich selbst verbreitete die Schrift in ungefähr zwei Dutzend Exemplaren im Gewerblichen Bildungsverein, um auch die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. Daß die Schrift auf die Mehrzahl der damals in der Bewegung stehenden Arbeiter so wenig Eindruck machte, mag heute manchem unerklärlich erscheinen. Und doch war es natürlich. Nicht nur die ökonomischen, auch die politischen Zustände waren noch sehr rückständige. Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit, Paß- und Wanderfreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit waren Forderungen, die dem Arbeiter der damaligen Zeit viel näher standen als Produktivassoziationen, gegründet mit Staatshilfe, von denen er sich keine rechte Vorstellung machen konnte. Der Assoziations- oder sagen wir der Genossenschaftsgedanke war erst im Werden. Auch das allgemeine Stimmrecht schien den meisten kein unentbehrliches Recht zu sein. Einmal war, wie mehrfach hervorgehoben, die politische Bildung noch gering, dann aber erschien der großen Mehrzahl der Kampf des preußischen Abgeordnetenhaus gegen das Ministerium Bismarck als eine tapfere Tat, die Unterstützung und Beifall, aber keinen Tadel und keine Herabsetzung verdiene. Wer politisch regsam war wie ich, verschlang die Kammerverhandlungen und betrachtete sie als Ausfluß politischer Weisheit. Die liberale Presse, die damals die öffentliche Meinung weit mehr beherrschte als heute, sorgte auch dafür, daß dieser Glaube erhalten blieb. Die liberale Presse war es jetzt auch, die mit einem Wut- und Hohngeschrei über Lassalles Auftreten herfiel, wie es bis dahin wohl unerhört war. Die persönlichen Verdächtigungen und Herabsetzungen regneten auf ihn nieder, und daß es vorzugsweise konservative Organe, zum Beispiel die „Kreuzzeitung“, waren, die Lassalle objektiv behandelten – weil ihnen sein Kampf gegen den Liberalismus ungemein gelegen kam —, erhöhte den Kredit Lassalles und seiner Anhänger in unseren Augen nicht. Wenn wir uns endlich vergegenwärtigen, daß es selbst heute, nach einer mehr als fünfundvierzigjährigen intensiven Aufklärungsarbeit, noch Millionen Arbeiter gibt, die den verschiedenen bürgerlichen Parteien nachlaufen, wird man sich nicht wundern, daß die große Mehrheit der Arbeiter der sechziger Jahre der neuen Bewegung skeptisch gegenüberstand. Und damals lagen noch keine sozialpolitischen Erfolge vor, die erst viel später dank der sozialistischen Bewegung erzielt wurden. Pioniere sind immer nur wenige.

Im Leipziger Komitee hatte Lassalles Auftreten die Wirkung, daß dieses sich spaltete und ebenso der Verein Vorwärts, der die Hauptstütze des Komitees war. Professor Roßmäßler, Eisengießereibesitzer Götz, ein Bruder des Turner-Götz in Lindenau-Leipzig, Dolge und eine größere Anzahl Arbeiter im Verein erklärten sich gegen Lassalle. Fritzsche, Vahlteich und Dr. Dammer mit einer Minderheit hinter sich wurden die eigentlichen Träger der neuen Bewegung. In Leipzig fand dieselbe relativ noch am meisten Anhang, Berlin versagte auf lange hinaus fast vollständig. Boden fand sie allmählich in Hamburg-Altona, von wo aus sie sich nach Schleswig-Holstein ausdehnte, dann in Hannover, Kassel, Barmen-Elberfeld, Solingen, Ronsdorf, Düsseldorf, Frankfurt a.M., Mainz, in einigen Städten Thüringens, wie Erfurt und Apolda, in Sachsen außer Leipzig in Dresden, wo der Vorsitzende des Dresdener Arbeiterbildungsvereins, Försterling, sich mit einer kleinen Schar Anhänger Anfang 1864 Lassalle anschloß; ferner in Augsburg.

