Prinzessin wider Willen

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DREI

Vor seiner Tür erklangen Stimmen, und Louis‘ Bariton kündete von der Ankunft des Königs.

»Guten Tag, Ihre Majestät.«

Tanner begrüßte den König, Nathaniel II., und seinen Assistenten Jonathan an der Tür und lud sie ein, sich auf eine Tasse Tee zu setzen. Gouverneur Seamus Fitzsimmons, Tanners ehemaliger Chef, folgte ihnen auf dem Fuße.

Die Unterhaltung plätscherte leicht dahin, sie sprachen über Sport und das Wetter. So verbrachten sie zwanzig Minuten, am Tee nippend und Gebäck knabbernd.

Tanner saß auf der Kante seines Ohrensessels an der Seite des Königs. Sein Geduldsfaden spulte sich mit rasender Geschwindigkeit ab.

Was will der König?

Neben Tanner erging sich Gouverneur Fitzsimmons in einem Redeschwall über seine Errungenschaften und protzte, eitel wie ein Pfau und ohne jegliche Scheu, mit seinen politischen Federn.

»Haben Sie unseren Bericht gelesen, Ihre Majestät? Wir konnten mehr öffentliche Gelder für die Bildungspolitik bereitstellen. Und mit der neuen Steuerinitiative des Parlaments sieht es ganz so aus, als würde sich die Wirtschaft rasch erholen.«

Genug. Tanner machte sich keine Gedanken darum, ob sich Seamus ärgern würde. Er rettete den König vor diesem nicht enden wollenden Kampagnen-Gewäsch. Er wusste sehr gut, was der Gouverneur im Sinn hatte – beim König gut Wetter machen nämlich für den Fall, dass Hessenberg seine Unabhängigkeit nicht erlangen und dauerhaft ein Teil Brightons werden würde.

Tanner riss das Ruder der Unterhaltung an sich.

»Wie steht es denn mit Ihren Heiratsplänen, Ihre Majestät?«

Seit Nathaniels Verlobung mit der Amerikanerin Susanna Truitt waren die Medien voll mit Berichten über die königliche Hochzeit. Sie verglichen die hübsche, blonde, sportliche Susanna mit Herzogin Kate und fragten sich, ob sie sich wohl ebenso gut in das höfische Leben einfügen würde wie der neue Liebling der Briten. Immerhin hatten die Vereinigten Staaten seit fast 240 Jahren kein königliches Oberhaupt mehr gehabt.

»Sehr gut, Tanner, sehr gut. Danke der Nachfrage.« Nathaniel lächelte, und etwas, das mehr war als reine Dankbarkeit, leuchtete in seinen Augen auf. Aha, der Glanz der großen Liebe. Tanner hatte so ein Gefühl noch nie empfunden, aber er hatte es bei anderen gesehen. Und sie beneidet.

»Ihre Mutter ist angereist, um bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen. Ich möchte behaupten, man hat nicht richtig gelebt, bevor man gesehen hat, wie die Königinwitwe Brightons und die Königin des Barbecues aus Georgia aneinandergeraten.« Er lachte. »Ich fürchte, die arme Susanna ist meistens mehr Schiedsrichterin als zart errötende Braut.«

»Da darf man sich nicht täuschen lassen.« Jonathan ging zum Teewagen. »Susanna kann ihren Standpunkt sehr gut vertreten. Sie kann ebenso gut austeilen wie einstecken.«

»Es wird also nicht langweilig?« Tanner stand auf, um sich noch einen Tee zu holen, aber Louis, der gerade Jonathan nachgeschenkt hatte, trat ihm entgegen und schenkte ihm wortlos ein.

»Wenn man jetzt noch meinen Bruder, Prinz Stephen, mit in den Ring wirft, dann hat man einen Zirkus erster Güte.« Nathaniel wischte sich die Finger an seiner Serviette ab und tauschte einen Blick mit Jonathan. Dieser schob seine Hand in einen Diplomatenkoffer, aus dem er einen dünne braune Mappe herausholte, die er dem König reichte. »Aber wir sind nicht gekommen, um über meine Hochzeit zu sprechen.« Der König gab die Mappe an Tanner weiter. »Wir sind gekommen, um über das Abkommen zu sprechen.«

»Welche Neuigkeiten bringen Sie uns?« Seamus zog schnaufend eine Pfeife aus seiner Westentasche.

