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Aus meinem Leben. Erster Teil

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Wilhelm Liebknecht

Liebknecht und ebenso Bernhard Becker wurden im Juli 1865 aus Preußen ausgewiesen. Liebknecht war nach dreizehnjährigem Exil im Sommer 1862 nach Berlin zurückgekehrt. Die Amnestie von 1860 ermöglichte ihm dieses. Er folgte dem Rufe des alten Revolutionärs August Braß, den er gleich Engels in der Schweiz kennen gelernt, und der, wie bereits mitgeteilt, im Sommer 1862 in Berlin ein großdeutsch demokratisches Blatt, die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ gegründet hatte. Liebknecht war neben Robert Schweichel für die Redaktion gewonnen worden, und zwar Liebknecht für die auswärtige Politik. In den Charakter von Braß setzte keiner von beiden den geringsten Zweifel, hatte er doch zu den radikalsten Revolutionären gehört. Als aber Ende September 1862 Bismarck das Ministerium übernahm, entdeckten beide bald nachher, daß etwas nicht stimmte. Der Verdacht bestätigte sich, als eines Tages der Zufall wollte, daß Schweichel von einem Boten des Ministeriums ein Schreiben für Braß in Empfang nahm, dessen Inhalt, wie der Bote bemerkte, sofort veröffentlicht werden sollte. Beide kündigten und traten aus der Redaktion. Wie Liebknecht gelegentlich öffentlich erklärte, hat ihm Lassalle noch ein Jahr nach seinem Austritt aus der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ einen Vorwurf daraus gemacht, daß er seine Stellung aufgab. Liebknecht, der damals Frau und zwei Kinder besaß, die er von London nach Berlin hatte kommen lassen, erwarb sich jetzt den Unterhalt mit Korrespondenzen für verschiedene Zeitungen. Als ich ihn kennen lernte, schrieb er unter anderen für den „Oberrheinischen Kurier“ in Freiburg in Baden, für die Rechbauersche demokratische „Tagespost“ in Graz und das „Deutsche Wochenblatt“ in Mannheim, von dem er aber wohl kaum Honorar bezog. Später schrieb er auch einige Jahre für die „Frankfurter Zeitung“. Oeffentliche Vorträge hielt er namentlich im Berliner Buchdrucker- und im Schneiderverein, aber auch in Arbeiter- und Volksversammlungen, in denen er die Bismarcksche Politik bekämpfte, als deren Schildknappen er J.B.v. Schweitzer, den Redakteur des „Sozialdemokrat“, ansah.

Nach seiner Ausweisung reiste er zunächst nach Hannover, wo Schweichel am dortigen „Anzeiger“ eine Redakteurstelle gefunden hatte. Da aber hier sich für ihn nichts fand, kam er nach Leipzig, woselbst er eines Tages, Anfang August, durch Dr. Eras, der damals Redakteur der „Mitteldeutschen Volkszeitung“ war, bei mir eingeführt wurde. Liebknecht, dessen Wirken und Ausweisung ich durch die Zeitungen kannte, interessierte mich natürlich sehr lebhaft. Er stand damals im vierzigsten Lebensjahr, besaß aber das Feuer und die Lebendigkeit eines Zwanzigjährigen. Sofort nach der Begrüßung kamen wir in ein politisches Gespräch, in dem er mit einer Vehemenz und Rücksichtslosigkeit die Fortschrittspartei und namentlich ihre Führer angriff und charakterisierte, daß ich, der ich damals doch auch keine Heiligen mehr in denselben sah, ganz betroffen war. Indes er war ein erstklassiger Mensch, und sein schroffes Wesen verhinderte nicht, daß wir uns bald befreundeten.

Liebknecht kam uns in Sachsen wie gerufen. Im Juli hatten wir auf der Landeskonferenz in Glauchau die Sendung von Reisepredigern beschlossen. Das war aber leichter beschlossen als durchgeführt, denn es fehlten die passenden Persönlichkeiten, deren Lebensstellung eine solche Tätigkeit erlaubte. Liebknecht stellte sich für diese Vortragsreisen bereitwillig zur Verfügung. Auch im Arbeiterbildungsverein war er als Vortragender willkommen, und bald waren seine Vorträge die besuchtesten von allen. Weiter übernahm er im Arbeiterbildungsverein den Unterricht in der englischen und französischen Sprache. So erlangte er allmählich eine allerdings sehr bescheidene Existenz. Dennoch war er gezwungen, was ich später erfuhr, manches gute Buch zum Antiquar zu tragen. Seine Lage wurde dadurch noch verschlimmert, daß seine (erste) Frau brustkrank war und einer kräftigen Pflege bedurft hätte. Aeußerlich sah man Liebknecht seine Sorgen nicht an, wer ihn sah und hörte, mußte glauben, er befinde sich in zufriedenstellenden Verhältnissen.