Aber diese Ausbreitung war, wie gesagt, eine allmähliche und schwache und entsprach sehr wenig den Hoffnungen, die Lassalle und seine Anhänger hegten. Die hunderttausend Mitglieder, die er im Antwortschreiben in dem von ihm zur Gründung vorgeschlagenen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein als eine große politische Macht ansah, hoffte er in nicht ferner Zeit zu sehen. Es hat bekanntlich noch lange gedauert, ehe die sozialistische Bewegung auf diese Zahl organisierter Anhänger rechnen konnte.

Gegen Ende März legte das Leipziger Komitee in einer großen Arbeiterversammlung sein Mandat nieder und beantragte, ein neues Komitee zu wählen, das die Gründung des von Lassalle vorgeschlagenen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins betreiben sollte. Nach einer sehr erregten Debatte erklärte sich die Mehrheit der Versammlung für diesen Plan. Dr.

Dammer, Fritzsche und Vahlteich wurden mit der neuen Aufgabe betraut.

Am 16. April kam endlich Lassalle selbst nach Leipzig, um in einer großen Versammlung zu sprechen, die wie die meisten großen Versammlungen jener Zeit im Odeon in der Elsterstraße abgehalten wurde. Die Rede ist unter dem Titel „Zur Arbeiterfrage“ erschienen. Die Versammlung war von ungefähr 4000 Personen besucht, von denen aber ein erheblicher Teil noch vor Schluß derselben das Lokal verließ. Die Liberalen waren unter Führung eines Kaufmanns Kohner auf der der Rednertribüne gegenüberliegenden Galerie postiert und unterbrachen den Redner öfter durch Zwischenrufe. Die Vorbereitungen für den Redner waren etwas eigenartige. Der Rand des Katheders, von dem Lassalle sprach, war mit Büchern, darunter schwere Folianten, bepackt, als sollte es zu einer Disputation à la Luther kontra Eck kommen.

Lassalle scheint geglaubt zu haben, daß er eine schwere Opposition finden werde, die er widerlegen müsse, was nicht der Fall war. Sein persönliches Auftreten war nicht jedem sympathisch. Von hoher, schlanker, aber kräftiger Gestalt stand Lassalle sehr herausfordernd auf dem Katheder, wobei er öfter bald eine, bald beide Hände in die Armlöcher seiner Weste steckte. Er sprach fließend, manchmal pathetisch, doch schien es mir, als stoße er leicht mit der Zunge an. Er endete unter stürmischem Beifall eines großen Teiles der Versammlung, dem der andere mit Zischen antwortete.

Nach Lassalle ergriff Professor Roßmäßler das Wort und verlas eine längere Erklärung, in der er ausführte: er wisse, daß er keine Mehrheit in diesem Saale für seine Ansichten habe, aber er hoffe, daß die Einsicht noch kommen werde. Er protestiere gegen die Angriffe, die Lassalle gegen die deutsche Fortschrittspartei erhoben habe, er protestiere weiter gegen das Bestreben, die Arbeiter und die Fortschrittspartei zu trennen und eine besondere Arbeiterpartei zu bilden. Lassalle antwortete kurz und auffallend entgegenkommend. Er meinte, ihm schienen die Differenzen zwischen Roßmäßler und ihm mehr taktischer als prinzipieller Natur zu sein. Man hatte offenbar im Lassalleschen Lager noch Hoffnung, Roßmäßler herüberziehen zu können. Außerdem waren Fritzsche und Vahlteich warme Verehrer Roßmäßlers wegen des Kampfes, den er gegen Kirche und Pfaffentum führte. Beide gehörten mit Roßmäßler der deutsch-katholischen Gemeinde an, die in Leipzig bestand, beiden tat die Trennung von Roßmäßler weh.