»Tanner«, sagte Nathaniel und bedachte Seamus mit einem scharfen Blick. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, als Sie uns mit Yardley Pritchard bekanntgemacht haben. Sein älterer Bruder Otto wechselte in den Jahren nach ihrer Abreise aus Hessenberg tatsächlich einige wenige Briefe mit Prinzessin Alice.«

»Professor Pritchard hat nie ausdrücklich gesagt, dass er wüsste, wie es der Prinzessin ergangen war oder wo sie sich aufhielt«, erwiderte Tanner, »aber er hat in seinen Kursen oft erwähnt, dass sein älterer Bruder als Schreiber des Großherzogs gedient hatte, bevor der das Land verließ. Daher nahm ich an, dass irgendeine Form der Korrespondenz stattgefunden haben könnte.«

»Ihre Annahme war richtig, Tanner. Pritchard erzählte, sein Bruder habe selten, und auch erst im Alter, über seinen Dienst am Hofe gesprochen«, fuhr der König fort. »Der alte Herzog hatte ihn davon überzeugt, dass seine Familie in Gefahr geraten würde, wenn die Feinde des Großherzogs davon erfuhren, dass Otto irgendetwas über das Abkommen oder die königliche Familie wusste. Oder schlimmer noch, dass Otto als Verräter hingerichtet werden könnte.«

»Der arme Bruder Otto«, sagte Seamus. »Er wird ein gutes Stück älter als Yardley gewesen sein, schätze ich?«

»Siebzehn Jahre«, bestätigte Nathaniel. »Die Zeiten waren turbulent, nachdem der Prinz das Abkommen unterzeichnet hatte, und dann kam der Krieg. Otto hat recht daran getan, den Mund zu halten.«

»Aber glücklicherweise hatte der gute alte Otto die Geistesgegenwart, Yardley zu erzählen, wo er die Briefe der Prinzessin aufbewahrte«, sagte Jonathan.

»Sind sie hier drin?« Tanner öffnete die Mappe, um die Briefe ans Tageslicht zu befördern. Er überlegte, dass er sie im Museum ausstellen könnte.

»Es stellte sich heraus, dass er nur einen einzigen hatte«, sagte Nathaniel. »Sollte es mehr gegeben haben, so sind die anderen verlorengegangen oder an eine andere Stelle geräumt worden, davon wissen wir nichts. Aber von dem einen, den wir haben, liegt eine Kopie dem Bericht für Sie bei.«

»Wir sind wohl nicht dazu berufen, so furchtbar viel über Prinz Franz und seine Familie zu erfahren.« Tanner überflog den kurzen Brief und wünschte sich, er hätte einen ruhigen Moment für sich alleine, um zu lesen und nachzudenken.

Der Großherzog, der nicht lesen konnte, hatte wenige Aufzeichnungen über sein Leben geführt. Wenn es zu seiner Zeit Fernsehen oder Tonfilme oder wenigstens Radio gegeben hätte, so hätte er vielleicht etwas zu sagen gehabt, etwas, was er der Zukunft hinterlassen konnte. Stattdessen hatten sie einen einzigen Brief mit Wasserflecken in einer Fotokopie. Von Prinzessin Alice an Otto, geschrieben am Vorabend ihrer Abreise nach Amerika.

Tanner sah auf. »Also ist es beinahe sicher, dass der Thronerbe Amerikaner ist?«

»Das wird nicht gehen.« Seamus lehnte sich über Tanners Schulter. Der Geruch seines Aftershaves drängte sich unangenehm in die dünne Luft zwischen ihnen. »Eine Amerikanerin?«

»Es wird gehen, Gouverneur, weil sie die rechtskräftige und rechtmäßige Erbin ist. Ihr Name ist Regine Alice Beswick. Es war eine Sisyphosaufgabe für die Ermittler, Prinzessin Alice‘ Reise von Hessenberg über Brighton nach London und schließlich in die Staaten nachzuverfolgen. Wie sich herausstellte, war die erste Alice, der sie folgten, nicht Prinzessin Alice.«

»Die Aufzeichnungen nach dem Krieg waren ein bisschen dürftig«, sagte Tanner, der den Bericht querlas.