Die erste Agitationstour unternahm er ins untere Erzgebirge, speziell in die Arbeiterdörfer des Mülsengrundes, womit er sich den Weg zu seiner späteren Kandidatur für den norddeutschen Reichstag bahnte. Da auch ich öfter Agitationsreisen unternahm, und wir von da ab in allen politischen Fragen meist gemeinsam handelten, wurden unsere Namen immer mehr in der Oeffentlichkeit genannt, bis wir schließlich dieser gegenüber als zwei Unzertrennliche erschienen. Das ging so weit, daß, als in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sich ein Parteigenosse mit mir associerte, ab und zu Geschäftsbriefe ankamen, die statt der Adresse Ißleib & Bebel die Namen Liebknecht & Bebel trugen, ein Vorgang, der jedesmal unsere Heiterkeit erregte.

Ich habe Liebknecht in diesen Blättern noch öfter zu erwähnen, aber eine Beschreibung seines Lebenslaufs kann ich hier nicht geben. Wer sich für denselben interessiert, findet das Nähere in dem Buch „Der Leipziger Hochverratsprozeß gegen Liebknecht, Bebel und Hepner“ und in der Schrift von Kurt Eisner „Wilhelm Liebknecht“. Beide Publikationen sind in der Buchhandlung Vorwärts erschienen.

Liebknechts echte Kampfnatur wurde von einem unerschütterlichen Optimismus getragen, ohne den sich kein großes Ziel erreichen läßt. Kein noch so harter Schlag, ob er ihn persönlich oder die Partei traf, konnte ihn nur einen Augenblick mutlos machen oder aus der Fassung bringen. Nichts verblüffte ihn, stets wußte er einen Ausweg. Gegen die Angriffe der Gegner war seine Losung: Auf einen Schelmen anderthalbe. Den Gegnern gegenüber schroff und rücksichtslos, war er den Freunden und Genossen gegenüber allezeit ein guter Kamerad, der vorhandene Gegensätze auszugleichen suchte.

In seinem Privatleben war Liebknecht ein sorgender Ehemann und Familienvater, der mit großer Liebe an den Seinen hing. Auch war er ein großer Naturfreund. Ein paar schöne Bäume in einer sonst reizlosen Gegend konnten ihn enthusiasmieren und verleiten, die Gegend schön zu finden. In seinen Bedürfnissen war er einfach und anspruchslos. Eine vorzügliche Suppe, die ihm meine junge Frau kurz nach unserer Verheiratung, Frühjahr 1866, eines Tages vorsetzte, begeisterte ihn so, daß er ihr diese sein Leben lang nicht vergaß. Ein gutes Glas Bier oder ein gutes Glas Wein und eine gute Zigarre liebte er, aber größere Aufwendungen machte er dafür nicht. Hatte er mal ein neues Kleidungsstück an, was nicht häufig vorkam, und hatte ich das nicht sofort wahrgenommen und meine Anerkennung darüber ausgesprochen, so konnte ich sicher sein, daß er, ehe viele Minuten verflossen waren, mich darauf aufmerksam machte und mein Urteil verlangte. Er war ein Mann von Eisen mit einem Kindergemüt. Als Liebknecht am 7. August 1900 starb, waren es auf den Tag fünfunddreißig Jahre, daß wir unsere erste Bekanntschaft gemacht hatten.

In seiner Parteitätigkeit liebte es Liebknecht, fertige Tatsachen zu schaffen, wenn er annahm, daß ein Plan von ihm Widerstand finden würde. Unter dieser Eigenschaft litt ich anfangs schwer, denn ich bekam in der Regel die Suppe auszuessen, die er eingebrockt hatte. Bei seinem Mangel an praktischem Geschick mußten andere die Durchführung von ihm getroffener Maßnahmen übernehmen. Endlich aber fand ich den Mut, mich von dem Einfluß seines apodiktischen Wesens zu befreien, und nun gerieten wir manchmal hart aneinander, ohne daß die Oeffentlichkeit es merkte und ohne daß unser Verhältnis dadurch dauernd getrübt worden wäre.