Lassalle genügte nicht der Beifall der Masse, er legte großes Gewicht darauf, Männer von Ansehen und Einfluß aus dem bürgerlichen Lager auf seiner Seite zu haben, und er gab sich große Mühe, solche zu gewinnen. Wohl trat in Leipzig Professor Wuttke auf seine Seite, aber mit dessen sonstiger politischer Stellung war das nicht leicht zu vereinbaren. Wuttke war Großdeutscher, und zwar mit starker Neigung für Oesterreich. Als solcher war er auch Mitglied des Parlaments in Frankfurt a.M. gewesen. Er und Roßmäßler waren politische und persönliche Gegner. Außerdem war Wuttke grimmiger Gegner der kleindeutschen Fortschrittspartei und des Nationalvereins – zwei Organisationen, deren Angehörige fast ein und denselben Personenkreis bildeten. Da nun Lassalle gegen die Fortschrittspartei vorging, fand er Wuttkes lebhaftesten Beifall. Ein tieferes soziales Verständnis besaß Wuttke nicht, der nebenbei bemerkt ein glänzender Redner war und ein schönes Organ besaß. Die kleine, gebückte, schwarzhaarige Gestalt hatte etwas Gnomenhaftes. Der Brief Wuttkes an Lassalle, der in der erwähnten Leipziger Versammlung zum Verlesen kam, bestätigt meine Auffassung von Wuttkes Stellung. Zweifellos hat auch Lassalle Wuttke richtig eingeschätzt, aber es genügte ihm, daß Wuttke scheinbar auf seiner Seite stand.

 

Ich bemerke hier, ich schreibe keine Geschichte der Gesamtbewegung, sondern schildere nur meine persönlichen Erlebnisse und Beziehungen in derselben. Wer sich mit der Geschichte der Gesamtbewegung vertraut machen will, den verweise ich auf Mehrings Geschichte der deutschen Sozialdemokratie und Bernsteins Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung.

* * * * *

Mit dem Auftreten Lassalles und der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, die am 23. Mai 1863 in Leipzig erfolgte, war das Signal gegeben zu erbitterten Kämpfen innerhalb der Arbeiterwelt, die sich von jetzt ab während einer ganzen Reihe Jahre abspielten und in denen oft Szenen vorkamen, die jeder Beschreibung spotten. Die Erbitterung wuchs mit den Jahren hüben und drüben, und da Arbeiter nicht an den Salonton gewöhnt sind – der übrigens auch bei denen versagt, die stolz auf denselben zu sein pflegen, sobald sie untereinander in starke Meinungsverschiedenheiten geraten —, so flogen die derbsten Grobheiten und Beschuldigungen herüber und hinüber. Nicht selten kam es aber auch zu Raufereien und Gewaltszenen in den Versammlungen, in denen die beiden Gegner aufeinanderplatzten, was zur Folge hatte, daß öfter die Wirte ihre Säle für Versammlungen verweigerten. Ein Hauptstreben jeder Seite war in den Versammlungen, die Leitung in die Hand zu bekommen; es begann also in der Regel schon der Kampf um den Vorsitz. Als ich einmal in einer Chemnitzer Arbeiterversammlung entdeckte, daß die Lassalleaner, um eine Mehrheit zu erlangen, beide Hände in die Höhe hoben, forderte ich auf: es sollten nunmehr beide Parteien beide Hände in die Höhe heben. Unter großem Jubel wurde der Vorschlag angenommen. Jetzt unterlagen die Lassalleaner.

Der einzige Vorteil dieser Meinungskämpfe war, daß beide Teile die größten Anstrengungen machten, ihren Anhang zu vermehren. Das geschah erst recht, als einige Jahre später die Seite, der ich angehörte, sich ebenfalls zum Sozialismus bekehrte, aber ihre eigenen Organisationen schuf und ihre Kämpfe gegen den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein führte, der sich von 1867 an in zwei ungleich starke Fraktionen spaltete. Aber Kraft, Geld und Zeit wurden in jener, fast ein Jahrzehnt dauernden gegenseitigen Bekämpfung in unerhörter Weise verschwendet, zur Freude der Gegner.