»Ganz Europa war ›ein bisschen dürftig‹ nach dem Krieg.« Nathaniel lehnte sich nach vorne und legte die Unterarme auf die Oberschenkel. »Die Ermittler fanden letztendlich eine Alice Stephanie Regina, die 1922 in London einen Piloten der Royal Air Force geheiratet hatte. Sie ist unsere Prinzessin. 1924 bekamen sie eine Tochter, Eloise. Alice‘ Mann fiel im Zweiten Weltkrieg. Sie wanderte 1946 mit Eloise nach Amerika aus, wo sie über kurz oder lang wieder heiratete. Nun ja, Sie werden die entsprechenden Informationen in Ihrem Dossier finden. Jedenfalls lebt Alice‘ Erbin, ihre Urenkelin, in Tallahassee, Florida.« Der König stand auf. »Sie ist 29 und …«

»Ich habe jemand Älteren erwartet«, sagte Tanner. »Eine Tochter oder eine Enkelin.«

»Das haben wir alle. Alice‘ Tochter und ihre Enkelin sind beide jung verstorben. Sie hat sie beide überlebt. Regina ist ein Einzelkind. Sie hatte einen älteren Bruder, der aber kurz nach seiner Geburt gestorben ist.«

Tanner beendete seine Lektüre und wollte die Mappe König Nathaniel zurückgeben. Aber der König weigerte sich, sie anzunehmen.

»Tanner, als Hessenbergs Kulturminister und als Mann, der die Gesetzeslage des Abkommens kennt, ernenne ich Sie zum Gesandten für unsere neue Prinzessin. Reisen Sie nach Amerika und holen Sie sie nach Hause.«

»Ich, Sir?« Er war ja gerade mal seit sechs Monaten Kulturminister. Es musste doch jemanden geben, der besser qualifiziert war. »Es wäre mir eine Ehre.« Tanner sprang auf und sah seinen König auf Augenhöhe an. »Aber wären Sie nicht selbst der Richtige, um sie davon zu unterrichten?« Tanner spürte die Anspannung, die sich im Raum ausbreitete. Die Entrüstung des Gouverneurs überlagerte alles. Er wettete mit sich selbst, dass er den Teppich unter den großen, intrigierenden Füßen beben sehen würde, wenn er den Blick senkte. »Oder vielleicht wäre Seamus der Mann der Stunde.« Tanner wies auf den erfahrenen Gouverneur.

»Ja, da stimme ich Tanner zu, absolut.« Seamus trat vor. Tanner hatte nichts anderes erwartet. »Ich wäre wohl besser dafür geeignet, wo ich doch seit 15 Jahren der Gouverneur dieses Landes bin.«

Aber der König blieb völlig ungerührt. »Sie sind viel zu beschäftigt und werden hier gebraucht, Seamus. Und ich selbst kann auch nicht fahren. Mein Terminplan ist viel zu voll. Tanner, Sie sind der perfekte Kandidat.« Nathaniel nickte, als sei er mit dieser Entscheidung ganz zufrieden. »Sie kennen nicht nur die Details des Abkommens, Sie sind auch auf dem neuesten Stand, was die Geschichte des Hauses Augustin-Sachsen angeht. Sie sind in Miss Beswicks Alter. Außerdem wissen wir nicht, wie lange es dauern wird, bis Sie sie davon überzeugen können, mitzukommen und ihren rechtmäßigen Platz einzunehmen. Es könnte Wochen in Anspruch nehmen, und weil Sie neu sind in Ihrer Position, sind Sie am flexibelsten von uns allen.« Nathaniel zeigte mit dem Finger auf Tanner. »Ein sehr glücklicher Umstand. Also, nachdem ich nun nicht für einen beliebigen Zeitraum verreisen kann … und ich nehme an, Seamus auch nicht, ist das richtig, Gouverneur?«

 

Nathaniels Tonfall schien den älteren Staatsmann zu besänftigen. »Ganz recht, Ihre Majestät«, polterte Seamus, »ganz recht.«

»Ich weiß, dass Sie sich gerade erst in Ihrer Position etablieren«, sagte Nathaniel. »Aber ich glaube, dass Sie der Richtige sind, um die Prinzessin heimzuholen.«

»Sir, ich werde tun, worum Sie mich bitten.« Tanner lockerte den inneren Griff, den er um sein Herz gelegt hatte. Um seinen Zeitplan. Für den König würde er doch seine eigenen Pläne hintanstellen können, oder nicht? Und sich damit sogar noch weiter von den Misserfolgen seiner Vergangenheit entfernen. »Wenn Sie meinen, ich sei derjenige, der nach Amerika reisen und die Prinzessin von ihrem Glück überzeugen soll …«

»Das meine ich, ja.« Nathaniel lächelte, als sei damit alles erledigt. »Wir haben die Royal Air Force One für Ihre Reisen reserviert. Wenn Sie keine Einwände haben, wäre es mir recht, wenn Sie gleich morgen früh abreisten.« Der König musterte ihn abwartend. Seine informelle Ausstrahlung bekam zusehends einen majestätischen und imposanten Charakter.