Man hat viel geschrieben über den Einfluß, den Liebknecht auf mich gehabt habe; man behauptete zum Beispiel, daß nur seinem Einfluß es zu danken gewesen sei, daß ich Sozialist wurde. In einer bei Langen in München im Jahre 1908 erschienenen Broschüre wird weiter gesagt, Liebknecht habe mich zum Marxisten gemacht, als welchen ich mich im September 1868 auf dem Nürnberger Vereinstag bekannt habe. Liebknecht hätte hiernach volle drei Jahre gebraucht, um aus dem Saulus einen Paulus zu machen.

Liebknecht war vierzehn Jahre älter als ich, er hatte also, als wir uns kennen lernten, eine lange politische Erfahrung vor mir voraus. Liebknecht war ein wissenschaftlich gebildeter Mann, der fleißig studiert hatte; diese wissenschaftliche Bildung fehlte mir. Liebknecht war endlich in England zwölf Jahre lang mit Männern wie Marx und Engels in intimem Verkehr gestanden und hatte dabei viel gelernt, ein Umgang, der mir ebenfalls fehlte. Daß Liebknecht unter solchen Umständen erheblichen Einfluß auf mich ausüben mußte, war ganz selbstverständlich. Andernfalls wäre es eine Blamage für ihn gewesen, daß er diesen Einfluß nicht auszuüben verstand, oder eine Blamage für mich, daß ich aus dem Umgang mit ihm nichts zu profitieren wußte. Einer meiner Bekannten aus jener Zeit schrieb vor einigen Jahren in der „Leipziger Volkszeitung“, er habe (1865) gehört, wie ich im kleinen Kreise von meiner Bekanntschaft mit Liebknecht erzählt und dazu bemerkt hätte: „Donnerwetter, von dem kann man was lernen.“ Das dürfte stimmen. Aber Sozialist wäre ich auch ohne ihn geworden, denn dazu war ich auf dem Wege, als ich ihn kennen lernte. Im beständigen Kampfe mit den Lassalleanern, mußte ich Lassalles Schriften lesen, um zu wissen, was sie wollten, und damit vollzog sich in Bälde eine Wandlung in mir. Die Haltung der liberalen Wortführer in und außerhalb des Parlamentes hatte allmählich auch bei uns Unzufriedenheit erregt, und ihr Nimbus war im Schwinden begriffen. Besonders war es die Haltung der liberalen Wortführer in den Arbeiterfragen, die Mißstimmung erzeugte. Mein Umgang mit Liebknecht hat meine Mauserung zum Sozialisten beschleunigt. Dieses Verdienst hat er. Aehnlich ist es mit der Behauptung, Liebknecht habe mich zum Marxisten gemacht. Ich habe in jenen Jahren viele sehr gute Vorträge und Reden von ihm gehört. Er sprach über das englische Gewerkvereinswesen, die englischen und französischen Revolutionen, die deutschen Volksbewegungen, über politische Tagesfragen usw. Kam er auf Marx und Lassalle zu sprechen, dann stets polemisch, längere theoretische Auseinandersetzungen hörte ich meiner Erinnerung nach nicht von ihm. Zu privaten Unterweisungen hatte aber weder er noch ich Zeit, die Tageskämpfe und was damit zusammenhing ließen uns zu privaten theoretischen Erörterungen nicht kommen. Auch war Liebknecht nach seiner ganzen Veranlagung weit mehr großzügiger Politiker als Theoretiker. Die große Politik war seine Lieblingsbeschäftigung.

 

Ich bin vielmehr, wie fast alle, die damals Sozialisten wurden, über Lassalle zu Marx gekommen. Lassalles Schriften waren in unseren Händen, noch ehe wir eine Schrift von Marx und Engels kannten. Wie ich von Lassalle beeinflußt worden war, zeigt noch deutlich meine erste Broschüre „Unsere Ziele“, die Ende 1869 erschien. Gegen Ende 1869 fand ich aber auch erst auskömmlich die Zeit und Ruhe, den im Spätsommer 1867 erschienenen ersten Band „Das Kapital“ von Marx gründlich zu lesen, und zwar im Gefängnis. Fünf Jahre früher hatte ich versucht, die 1859 erschienene Schrift von Marx „Zur politischen Oekonomie“ zu studieren, aber es blieb bei dem Versuch. Ueberarbeit und der Kampf um die Existenz gewährten mir nicht die nötige Muße, die schwere Schrift geistig zu verdauen. Das Kommunistische Manifest und die anderen Schriften von Marx und Engels wurden aber der Partei erst gegen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre bekannt. Die erste Schrift, die mir von Marx in die Hände kam und die ich mit Genuß las, war seine Inauguraladresse für die Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation. Diese Schrift lernte ich Anfang 1865 kennen. Ende 1866 trat ich der Internationale bei.