In Leipzig hatte das Aufkommen des Lassalleanismus die Wirkung, daß die alten Differenzen zwischen dem Gewerblichen Bildungsverein und dem Verein Vorwärts verschwanden und endlich im Februar 1865 eine Vereinigung unter dem Namen Arbeiterbildungsverein herbeigeführt wurde. Die Polytechnische Gesellschaft hatte längst die Bevormundung des Gewerblichen Bildungsvereins aufgegeben, die sich als eine Sisyphusarbeit erwies. Außerdem erkannte auch die sächsische Regierung, daß es mit dem alten Bundestagsbeschluß von 1856 nicht mehr gehe; sie ließ wohl oder übel die Zügel schleifen. Hatte doch sogar der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein als Sitz Leipzig erkoren, obgleich dessen Tendenz ganz offensichtlich mit dem Bundestagsbeschluß in Widerspruch stand. Die Regierung zog schließlich die Konsequenzen und erklärte am 20. März 1864 jenen Bundestagsbeschluß für aufgehoben.

Es ist eine Erfahrung, die wir seitdem öfter machten, daß alle Gesetze und Unterdrückungsmaßregeln, die eine Bewegung hintanhalten oder unterdrücken sollen, versagen und ihre praktische Wirksamkeit überwunden wird, sobald die Bewegung sich als naturnotwendig und deshalb als unüberwindlich herausstellt. Die Behörden verlieren schließlich selbst den Glauben an ihre Macht und stellen den hoffnungslos gewordenen Kampf ein. So war es zu jener Zeit auch mit den vereinsgesetzlichen Bestimmungen in Sachsen, so war es bald darauf mit den Arbeiterkoalitionsverboten in Preußen und anderen Staaten, die einfach nicht mehr beachtet wurden.

Die Lohnkämpfe durch Arbeitseinstellungen begannen, allen Koalitionsverboten zum Trotz, noch während die weisen Herren in der Regierung darüber berieten: ob man diese Verbote ganz aufheben oder wie weit man sie aufheben solle. Dieselbe Erfahrung machte später die deutsche Sozialdemokratie unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes, unter dem die Behörden schließlich es auch als unmöglich ansehen mußten, die Versammlungs- und Organisationsverbote und die Unterdrückung der Blätter und Literatur in derselben Weise fortzuführen, wie das in den ersten Jahren unter dem Sozialistengesetz geschehen war. Dieselbe Erfahrung hat noch später auch die Frauenbewegung in denjenigen deutschen Staaten gemacht, in denen es den Frauen verboten war, sich in politischen Vereinen zu organisieren oder an politischen Vereinsversammlungen teilzunehmen. Praktisch waren diese Verbote längst überwunden, ehe man sich von seiten der Regierungen endlich entschloß, durch Gesetz zu sanktionieren, was tatsächlich bereits, dem früheren Verbot zum Trotze, bestand. Gesetze hinken stets hinter den Bedürfnissen drein, sie kommen nie einem solchen zuvor.

Im Leipziger Arbeiterbildungsverein wurde ich bei der notwendig gewordenen Neukonstituierung zum zweiten Vorsitzenden gewählt, eine Stellung, die ich bereits in der letzten Zeit im Gewerblichen Bildungsverein innehatte. Und als der erste Vorsitzende Dr. med. Reyher – ein Schüler Professor Bocks – bald darauf sein Amt niederlegte, rückte ich an dessen Stelle, eine Stellung, die ich bis zum Jahre 1872 innehatte, in welchem Jahre ich meine Festungshaft antreten mußte, die mir wegen angeblicher Vorbereitung zum Hochverrat wider das Deutsche Reich zuerkannt worden war.

Der Arbeiterbildungsverein erhielt vom Jahre 1865 ab eine jährliche städtische Unterstützung von 500 Taler, die ihm hauptsächlich für Ermietung besserer Lokalitäten und Aufrechterhaltung des Unterrichts gewährt wurde. Als aber in den nächsten Jahren der Verein, der politischen Mauserung seines Vorsitzenden folgend, ebenfalls immer mehr nach links abschwenkte, wurde dieselbe von der städtischen Vertretung zunächst auf 200 Taler herabgesetzt. Und als der Verein im Jahre 1869 sich für das Programm der zu Eisenach neugegründeten sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands erklärte, eine Entscheidung, die nach einer Redeschlacht, die drei Abende in Anspruch nahm, mit großer Mehrheit getroffen wurde, verlor er im nächsten Jahre den Rest der Subvention. Der Liberalismus unterstützt nur politisch brave und gehorsame Kinder, denn die Unterrichtszwecke des Vereins hatten unter seiner politischen Wandlung nicht im geringsten gelitten.