Tanner würde also morgen auf Reisen gehen …

»Ich werde bereit sein, Ihre Majestät.« Er würde vermutlich den ganzen Abend, wenn nicht sogar die ganze Nacht brauchen, um seinen Terminplan freizuschaufeln. Hatte er genug saubere Kleidung? Drei Anzüge waren in der chemischen Reinigung. Die schloss um halb sechs. »Soll ich alleine reisen oder in Begleitung?«

»Wenn Sie wollen, reisen Sie alleine. Je diskreter, desto besser. Wir wollen die Presse aus der Sache heraushalten. Kein Wort darüber.« Nathaniel sah sich im Raum um und sammelte zustimmende Blicke. »Lassen Sie sie uns hierherholen, sich etwas zurechtfinden mit der neuen Rolle, dann können wir die Medien auf den Plan bringen und damit wohl die ganze Welt. Tanner, Sie sind sozusagen unser Ein-Mann-Sondereinsatzkommando. Sie haben die volle Rückendeckung des Parlaments. Die königliche Behörde hat alle benötigten Dokumente vorbereitet, einschließlich dessen, das Sie in der Hand halten.« Er zeigte auf die Mappe. »Sämtliche Unterlagen werden in der Royal Air Force One auf Sie warten.«

»Ist diese Eile denn vonnöten, Ihre Majestät?«, fragte Seamus.

Nathaniel wandte sich dem Gouverneur zu. Er schien ruhig, gelassen. Jonathan drehte sich schneller um, und in seinen Augen war die Verwunderung deutlich zu sehen.

»Das Abkommen endet in einem Monat, Gouverneur«, sagte Tanner. Seamus, alter Freund, sei kein Narr.

»Was würden Sie vorschlagen, Seamus?«, fragte Nathaniel. »Wenn sie nicht weiß, dass sie die Erbin ist, wird es eine Weile dauern, bis sie die Neuigkeit verdaut hat, und noch ein bisschen länger, bis wir sie davon überzeugen können, dass wir sie brauchen. Und sollte sie zufällig bereits von ihrem Erbe wissen, so werden wir vermutlich Zeit brauchen, um mit ihr über ihren Weg hierher zu verhandeln. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Nobel.« Seamus klemmte sich die Pfeife zwischen die Lippen und murmelte: »Welches Mädchen träumt nicht davon herauszufinden, dass es eine Prinzessin ist?«

»Wir sind hier nicht in einem Film, Gouverneur«, sagte Jonathan. »Miss Beswick führt ein eigenständiges Leben, sie hat Freunde, eine Familie …«

»Was, wenn sie sich weigert?« Tanner ging der Sache direkt auf den Grund. »Wenn sie die ganze Angelegenheit ablehnt? Königliche Prinzessin gesucht, die die Zukunft eines kleinen Landes rettet, und all das …«

»Sie überzeugen sie.« Nathaniel trat vor Tanner und schnitt ihm den Weg ab. »Kommen Sie nicht ohne sie nach Hause.«

Tanners Angst echote in seinem Puls. Nicht vermasseln. Nicht vermasseln.

»Ich werde mein Bestes tun …«

»Geben wir uns keinen Illusionen hin. Das wird nicht leicht werden«, fuhr Nathaniel fort, seinen Rat zu erteilen. »Wir können alle nur dafür beten, dass sie in irgendeiner Form auf die Neuigkeiten vorbereitet ist. Vielleicht sind unsere Befürchtungen ja auch umsonst. Prinzessin Alice könnte Regina vor ihrem Tod erzählt haben, wer sie war.«

»Aber wir wissen wirklich nicht, was Alice wusste, als sie 1914 aus Hessenberg geflohen ist. Deswegen wissen wir auch nicht, was sie Regina erzählt haben könnte.« Jonathan sah auf die Uhr. »Ihre Majestät, wir müssen los.«

»Es tut mir leid, dass ich aufbrechen muss, aber ich muss zu einem Staatsempfang im Palast.« Nathaniel ging mit seinem Assistenten zur Tür. »Ich wollte Sie persönlich um die Übernahme dieser Aufgabe bitten, Tanner. Sie ist uns überaus wichtig. Jonathan wird Sie bezüglich weiterer Details auf dem Laufenden halten.«

»Ich bitte Louis, Sie zu informieren, wenn ich so weit bin.« Tanner ging ebenfalls zur Tür. »Stellen Sie sich auf den Morgen ein, so gegen zehn.«

»Tanner …«, Nathaniel hielt im Türrahmen inne und bot ihm die Hand, »Ihr König und Ihr Land sind Ihnen sehr dankbar.«

Tanner ergriff die Hand des Königs, und die Bedeutsamkeit dieses Moments legte sich wie ein schwerer Mantel auf seine Seele.