Zunehmende Verstimmung in den Arbeitervereinen

Die unerquicklichen öffentlichen Zustände, die den Arbeitern immer mehr zum Bewußtsein kamen, wirkten naturgemäß auch auf deren Stimmung. Alle verlangten nach Aenderung. Aber da keine klare und zielbewußte Führung vorhanden war, zu der man Vertrauen hatte, auch keine mächtige Organisation bestand, die die Kräfte zusammenfaßte, verpuffte die Stimmung. Nie verlief resultatloser eine im Kern vortreffliche Bewegung. Alle Versammlungen waren überfüllt, und wer am schärfsten sprach, war der Mann des Tages. Diese Stimmung herrschte vor allem im Leipziger Arbeiterbildungsverein. Gegen Ende Oktober veranlaßte ich Professor Eckhardt aus Mannheim – der einer der glänzendsten Redner jener Zeit war —, nachdem er in einer Volksversammlung in Leipzig gesprochen hatte, auch im Arbeiterbildungsverein einen Vortrag zu halten. In diesem behandelte er die Stellung des Arbeiters in der damals gegebenen Situation, namentlich in bezug auf seine sozialen Forderungen. In letzterer Beziehung sprach er sich entschieden für das Eingreifen des Staates aus. Er hatte auch gegen die Lassallesche Idee der Staatshilfe nichts einzuwenden, wenn diese von einem demokratischen Staate ausgehe. Der Redner erntete stürmischen Beifall und fand keinerlei Widerspruch.

Ungeachtet der wiederholten Abweisungen hatten wir uns Ende 1865 abermals an die sächsische Regierung um die Genehmigung eines Gauverbandes gewendet. Häufiger Austausch der politischen Ansichten war zum Bedürfnis geworden. Das Ministerium stellte wiederum Bedingungen, die wir nicht annehmen konnten. Doch beschlossen wir im Vorstand des Vereins für Förderung der geistigen und materiellen Interessen der Arbeitervereine, den Vereinen die Entscheidung zu überlassen, und beriefen eine Landesversammlung für den 28. Januar 1866 nach Zwickau, deren Tagesordnung wir festsetzten, als gäbe es kein gesetzliches Hindernis. Danach sollte nach dem Bericht über die Verwaltung die Antwort des Ministeriums besprochen werden. Weiter sollten beraten werden: Petitionen für volle Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, für die Förderung eines freisinnigen Vereinsgesetzes, die Aufhebung der Arbeits- und Dienstbücher und aller Paßbeschränkungen. Nach diesem sollten die Anträge der Vereine beraten und die Wahl des Vorstandes vorgenommen werden. Wegen Erlangung des allgemeinen Wahlrechtes wollten wir uns in einer Privatbesprechung verständigen.

Unsere Tagesordnung ging dem Leipziger Polizeidirektorium zu weit. Unser Schriftführer Germann und ich wurden vorgeladen und ersucht, dieselbe zu ändern, widrigenfalls die Konferenz nicht stattfinden dürfe und die Vereine für politische erklärt würden, was eine Verbindung unter denselben unmöglich gemacht hätte. Polizeidirektor in Leipzig war damals ein Dr. Rüder, ein ehemaliger demokratischer Achtundvierziger, der aber das Vereins- und Versammlungsgesetz in einer Weise handhabte, daß es kein Konservativer hätte strenger handhaben können. Wir setzten nunmehr nur die Besprechung der Ministerialverordnung auf die Tagesordnung, unterrichteten aber unter der Hand die Vereine, sie möchten sich gut vertreten lassen, wir würden versuchen, auf der Konferenz durchzusetzen, was möglich sei. Es waren von 24 Vereinen 31 Vertreter anwesend. Sonntag vormittag begannen die Verhandlungen. Als ein Vertreter für Werdau den Antrag stellte, die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit auf die Tagesordnung zu setzen, widersprach dem der anwesende Polizeikommissar. Ueber die Verordnung des Ministeriums (Beust) machte ich der Versammlung den Vorschlag zu erklären:

„In Anbetracht, daß die Verordnung des Ministeriums des Innern den Arbeitervereinen Sachsens die Gründung eines Gauverbandes nur unter der Bedingung gestattet, daß dieselben sich nicht mit politischen, sozialen oder öffentlichen Angelegenheiten befassen, durch diese Beschränkung aber die Tätigkeit der Vereine auf Null reduziert wird, beschließt die Versammlung, von der Gründung eines Gauverbandes abzusehen, und überläßt es jedem Verein, wie er seiner Aufgabe nachkommen will.“

Die Folge jener Zwickauer Vorgänge war, daß das Leipziger Polizeidirektorium den Arbeiterbildungsverein unter das Vereinsgesetz stellte, das heißt, ihn von nun an als politischen Verein behandelte.