Der Vereinstag der deutschen Arbeitervereine

Die Zahl der Arbeitervereine war namentlich in Sachsen erheblich geworden. Außer uns in Leipzig arbeiteten Julius Motteler, den ich 1863 auf dem Stiftungsfest des Gewerblichen Bildungsvereins in Leipzig kennen lernte, und Wilhelm Stolle in Crimmitschau, Kupferschmied Försterling, bevor er zu den Lassalleanern überging, und Schuhmacher A. Knöfel in Dresden, Weber Pils in Frankenberg, die Weber Lippold und Franz in Glauchau, Buchbinder Werner in Lichtenstein-Callnberg, Weber Bohne in Hohenstein-Ernstthal usw. an der Gründung von Arbeitervereinen. Unsere Wirksamkeit dehnten wir auch auf Thüringen aus. Im unteren Erzgebirge waren unter der Wirker- und Weberbevölkerung Dutzende von Arbeiterlesevereinen gegründet worden, in denen ein reges geistiges Leben herrschte. Aehnliche Erscheinungen zeigten sich auch im übrigen Deutschland. Namentlich wurden in Württemberg eine große Zahl Arbeitervereine gegründet, die bereits 1865 sich zu einem Gauverband zusammenschlossen und bald darauf ein eigenes Organ ins Leben riefen. Auch in Baden und dem Königreich Hannover traten viele Arbeitervereine, meist Bildungsvereine, ins Leben.

Die Rührigkeit und Geschlossenheit, mit der andererseits die Lassalleaner arbeiteten, rief auch auf der Gegenseite das Bedürfnis nach Zusammenschluß hervor. Dieser Zusammenschluß konnte aber nur ein loser sein, denn ein gemeinsames festes Ziel, wie es die Lassalleaner hatten, für das sie mit Begeisterung und Opfermut kämpften, fehlte den Vereinen. Das einzige, in dem wir einig waren, war die Gegnerschaft gegen die Lassalleaner, und daß man angeblich keine Politik in den Vereinen treiben wolle. Tatsächlich aber suchten die Leiter der meisten dieser Vereine oder ihre Hintermänner den Verein, auf den sie Einfluß hatten, für ihre Parteipolitik zu gewinnen. Zu diesen Vereinen waren alle Nuancen der bürgerlichen Parteien jener Zeit vertreten. Vom republikanischen Demokraten bis zum rechtsstehenden Nationalvereinler, aus deren Mitte später (1867) die nationalliberale Partei gebildet wurde. Indes lösten sich schon 1865 die radikalen, großdeutsch gesinnten Elemente vom Nationalverein los und bilden die demokratische Volkspartei, deren Organ das in Mannheim erscheinende „Deutsche Wochenblatt“ wurde.

Einstweilen vertrug man sich in den Vereinen so gut es ging. Die politische Situation drängte noch zu keiner klaren Entscheidung, denn der Verfassungskampf gegen das Ministerium Bismarck in Preußen machte ein geschlossenes Zusammengehen nötig. Der Deutsche Reformverein, der sich im Gegensatz zum Nationalverein gebildet hatte und für die Beibehaltung von Gesamtösterreich zum Deutschen Reiche eintrat, war ein Sammelsurium von süddeutsch-partikularistischen und österreichischen Elementen mit stark ultramontanem Einschlag. Dieser hatte für die Arbeiterbewegung keine Bedeutung. Sein Eintreten für die österreichische Bundesreform, die in der Hauptsache in einem deutschen Parlament bestand, das aus den Landtagen der einzelnen Staaten gewählt werden sollte, erweckte nirgends Sympathien. Zu einer klaren Stellungnahme in der deutschen Frage kam man übrigens in den Arbeitervereinen nicht, ebensowenig in der schleswig-holsteinschen Frage, die mit dem Jahre 1864 anfing, sehr aktuell zu werden.