Hessenbergs Geschichte der letzten hundert Jahre hatte sich auf diesen Moment hin ereignet. Erst mit der Geschwindigkeit eines Schiffs, das über die offene See getrieben wird, und später, im Laufe der Jahrzehnte, mit dem stetigen Antrieb eines Automobils. Aber nun, wo sich das Ende des Brighton-Hessenberg-Abkommens abzeichnete, rasten die Wochen im Tempo eines Schnellboots dahin.

Und Tanner war der einsame Kapitän, der nicht versagen durfte.


Meadowbluff Palace, den 13. Juni 1914

Heute habe ich meine letzte Sitzung mit Herrn Renoir auf der Wiese am Dickicht. Er besteht darauf, dass ich sehr schön sei und perfekt gemalt werden müsse. Dabei muss er es langsam leid sein, dass ich Tag für Tag vor ihm herumsitze. Nichtsdestotrotz haben wir einen ganz wunderbaren Sommer hier in Hessenberg, und so macht es mir nichts aus, an der frischen Luft zu sein.

Onkel ist sehr zufrieden mit Herrn Renoirs Arbeit und hat beschlossen, dass es eine große Enthüllung geben soll, wenn das Porträt fertig ist. So geht es nun hinaus zum Dickicht, weil das Licht um die Mittagszeit dort perfekt ist. Es ist einfach zauberhaft. Ich spüre tiefen Frieden, wenn ich über den Rasen zur Wiese und zum Dickicht hinübergehe.

Das ist auch der Ort, an dem ich meine Gebete im größten Vertrauen darauf sprechen kann, dass Gott mir zuhört. Ich schäme mich nicht dafür, zuzugeben, dass ich ihn um einen Ehemann gebeten habe. Ich liebäugele sehr mit Reinhart Friedrich – und Mama tut das ebenso. Doch er hat den Palast seit dem Frühjahr nicht mehr besucht. Auch bei den Sommergesellschaften habe ich ihn nicht gesehen.

Lady Sharon sagt, sie habe Gerüchte gehört, dass Reinhart zur Armee gegangen sei. Welche Armee das aber sein könnte, das weiß ich nicht. Hessenberg hat kein erwähnenswertes Militär. Das weiß ich, weil es Onkel ärgert, da sein Premierminister darauf besteht, unsere Streitkräfte wieder aufzubauen.

Ich weiß nicht, was Onkel denkt. Aber während ich gestern auf der Wiese auf Herrn Renoir wartete, sah ich, wie Onkel seinen geliebten Starfire #89 in den Stall stellte. Ich fand das ziemlich befremdlich, aber als ich ihn beim Abendessen danach fragte, erklärte er mir, er habe den Wagen aus Sicherheitsgründen dort abgestellt.

Mein Kunstunterricht wird nächsten Monat fortgesetzt. Mama hat die renommierte Künstlerin Rose Manyard Barton eingeladen, den gesamten Juli hier im Palast zu verbringen. Sie hat die Einladung angenommen und sehr großzügig angeboten, Esmé und mich zu unterrichten. Aber Esmé zieht es vor, Sport zu treiben anstatt zu malen. Daher werde ich diese talentierte Dame ganz für mich haben. Ich bin entzückt.

Alice


VIER

Freitagabends hielt Reggie Hof. So jedenfalls betitelte Al das Ganze. Reggies Hof. Und die Gruppe aus Freunden und Familienmitgliedern, die sich an der Scheune versammelten, nannte er ihren Hofstaat. Aber Reggie war keine Königin. Sie war einfach eine ganz gewöhnliche junge Frau, die ihr Leben mit ihren Lieben teilte. Das wöchentliche »Hof halten« hatte ziemlich spontan an einem Freitag begonnen, nachdem Al und sie die Werkstatt eröffnet hatten. Ein paar von Reggies ehemaligen Kollegen bei Backlund & Backlund waren vorbeigekommen, um zu schauen, ob ihr blinder Sprung in die Autorestauration das Opfer ihrer Zukunft als gutbezahlte Wirtschaftsprüferin wert war.