Große Mißstimmung hatte im Leipziger Arbeiterbildungsverein seit langem die Haltung der „Berliner Volkszeitung“ erregt, die im Lesezimmer auslag, und zwar sowohl wegen ihrer undemokratischen Haltung als auch wegen der Feindseligkeit, mit der sie die weitergehenden Arbeiterforderungen bekämpfte. In der Generalversammlung des Vereins (März 1866) stellte ich im Auftrag des Vorstandes den Antrag, die „Berliner Volkszeitung“ abzuschaffen und dafür die „Rheinische Zeitung“ in Köln zu abonnieren. Der Antrag gab Anlaß zu einer erregten Debatte, er wurde aber schließlich mit 160 gegen 17 Stimmen angenommen. Dieser Beschluß führte in der liberalen Presse zu heftigen Angriffen gegen den Verein und mich persönlich. Man sah mich als den Urheber des Antrags an.

Die im Jahre 1863 in Sachsen eingeführte Gewerbefreiheit setzte voraus, daß wer sich selbständig machen wollte, erst das Gemeindebürgerrecht erlangen mußte. Das kostete aber namentlich in den größeren Städten viel Geld. Es begann nunmehr im Winter von 1865 auf 1866 in Leipzig eine Bewegung, die auf Beseitigung beziehungsweise Herabsetzung der Bürgerrechtsgebühren und eine radikale Umgestaltung der sächsischen Städteordnung abzielte. Liberale Führer standen damals an der Spitze dieser Bewegung. Ich besuchte ebenfalls die betreffenden Versammlungen und soll, so wurde mir mehrfach versichert, die besten Reden gehalten haben. Nachdem ein Programm aufgestellt worden war, wurde ein Komitee niedergesetzt, dem auch ich angehörte, das die Agitation über ganz Sachsen in die Wege leiten sollte. Aber unsere Arbeit erwies sich bald als zwecklos. Als wir im Frühjahr 1866 so weit waren, die Agitation beginnen zu können, war die Zuspitzung der Gegensätze zwischen Preußen und Oesterreich und die Erörterungen über die Lösung der deutschen Frage so weit gediehen, daß sie jedes andere Interesse in den Hintergrund drängten. Das gleiche Schicksal hatte unsere Agitation für eine Umgestaltung der sächsischen Gewerbeordnung. Dagegen traten jetzt die politischen Forderungen in den Vordergrund.

Den 25. und 26. März fanden hierfür mehrere Versammlungen in Dresden statt, zu denen ich von Leipzig delegiert wurde, auf deren Tagesordnung auch die Einigungsfrage stand. Ich sprach mich als Delegierter für Leipzig für ein gemeinsames Zusammengehen aus, dagegen machte Vahlteich den Fehler, daß er die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins scharf angriff und mit Vorwürfen überhäufte, was einen Sturm der Entrüstung hervorrief. Vahlteich konnte die ihm als einstigem Sekretär Lassalles im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein widerfahrene Behandlung nicht vergessen – er war auf Antrag Lassalles, der keinen Widerspruch vertragen konnte, ausgestoßen worden —, und so schlug er auf den Verein los, wo er immer dazu Gelegenheit fand. Dennoch kam es nach Schluß jener Versammlungen zu einer gemeinsamen Konferenz, an der die Arbeiterbildungsvereine Leipzig, Dresden, Chemnitz, Glauchau und Görlitz, die Mitgliedschaften des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu Dresden, Plauenscher Grund, Chemnitz und Glauchau, der Altgesellenverein und die Typographia zu Dresden durch 20 Delegierte teilnahmen. Man beschloß gemeinsame Agitation für das allgemeine Wahlrecht, für ein demokratisches Vereins- und Versammlungsrecht, für Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Aufhebung der Paßbeschränkungen, Einführung einer Schulreform, Erhaltung der Schulen durch den Staat, Regelung der Lohnfrage, der Kranken- und Unterstützungskassen- und der Assoziationsfrage. Die Anwesenden konstituierten sich als Komitee. Försterling wurde dessen Vorsitzender.