Die Arbeiterbewegung hatte auch im Westen Deutschlands, insbesondere im Maingau, Boden gefaßt. In Frankfurt a.M. kam es gelegentlich eines Arbeitervereinstags, den der Frankfurter Arbeiterbildungsverein, 29. Mai 1862, einberufen hatte, zu scharfen Auseinandersetzungen über die politische Stellung der Arbeiter. Hier trat der Rechtsanwalt J.B.v. Schweitzer – der später eine Hauptrolle in der Bewegung spielte – für eine besondere politische Organisation der Arbeiter ein, offenbar unter dem Einfluß von Lassalles Vortrag: Ueber den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes. Seitdem hörten auch im Maingau die Meinungskämpfe nicht auf. Das Erscheinen von Lassalles Antwortschreiben schürte das Feuer. In Frankfurt machte sich jetzt auch Bernhard Becker bemerklich, in dem ich eine Reihe Jahre später einen mäßig veranlagten und eitlen Menschen kennen lernte, der auch ungelenk in der Rede war. Der Versuch, auf einem Arbeitertag in Rödelheim – 19. April 1863 —, auf dem Professor Louis Büchner einen Vortrag über Lassalles Programm hielt, eine Erklärung gegen Lassalle durchzusetzen, mißglückte. Dagegen erschien Lassalle selbst am 17. Mai in Frankfurt a.M., um seine Sache zu vertreten. Schulze-Delitzsch, der ebenfalls eingeladen war, entschuldigte sein Fernbleiben durch Ueberhäufung mit Geschäften. Er tat wohl daran. Wie ich später Schulze-Delitzsch persönlich kennen lernte, wäre er Lassalle gegenüber in jeder Beziehung unterlegen. Sonnemann, der vor Lassalle sprach, hatte dieses Schicksal.

Die Antwort auf jene Vorgänge im Maingau war ein Ausruf, datiert vom 19. Mai, durch den die deutschen Arbeitervereine zu einem Vereinstag nach Frankfurt a.M. für den 7. Juni 1863 eingeladen wurden. Unterzeichnet war der Aufruf vom Zentralkomitee der Arbeiter des Maingaus, von den Arbeitervereinen Berlin, Kassel, Chemnitz und Nürnberg und dem Handwerkerverein zu Düsseldorf.

In dem Aufruf wurde dem Leipziger Zentralkomitee die Schuld beigemessen, die Einberufung eines Arbeiterkongresses auf lange hinaus unmöglich gemacht zu haben. Der Bewegung selbst liege aber „ein so wichtiger und fruchtbarer Gedanke von so weittragender Bedeutung für eine friedliche, glückliche Entwicklung der Wohlfahrt unseres ganzen Volkes und Vaterlandes zugrunde, daß sie durch den Mißgriff einzelner in ihrem gesunden Verlauf nimmermehr gestört werden dürfe. Es sei die Pflicht aller, denen die Sache selbst am Herzen liege, mit allen Kräften zu verhüten, daß nicht das Ende eines durch Verschulden einzelner verfehlten Versuchs der Anfang einer unheilvollen Spaltung und Zersplitterung der ganzen Bewegung werde.“

Diese Spaltung war aber bereits vorhanden, und sie war, wie ich später erkannte, eine historische Notwendigkeit. Auf dem Vereinstag in Frankfurt a.M. waren 54 Vereine aus 48 Städten und einer freien Arbeiterversammlung (Leipzig) durch 110 Delegierte vertreten. Wäre die Einberufung des Vereinstags nicht Hals über Kopf erfolgt, so daß sie einer Ueberrumplung ähnlich sah, was den Einberufern in der Vorversammlung auch vorgehalten wurde, die Vertretung wäre eine erheblich stärkere geworden. Der Leipziger Gewerbliche Bildungsverein wählte mich mit 112 von 127 Stimmen zu seinem Vertreter. Außerdem waren in einer Leipziger Arbeiterversammlung Professor Roßmäßler und der Werkführer Bitter als Delegierte gewählt worden.