Sie hatten ihre Zweifel, aber Reggie hatte das Gefühl, dass die Restauration des Challengers sie überzeugen würde. Dann fingen ihre Freunde an, regelmäßig vorbeizukommen, um die Verwandlung des Autos im Auge zu behalten. Vielleicht wollten sie auch Reggie im Auge behalten. Würde sie es schaffen?

Rafe installierte Lautsprecher unter dem Vordach der Scheune. Freitags gegen fünf drehte Reggie die Musik auf – eine Mischung aus Country und Soul – und bestellte ein Dutzend Pizzas.

Ein halbes Jahr später war es nicht mehr nur ihre Audienz. Auch Als Freunde und Familie kamen vorbei. Wallys Enkelkinder. In letzter Zeit hatten sich auch andere Autoverrückte und Freunde von Freunden unter die Freitagabendmeute gemischt.

Heute trat Reggie mit einer kalten Flasche Rootbeer aus der Scheune heraus. Sie hatte die Pizzas bestellt und freute sich auf einen Abend mit viel Musik und Gelächter.

Und darauf, die Erfolgsgeschichte des Challengers zu erzählen, vielleicht gespickt mit dem einen oder anderen »Das habe ich dir doch gleich gesagt«. Vielleicht konnte sie Al dazu bringen, den Höflingen ein paar dezente Hinweise auf den Duesenberg zu geben.

Reggie setzte sich auf die Kante des Picknicktischs und grinste Carrie an. Ihre Freundin »seit ewig« versuchte, Rafe einen Line Dance beizubringen. Er bewegte sich mit der Eleganz eines Holzfällers nach einem langen Arbeitstag. Wenn er nach rechts gehen sollte, ging er nach links. Er war ein Soldat, kein Tänzer.

»Gib’s auf, Carrie!«, rief Reggie.

»Niemals!«, erwiderte diese und führte Rafe energisch, indem sie ihn um die Taille fasste.

Er lachte und sah zu der zierlichen, dunkelhaarigen Carrie hinunter. Aha, aha, schau an, schau an. Da entwickelte sich wohl etwas mehr als nur Freundschaft zwischen den beiden.

Gut für dich, Carrie-Bärchen. Das ist gut. Rafe ist einer von den guten Jungs.

Reggie sah zu Al hinüber, der mit einem Arm voll Klappstühle aus der Werkstatt kam. Wally folgte ihm mit einem Weidenkorb voller Chips und, hoffentlich, seinem berühmten Zwiebel-Meerrettich-Dip.

»Ein toller Abend für eine Audienz, Reg«, sagte Al und lehnte die Stühle an einen Baum.

»Fang nicht wieder mit dem Hof-Gerede an, Al.«

»Warum nicht? Ich finde das sehr passend.«

»Du bringst noch alle anderen dazu, auch so zu reden.«

Aber es war wirklich ein toller Abend, um Hof zu halten. Wenn das einfach nur bedeutete, Zeit mit den Leuten zu verbringen, die sie liebte. Es war der erste Herbstabend, und die Tagundnachtgleiche hatte Florida eine frische Brise beschert.

»Hey.« Mark setzte sich auf den Tisch neben ihr, dessen Bretter ächzten. Der Duft seines Aftershaves füllte die Luft zwischen ihnen.

 

»Alle Mann an Deck! Morgen gehen wir segeln.«

»Segeln? Mark, ich werde schon seekrank, wenn die Badewanne zu voll ist.« Reggie rückte von ihm weg. Weil er zu nah bei ihr saß. Weil sie nicht wollte, dass er zu vertraut tat. Sie hatte ihn letztens in die Schranken ihrer Freundschaft gewiesen, aber sein »Ich gehe auch nicht weg« hatte bei ihr alle Alarmglocken schrillen lassen.