Bei der Einberufung von Versammlungen beteiligten sich jetzt alle in Dresden bestehenden Arbeiterorganisationen, einschließlich des Buchdruckergehilfenverbandes. Man handelte, als gäbe es kein sächsisches Vereinsgesetz mehr, das die Verbindung von Vereinen für politische Zwecke verbot. Auch wurde von allen Seiten ein dauerndes Zusammengehen der Arbeiterorganisationen verlangt. Die Parlamentsfrage wurde von jetzt ab Gegenstand lebhaftester Agitation in den Arbeiterkreisen. Wir forderten ein konstituierendes Parlament für Gesamtdeutschland und die Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung zum Schutze des Parlaments, eine Forderung, die damals in den demokratischen Kreisen als selbstverständlich galt, weil ohne einen solchen Schutz das Parlament Gegenstand eines Staatsstreichs werden könne.

Dagegen faßte eine Versammlung, die am 7. Mai in Dresden tagte und von 2000 Personen besucht war, Beschlüsse, die teilweise recht seltsam lauteten. Darin hieß es:

1. Wir verdammen jede Politik, welche die Kraft des Volkes lähmt und ihm nicht die Garantien seiner Freiheit und seines Wohlstandes gibt. 2. Wir erklären die Abtretung von nur einem Fußbreit deutschen Landes als Verrat am Vaterland. 3. Wir verlangen, daß Seine Majestät der König und die Regierung ihren Pflichten gegen das Vaterland und das Volk nachkommen, und daß deshalb diejenigen Männer, welche diesen Pflichten entgegen die Energie des Widerstandes lähmen, durch solche ersetzt werden, welche energisch und im volkstümlichen Sinne handeln. 4. Wir verlangen, daß die Interessenherrschaft, deren landesverderbliche Resultate jetzt offen zutage treten, durch Wiederherstellung des allgemeinen, gleichen und direkten Stimmrechtes mit geheimer Abstimmung und unbeschränkter Wählbarkeit ersetzt wird. 5. Wir verlangen, daß die Regierung Seiner Majestät den Entschluß kund gebe, auf Grund der Bundesbeschlüsse vom 30. März und 9. April 1848 das Parlament einzuberufen und in die Lösung der deutschen Verfassungsfrage im Sinne der im Februar 1849 der deutschen Nationalversammlung ausgesprochenen Geneigtheit einzutreten. 6. Wir verlangen sofortige Wiederherstellung der deutschen Grundrechte und allgemeine Volksbewaffnung.

Es wurde alsdann eine Deputation gewählt, zu der Försterling, Knöfel und Rechtsanwalt Schraps gehörten, die dem König die Wünsche der Versammlung vortragen sollten. Selbstverständlich wurde der Empfang dieser Deputation abgelehnt.

Schließlich mußte wohl oder übel auch die sächsische Regierung, gedrängt durch die Stimmung im Lande und den mittlerweile einberufenen Landtag, Stellung zur Bundesreformfrage nehmen. Herr v. Beust, der bisher Anhänger des unmöglichen österreichischen Reformprojektes gewesen war und auch der Triasidee warm das Wort geredet hatte, kam jetzt ins Gedränge. Von der Deputation der Zweiten Kammer des Landtags befragt, wie nunmehr die Regierung zu dem österreichischen Reformprojekt stehe, erklärte er: es sei nicht ihre Absicht, auf das Delegiertenprojekt zurückzukommen; sie sei bereit, für eine Bundesreform zu wirken und für ein Parlament, das auf Grund des Wahlgesetzes von 1849 zu wählen sei. Gegenüber dem preußischen Reformentwurf machte er allerlei unklare Vorbehalte. Die Deputation der Zweiten Kammer beantragte im Verein mit der Deputation der Ersten Kammer, an die Regierung den Antrag zu richten:

 

„Die Regierung möge mit aller Energie dahin wirken, daß die Anordnung der Wahlen zum deutschen Parlament auf Grund allgemeiner und direkter Wahl, womöglich nach dem Reichswahlgesetz vom 27. März 1849, in ganz Deutschland noch im Laufe dieses Monats (Juni) erfolge und die Einberufung des Parlaments in möglichst kurzer Frist geschehe.“

Aber die Kugel war bereits im Rollen und lief nach einer anderen Richtung, als man erwartete.