 

Als ich in Frankfurt in der Vorversammlung erschien, wurde ich August Röckel, der Vorsitzender des Lokalkomitees war, vorgestellt, der mich mit den Worten anredete: „Nun, ihr Sachsen, habt ihr endlich ausgeschlafen? Es wird Zeit.“ Etwas geärgert antwortete ich: „Wir sind früher aufgestanden als viele andere!“ Röckel lachte, er habe es nicht bös gemeint.

Unter den Delegierten befanden sich unter anderen Hermann Becker, der rote Becker, der seinerzeit im Kölner Kommunistenprozeß zu langer Festungshaft verurteilt worden war, Eugen Richter, den man kurz zuvor wegen seiner politischen Tätigkeit als Assessor gemaßregelt hatte, ferner Julius Knorr aus München, der Besitzer der „Münchener Neuesten Nachrichten“, die damals als ein kleines Blättchen erschienen, aber ihrem Besitzer ein großes Vermögen einbrachten.

Ob der rote Becker seinen Beinamen seinem roten Haare, das nur noch spärlich den mächtigen Kopf bedeckte, und seinem kurz geschnittenen roten Schnurrbart oder seiner früheren roten Gesinnung verdankte, weiß ich nicht. Becker war ein großer, stattlicher, sehr jovialer Herr, dem man die Freude an einem guten Tropfen und einem guten Bissen vom Gesicht ablesen konnte. Er war auch mitteilsam und gesprächig, im Gegensatz zu Eugen Richter, dessen frostiges, zurückhaltendes Wesen mir schon damals auffiel; Richter machte den Eindruck, als sähe er uns alle mit souveräner Geringschätzung an. Der Zufall wollte, daß ich eines Tages in der Mittagspause mit Becker, Eugen Richter und einigen anderen Delegierten einen Spaziergang um die Stadtpromenade machte. Hierbei kam die Unterhaltung auch auf Lassalle. Becker äußerte, Lassalle habe nur aus verletzter Eitelkeit, weil die Fortschrittspartei ihn nicht auf den Schild gehoben und ihm kein Landtagsmandat verschaffte, sein Pronunziamento gegen sie unternommen. Wie Guido Weiß erzählte, hatte der alte Waldeck geäußert, es sei ein Fehler, daß man Lassalle zurückgestoßen habe. Ferner deutete Becker an, Lassalle habe auch durch allerlei Frauengeschichten „sittliche Bedenken“ in der Fortschrittspartei hervorgerufen, was in Anbetracht der „sittlichen Verfehlungen“, die andere Führer der Fortschrittspartei jener Zeit sich zuschulden kommen ließen, etwas nach Heuchelei aussah. Becker machte seine Aeußerungen, wie ich bemerken will, ohne Animosität gegen Lassalle, wie er sich denn überhaupt nie zu Angriffen gegen seine ehemaligen Parteigenossen hinreißen ließ, im Gegensatz zu Miquel, der später auch für das Sozialistengesetz stimmte.

Die Leitung des Vereinstags wurde Handelsschuldirektor Röhrich-Frankfurt a.M. als erstem und Dittmann-Berlin als zweitem Vorsitzenden übertragen. Als ersten Punkt der Tagesordnung hatte Roßmäßler einen Antrag eingebracht, der fast einstimmige Annahme fand und lautete:

„Der erste Vereinstag deutscher Arbeiter- und Arbeiterbildungsvereine stellt an die Spitze seiner Beratungen und Beschlüsse den Ausspruch, daß er es für erste Pflicht der in ihm vertretenen und aller Arbeitervereine sowohl als überhaupt des gesamten Arbeiterstandes hält, bei der Verfolgung seines Strebens nach geistiger, politischer, bürgerlicher und wirtschaftlicher Hebung des Arbeiterstandes einig unter sich, einig mit allen nach des deutschen Vaterlandes Freiheit und Größe Strebenden, einig und mithelfend zu sein mit allen, welche an der Veredlung der Menschheit arbeiten.“