»Du hast es mit dem Segeln doch noch nie richtig versucht, Reg.«

»Wie bitte? Ich bin zweimal Hochseeangeln gewesen.« Was hatte sie sich nur dabei gedacht, als sie das Desaster wiederholt hatte? Sie hatte schon beim ersten Mal die ganze Zeit über der Reling gehangen und sich übergeben. Sechs Stunden lang hatte sie versucht, den Geruch des Köders nicht einzuatmen – aufgeschnittener Tintenfisch. »Und die Weihnachtsfeier von Backlunds war dreimal auf einer Yacht. Jedes Mal habe ich den Abend damit verbracht, in inniger Umarmung mit der Toilette zu tanzen. Sag nicht, ich hätte es nicht versucht.«

»Aber doch nicht so, mit dem Wind in den Segeln und …«

»Mark, ich werde auf keinen Fall ein Wasserfahrzeug betreten, nur um den ganzen Tag die Fische zu füttern und ohne irgendwo ein Fitzelchen Land zu sehen.« Also ehrlich, kannte er sie gar nicht? Sah er sie denn nicht? »Morgen schlafe ich erst einmal schön aus, dann esse ich Pfannkuchen zum Frühstück«, das war eine spontane Idee, die ihr sehr gefiel, »und dann mache ich mich an die Bücher.«

Als Buchhalterin und Wirtschaftsprüferin war es selbstverständlich, dass Reggie den Papierkram übernahm, als Al und sie ihre Firma eröffneten.

»Nur Arbeit und kein Spiel wird irgendwann auch Reggie zu viel.« Seine Stimme hob und senkte sich in einem albernen Singsang. Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Jetzt komm schon, lebe mal ein bisschen. Devin Swain und seine Freundin haben uns nach St. George eingeladen. Du erinnerst dich an die beiden, sie waren bei dem Fischessen. Kate mochte dich wirklich.«

»Was genau hat ›ein bisschen leben‹ damit zu tun, sich krank und elend zu fühlen und den Tod herbeizusehnen?« Reggie schnippte neben seinem Ohr mit den Fingern, beugte sich ein bisschen vor und flüsterte: »Ich werde nicht segeln gehen.«

»Auch gut. Psst, Reg.« Mark bewegte sich vom Tisch weg. »Dann lass uns doch sagen, ich bin zum Abendessen wieder zurück. Ich hole uns was vom Chinesen und komme um … acht Uhr? … bei dir vorbei.« Er fixierte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

Aber was sie in seinem Ausdruck sah, war nicht der erfolgreiche, gepflegte Geschäftsmann, sondern ein schmächtiger kleiner Junge, der sich nach Aufmerksamkeit sehnte.

»Mark, ich, äh …« Ihr Mitleid mit ihm war nichts Heiliges. Ihr falsches Mitgefühl trug nur dazu bei, romantische Hoffnungen zu nähren. Sie musste ihm klarmachen, dass sie nur Freunde waren, und die räumlichen Grenzen wahren, um ihn davon abzuhalten, ihr ihren ersten Kuss zu stehlen. Den Kuss, den sie sich für ihren ganz persönlichen Traumprinzen aufsparte.

Mark brauchte echte, wahrhaftige Worte. Ein klares, ausdrückliches Bekenntnis aus der Tiefe ihres Herzens zu ihrer Freundschaft. Wenn sie versuchte, seine Gefühle zu schonen, würde sie ihn am Ende nur umso mehr verletzen.

»Um acht also?« Er ging langsam rückwärts und zeigte auf sie. »Dahinten sehe ich Bob Boynton, und mit dem habe ich schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr geredet.«

»Um acht, ja.« Sie lächelte. Morgen würde sie ausschlafen, die Bücher durchgehen und dann beten. Sie würde Gott bitten, dass er ihr die richtigen Worte schenkte, die im Stande waren, Mark von der Wahrheit zu überzeugen.

Rafe machte die Außenbeleuchtung an, und Reggie drehte ihre Runden zwischen den »Höflingen«. Sie hörte sich um, wie ihre Arbeitswoche gelaufen war, und erkundigte sich, ob jemand spannende Pläne für das Wochenende hatte. Einer der neueren Höflinge, ein Rechtsberater, belagerte Wally, mit dem er sich lang und breit über einen uralten Mercedes unterhielt, den er online gefunden hatte.

Jubelrufe wurden laut, und Flaschen und Dosen wurden zum Gruß erhoben, als das Auto des Pizzalieferanten in die Auffahrt einbog. Reggie nahm sich ein frisches Rootbeer aus der Kühlbox und lehnte sich an die Scheunenwand. Sie beobachtete das Durcheinander bei der Pizza, lauschte den Unterhaltungen und freute sich über das aufbrandende Gelächter.

»Glücklich?« Carrie gesellte sich zu ihr an die Wand.

Reggie dachte einen Moment lang nach, dann nickte sie. »Ja, sehr.«

»Ich bin stolz auf dich, Reg. Ich bin stolz, dass du den Sprung in das Restaurationsgeschäft gewagt hast.« Carrie war das Gegenteil von Reggie. Sie hatte sich vom Mitglied einer Studentinnenverbindung an der Florida State University in eine Lobbyistin verwandelt, die immer nahe am Politikgeschäft dran war. Sie verbrachte ganze Tage in Spas und Schönheitsfarmen, flog im Frühjahr und im Herbst nach New York zum Shopping und machte Yoga-Urlaube. »Du hast uns alle zu Visionären gemacht, indem du deine Arbeit aufgegeben hast und deinem Herzen gefolgt bist, Regina Beswick.«

»Wie, hattest du etwa gewagt, an mir zu zweifeln?«

Carrie lachte. »Albern, ich weiß, aber selbst die Stärksten kommen manchmal ins Straucheln.«

Reggie warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Rafe und du, ihr versteht euch besser als nur gut, wie ich sehe.« Rafe passte eigentlich nicht zu dem Geschmack, den Carrie bei Männern sonst an den Tag legte. Sie ging mit Rechtsberatern aus. Mit anderen Lobbyisten. Geldbeschaffern. Mit Männern, die Maßanzüge trugen und regelmäßige Maniküretermine hatten.

Ihr letzter Freund? Ein narzisstischer Zombie. Wirklich wahr.

»Rafe und ich? Neiheihein …« Aber selbst die Abenddämmerung konnte die Röte nicht verbergen, die Carries Wangen küsste. »Er wollte lernen, wie ein Line Dance geht. Das ist alles. Er ist nicht mein Typ.«

»Und was für ein Typ soll deiner sein? Menschlich?«

»Ha, ha, sehr witzig.« Carrie lehnte sich etwas bequemer an die Wand und stützte sich mit einem Fuß daran ab. »Ich habe doch schon zugegeben, dass du mit dem Zombie-Mann Recht hattest.«

»Mit Rafe habe ich auch Recht. Gib ihm eine Chance.«

»Du gehst davon aus, dass er überhaupt eine Chance haben will.«

»Willst du mir etwa erzählen, er wolle keine?«

Carrie errötete noch mehr. Ihr Lächeln sah dadurch noch entzückender aus. »Wir sind für morgen zum Abendessen und einem Film verabredet.« Sie stieß sich von der Wand ab und zeigte mit dem Finger auf Reggie. »Sag nichts, kein Wort!« Carrie ließ sich wieder gegen die Wand sinken und brüllte über den Hof, Rafe solle Reggie und ihr Pizza bringen.

»Erinnerst du dich, wie Mama und ich früher manchmal auf der hinteren Veranda saßen und uns die Sterne ansahen?«, fragte Reggie. »Sie fragte mich, was ich werden wolle, wenn ich groß sei. Sie sagte mir, ich solle große Träume träumen.«

»Ich frage mich, ob sie gerade vom Himmel herunterschaut und die goldenen Knöpfe ihres Engelkleides fast platzen, weil sie so stolz auf dich ist.« Carrie sah sie an. »Meinst du, es gibt diese Art Stolz im Himmel?«

Reggie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, aber irgendwie kann ich mir vorstellen, dass Gott zu allen, die im Himmel sind, sagt: ›Leute, schaut mal, was meine Kinder machen. Sind die nicht einfach toll?‹ Aber das hier«, sie klopfte gegen die Scheunenwand, »ist ziemlich weit von allem entfernt, was ich mir damals vorgestellt habe.«

»Auf jeden Fall.« Carrie lachte. »Du wolltest doch immer Prinzessin werden.«

»Daran war nur Uroma Alice schuld.«

Uroma hatte mit Reggie und Carrie immer Prinzessin gespielt, sie bastelte Kronen aus Tonpapier und dekorierte sie mit Glitzer.

»Ich habe immer noch eine der Kronen, die ich einmal mit ihr gebastelt habe«, sagte Carrie.

»Selbst mit 97, als sie kaum noch sehen konnte, hatte sie Spaß daran, Verkleiden zu spielen.« Reggie hakte sich bei Carrie ein. Außer Daddy und ihrer Stiefmama Sadie war Carrie ihre einzige Verbindung zu diesen Kindheitserinnerungen. Sie war die Einzige, mit der sie in den Geschichten über Uroma und Mama schwelgen konnte.

Rafe tauchte mit zwei Papptellern Pizza auf. Er flirtete mit Carrie, die … kicherte. Eine Kicherliese im reifen Alter von 29 Jahren? Da war definitiv etwas im Busch.