Diese Resolution drückt mehr als lange Reden den Standpunkt des Vereinstags aus. Obgleich diese Resolution direkt gegen den Lassalleanismus gerichtet war, wie die ganzen Verhandlungen des Vereinstags, wurde, soweit ich mich erinnere, der Name Lassalle nur von einem Redner erwähnt. Diese Ignorierung geschah nicht auf Verabredung; es ist wohl anzunehmen, sie geschah, weil man an die Zukunft der von Lassalle hervorgerufenen Bewegung noch nicht glaubte oder auch, weil man ihm nicht die Ehre antun wollte, seinen Namen zu nennen. Ueber den zweiten Punkt der Tagesordnung: Wesen und Zweck der Arbeiterbildungsvereine, referierte Eichelsdörfer-Mannheim, der auf der linken Seite der Versammlung stand. Ich beteiligte mich ebenfalls an der Debatte. Bemerkenswert ist, daß ein Amendement Dittmanns, das forderte, daß die Vereine auch Lehrkräfte für Ausbildung in der Volkswirtschaftslehre und in der Kenntnis der Landesgesetzgebung zu gewinnen suchen sollten, mit 25 gegen 25 Stimmen abgelehnt wurde. Dem Arbeiter von heute ist diese Rückständigkeit kaum begreiflich.

Ein anderer Punkt der Tagesordnung bildete die Forderung nach Beseitigung der Hemmnisse, die der Freiheit der Arbeit entgegenstünden, über den Dittmann referierte. Seine Resolution forderte Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und Beseitigung der Erschwernisse der Eheschließung. Ein weiterer Punkt der Tagesordnung betraf die Stellung der Arbeiter zu den Spar- und Vorschußvereinen, den Konsum- und Produktivgenossenschaften, deren Gründung der Vereinstag den Arbeitern empfahl. Desgleichen empfahl er Gründung von Genossenschaften zur gemeinschaftlichen Benutzung von Werkstätten mit Triebkräften, als das beste Mittel zur Förderung des nationalen Wohles und der bürgerlichen Selbständigkeit der Arbeiter. In dieser Resolution wurde besonders darauf hingewiesen, daß dieses alles nach Schulze-Delitzschen Vorschlägen durchgeführt werden solle. Auch sollten Arbeiter und Arbeitgeber gemeinsam das Zustandekommen solcher Genossenschaften fördern, eine Auffassung, die nur in einer auf kleinbürgerlichem Standpunkt stehenden Versammlung Zustimmung finden konnte. Endlich sprach sich der Vereinstag für Schaffung von Alters- und Invalidenversicherungskassen aus, die geeignet seien, „manche Sorge wenigstens teilweise zu beseitigen“. Hier lag wenigstens keine Ueberschätzung dieser Kassen vor. In der Organisationsfrage wurde die Gründung von Gauverbänden mit monatlichen Zusammenkünften der Delegierten befürwortet, um die Gründung neuer Vereine zu fördern und unter den bestehenden Vereinen den Verkehr zu unterhalten. Ich nahm bei diesem Punkte das zweitemal das Wort, um mich gegen die Zulassung von Vertretern freier Arbeiterversammlungen auszusprechen. Gestützt auf meine damaligen Erfahrungen führte ich aus, daß mir diese Versammlungen bisher nicht imponiert hätten. Es fehle den Teilnehmern die vorbereitende Aufklärung, die in den Vereinen erreicht würde, und so folgten sie dem augenblicklichen Eindruck, den ein gewandter Redner erziele. Die Fußangeln der Vereinsgesetze fürchtete ich einstweilen nicht, bisher hätte man uns wenigstens in Sachsen gewähren lassen, doch könne ein Rückschlag kommen. Gauverbände hielt ich für nützlich. Diese Ausführungen riefen meinen Leipziger Widerpart Bitter auf die Tribüne, der gegen mein Urteil über den Wert der Arbeiterversammlungen protestierte. Diese seien viel besser, als ich sie schilderte, und mit Rücksicht auf die Möglichkeit, daß man das Vereinsgesetz wieder scharf gegen uns anwende, müßten wir uns die Vertretung durch freie Arbeiterversammlungen als Rückendeckung sichern.

Die schließlich angenommene Organisation lautete: