Prinzessin wider Willen

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Ich glaube doch, dass er Papa und Großvater in letzter Zeit sehr vermisst. Nach seiner Reise nach Russland und ins Deutsche Reich, wo er seine Vettern Nikolas und Wilhelm besucht hat, scheint er mir sehr in Sorge zu sein. Seit seiner Rückkehr spüre ich, wie schwer sein Herz ist. Er geht gesenkten Hauptes durch die Halle und verschränkt dabei die Arme hinter dem Rücken. Er war immer so fröhlich, voller Freude, und hat Esmé und mich besucht, um seinen geliebten Ragtime auf der Victrola zu hören.

Er hat einen neuen Schreiber engagiert, Otto Pritchard, einen jungen Studenten. Ich glaube, nicht lesen und schreiben zu können bekümmert Onkel sogar noch mehr als Rosamonds Zurückweisung. Wenngleich er weder über das eine noch über das andere jemals spricht.

Heute Morgen ist er nach Brighton gesegelt, um Cousin Nathaniel zu treffen, danach reist er weiter, um Cousin George zu besuchen.

Mama hat mir beim Tee zugeflüstert, dass Lord Chamberlain glaubt, ein Krieg sei im Anzug. Sie steht stets früh auf und nimmt eine Kutsche zur St. John’s Chapel. An den Nachmittagen sitzt sie vor der Teestunde mit der Bibel im Schoß am Feuer im Salon. Sie wiegt sich hin und her, und ihre Lippen bewegen sich im stillen Gebet. Onkel ist der Überzeugung, der Glaube sei etwas für die Schwachen. Mama sagt, der Glaube sei etwas für die Starken, denn es brauche ein kühnes Herz, um zu glauben, was man doch nicht sehen kann. Die Augen unseres Herzens erzählen unserem Verstand, was der Geist redet.

Was mich angeht, so bedrückt mich die Last, die Onkel und Mama tragen, wohl, und doch setze ich meine Studien auf der Scarborough fort. Onkel besteht darauf, dass Esmé und ich unsere Schulbildung bekommen, um »mit den Jungens mithalten zu können«, wie er so schön sagt. Mama hält ihn für zu fortschrittlich, aber mir gefällt die Gelehrsamkeit doch ziemlich, und in Mathematik bin ich erfreulich gut.

Ich beende diesen Tagebucheintrag nun besser. Der Duft von Bertas frischem Kuchen erreicht mein Zimmer, und ich habe plötzlich großen Hunger. Immerhin ist es Zeit für den Tee.

Danach muss ich lernen. Französisch bereitet mir solche Scherereien!

Alice


ZWEI

Tanner Burkhardt genoss es sehr, wenn sich im September die grauweißen Wolken mit ihrem sanften Nieselregen über Strauberg, Hessenbergs Hauptstadt, niederließen. Und dieser regnerische Mittwoch war keine Ausnahme.

Mit einem kleinen Kästchen unter dem Arm ging er von seinem Auto zum Seiteneingang von Wettin Manor, dem ehemaligen Stadtsitz derer, die einst Hessenbergs Königsfamilie gewesen waren. Nun war es das Hauptgebäude des Parlaments.

Die Kühle der feuchten Luft erinnerte ihn an seine Kindheit. Sie erinnerte ihn daran, wie er durch die Tür des Pfarrhauses gestürmt war, mitten hinein in den Geruch von Mamas Keksen im Backofen.

Aber diese Zeit war lange vorbei, und er erlaubte sich nur gelegentlich, wenn der Herbst seine ersten Anläufe startete, eine kleine Reise in die Vergangenheit. Sonst vermied er es zurückzublicken. Die Tage und Jahre waren zu schmerzhaft gewesen, regelrecht übersät mit den Überbleibseln seiner Torheiten.

Tanner betrat das Herrenhaus. Seine Sohlen klackerten laut auf dem glitzernden Marmorboden, als er die Treppen zu seinem Büro im dritten Stock hinaufging. Während er unter den Spitzbögen durch die altehrwürdigen Flure eilte, schüttelte er den Regen von seinem Mantel und streifte sich die Tropfen aus seinem langen Haar.

Einmal mehr überlegte er, dass sein Vater wohl Recht haben mochte – sosehr ihn die Erkenntnis auch schmerzte. Die richtige Zeit, lange Locken zu tragen, war wohl an dem Tag vorbei gewesen, als er sein letztes Rugbyspiel bestritten hatte.

Aber der Look hatte ihm als jungem Rechtsanwalt gut zu Gesicht gestanden, und so war Tanners Stil zu einem Symbol für seinen Erfolg geworden, anstatt ihn an sein Versagen zu erinnern.

Langes Haar war der einzige Luxus, den er sich nach dem Vorfall mit Trude erlauben konnte. Nachdem er das Seminar verlassen hatte.

Und jetzt hatte er es als Hessenbergs Kulturminister geschafft, sämtliche Misserfolge hinter sich zu lassen. Oder etwa nicht?

Sein Blick fiel auf sein Spiegelbild im Glas eines Bilderrahmens.

Vielleicht würde er ja eines Tages tatsächlich seine Haare abschneiden. Aber heute nicht und auch nicht morgen. Sein Haar erinnerte ihn daran, fleißig und konzentriert zu arbeiten und dabei die dunklen Seiten seiner Persönlichkeit nicht außer Acht zu lassen.

Aber zurück zu den Pflichten, die jenseits seiner Person auf ihn warteten …

Sein Morgen im Museum war gut verlaufen. Er war äußerst zufrieden damit, wie der Kurator des Angelsächsischen Museums die Porträts der Mitglieder des Königshauses von Augustin-Sachsen angeordnet hatte. Als neu ernannter Kulturminister verlieh Tanner der Ausstellung das Siegel seiner Zustimmung. Mit einer Ausnahme: dem Renoir von Prinzessin Alice.

Tanner verlangte, dass ihr Gemälde in Meadowbluff Palace aufgehängt werden sollte. Immerhin war der Palast das letzte Zuhause der Prinzessin gewesen, bevor ihr Onkel, der Großherzog, Hessenberg zu Beginn des Ersten Weltkriegs an Brighton abgetreten hatte, ohne dass auch nur ein Schuss gefallen war. Anschließend waren er und sämtliche Familienmitglieder in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Land geflohen.

Es fühlte sich richtig an, die Prinzessin, die letzte Thronerbin, wieder in ihren Palast zurückzubringen.

Und nun, da das Ende des Abkommens mit Brighton bevorstand, würde die Suche nach Prinzessin Alice‘ Erbin oder Erben hoffentlich bald eine reale Person auftun, die das Haus Augustin-Sachsen wieder vom heiligen Grund des Palastes aus regieren würde.

Als er um die letzte Ecke vor seinem Büro bog, begegnete Tanner im Korridor seinem Assistenten Louis.

»Da sind Sie ja.« Louis fiel neben Tanner in den Gleichschritt. Wie immer hielt er seinen kleinen Tablet-Computer in der Hand. »Ich habe versucht, Sie anzurufen.«

»Ich habe mein Telefon im Auto gelassen, während ich im Museum war.« Auf dem Weg ins Büro griff sich Tanner in die Jackentasche, um ein Kästchen herauszuholen, das er auf den Tisch stellte, bevor er aus dem Mantel schlüpfte und diesen samt seiner Anzugjacke an die Garderobe hängte. »Was ist so wichtig?«

Tanner hob den Deckel des Kästchens und nahm die Hälfte eines zerrissenen Fotos heraus. Prinzessin Alice, jung, lächelnd, umgeben von einer Aura klassischer Schönheit. Ihr linker Arm – oder das, was Tanner davon erkennen konnte – war mit einem anderen Arm verschränkt. Anhand des Ärmels vermutete er, dass der Partner der Prinzessin ein junger Mann gewesen sein könnte.

Er drehte das Bild um. Die Schrift war verblasst und ebenfalls entzweigerissen.

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»Hören Sie mir zu?« Louis beugte sich über den Tisch. »Was haben Sie denn da?«

»Nichts. Ein Kästchen, das ich einer der Palastwohnungen gefunden habe.«

»Ein ziemlich unscheinbares Kästchen, finden Sie nicht auch?« Louis versuchte, einen besseren Blick auf das glatte braune Holz zu erhaschen.

»Ja, ziemlich unscheinbar.« Irgendwie einsam, um ehrlich zu sein. Tanner tat das alte Kästchen leid, das im Palast zurückgelassen worden war. Bevor er es aufgemacht hatte, hatte er gedacht, es gehöre jemandem vom Reinigungspersonal.

Dann wusste er Bescheid. Es hatte der Prinzessin gehört.

»Sind Sie so weit, Ihre Termine durchzugehen?«, fragte Louis und hielt Tanner sein iPad hin, sodass der den Kalender sehen konnte.

»Beginnen Sie.« Mit einem Auge auf Louis und dem anderen auf seinem Computerbildschirm, lauschte Tanner seinem Tagesplan – vorgetragen von Louis Batten.

Treffen mit dem Kulturbüro der Universität.

Besprechung der Sponsoren und Lieferanten des Kunstfestivals.

Beauftragung des Redenschreibers für seine Ansprache im Zentrum zur Bewahrung Europäischer Kunst.

Während Tanner zuhörte, störte ihn innerlich etwas auf, etwas, das sein Empfinden für Harmonie und Ausgeglichenheit beträchtlich störte. Aber was? Bislang schien alles in Ordnung zu sein.

Vielleicht lag es an dem Kästchen. Vielleicht war es der Tunnelblick der letzten Monate auf die ehemalige königliche Familie Hessenbergs.

Vor sechs Monaten hatte der frisch gekrönte König, Seine Majestät König Nathaniel II. von Brighton, Tanner zum Kulturminister ernannt. Als vordringliches Ziel dabei galt es, das Großherzogtum Hessenberg darauf vorzubereiten, wieder eine unabhängige, souveräne Nation zu werden, wenn das hundertjährige Abkommen über das Erblehen zwischen Brighton und Hessenberg auslief.

Der König war wild entschlossen, eine Lösung zu finden, um die glasklaren, eisenharten Klauseln zu erfüllen. Ein Erbe oder eine Erbin für Hessenbergs augustinisch-sächsischen Thron musste her, um die Insel in die Unabhängigkeit zu führen.

Wenn nicht, würde das Großherzogtum Hessenberg dauerhaft zu einer Provinz Brightons werden und endgültig die Aussicht verlieren, eine eigenständige Nation zu werden.

Allein der Gedanke daran ließ Tanners Herz rasen – er sehnte sich danach, dass sein Heimatland ein eigenständiges Land würde. Er wollte, dass es sein geliebtes Hessenberg für weitere tausend Jahre gab. Ein Saphir in der Nordsee.

 

»… und ich habe das Treffen mit den jungen Künstlern auf nächste Woche verschoben.« Damit setzte sich Louis auf die Tischkante und lächelte. Er war zufrieden mit sich. »Auf geht’s, wie mein alter Onkel sagen würde. Der Tag kann weitergehen.«

»Auf geht’s, ja.«

»Was hat der Kurator denn nun mit dem Renoir gemacht?« Der Assistent war ebenso in das Porträt der letzten Prinzessin von Hessenberg verliebt wie Tanner.

Die Prinzessin, die gerade sechzehn gewesen war, als das Bild gemalt wurde, posierte darauf auf einer Frühlingswiese. Sie trug ein weißes Sommerkleid. Strähnen ihres leuchtend roten Haares flatterten wie kleine Federn über ihre Wangen, und ihre blauen Augen waren begierig und unschuldig, so voller Hoffnung. Höchstwahrscheinlich hatte sie keine Ahnung gehabt, dass ein Krieg vor der Tür stand oder dass ihr Onkel, Prinz Franz, schlecht bis gar nicht auf Kampfhandlungen vorbereitet war.

Tanner mochte das Gemälde, weil es einen verborgenen Fleck in seinem Herzen berührte. Das Bild ließ ihn … etwas fühlen.

»Ich habe es in den Palast geschickt. Wo es auch hingehört.«

Louis pfiff leise. »Ich könnte wetten, dass der Kurator nicht gerade begeistert davon war. Das einzige helle und schöne Bild eines Mitglieds des Königshauses wird weggeschickt, und ihm bleiben nur die dunklen, ernsten alten Herzöge und Herzoginnen, deren Mienen ungefähr so fröhlich sind, als müssten sie auf Nagelbrettern sitzen oder bittere Kelche leeren.«

Tanner lachte. »Ungefähr das hat er auch gesagt, aber das Porträt der Prinzessin ist nicht groß genug für eine Museumswand. Die anderen sind zweieinhalb, drei Meter hoch. Ihres ist vielleicht halb so groß. Sie gehört in den Palast. Vielleicht in die Suite, die wir für die erwartete Prinzessin vorbereitet haben.«

Tanner lehnte sich zurück und fing an, seine Hemdsärmel hochzukrempeln. Vor seinem inneren Auge sah er immer noch das Gemälde von Alice, das sich fest in seinem Gedächtnis verankert hatte.

Er fühlte sich, als müsse er sie beschützen. Als müsse er Hessenberg beschützen. Aber als er das letzte Mal etwas beschützen sollte, hatte er erbärmlich versagt, als es am meisten darauf angekommen war. Nun, wo er die Chance hatte, etwas für sein Land und vielleicht sogar für das Gedenken der Prinzessin Alice und ihrer in alle Winde verstreuten Familie zu tun, würde er sie ergreifen. Und zwar von ganzem Herzen.

»Wo wir gerade von dem Palast sprechen«, Louis tippte auf den Bildschirm seines Tablets, »Jarvis, der Hausverwalter, den Sie angestellt haben, hat seine Empfehlungen für das restliche Hauspersonal ausgesprochen. Soll ich die Bewerbungsgespräche in die Wege leiten?«

»Lassen Sie uns abwarten. Wir haben ja noch keine Ahnung, an welchem Punkt genau wir auf der Suche nach dem Erben oder der Erbin von Prinzessin Alice gerade stehen.« Der König hatte ihn auf dem Laufenden gehalten, seitdem er die Ermittlungen in Gang gesetzt hatte, aber alles, was sie bislang wussten, war, dass der Erbe oder die Erbin wohl in den Staaten zu suchen war. Alle anderen Spuren und Hinweise hatten in Sackgassen geendet.

»Gut. Ich werde ihn informieren, aber er würde gerne weitermachen. Gibt es sonst noch etwas?« Tanner musterte Louis. Er war gerade erst mit der Uni fertig und ein Musterbeispiel für die nächste Generation. Er sah gut aus und war hip. Ein netter Kerl. Tanner hatte sein Gesicht sogar für seine erste Kulturkampagne genutzt und das ganze Herzogtum mit seinem Foto tapeziert.

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»Louis«, sagte Tanner, »was sagen eigentlich Ihre Freunde dazu, dass Hessenberg wieder eine eigenständige Nation werden soll – mit einer eigenen Regierung und einer eigenen Stimme, egal, wie klein die zwischen den anderen Nationen auch sein mag?«

»Ich glaube, solange wir im Pub für unser Geld Bier bekommen, macht es für die meisten wohl keinen besonders großen Unterschied, ob wir von Brighton regiert werden oder selbstständig sind. Wir kennen es ja nicht anders.«

»Und was, wenn die Unabhängigkeit bedeutet, dass Sie mehr für Ihr Geld bekommen?« Tanner wies mit einer Geste auf Louis‘ Anzug. »Mehr Bier, mehr Urlaub, mehr Maßanzüge?«

Louis Sinn für Mode sorgte mindestens einmal die Woche für freundlichen Spott im Büro. Marissa, Tanners Sekretärin, fasste es als persönliche Beleidigung auf, dass Louis mehr Schuhe besaß als sie.

»Bitte höflichst um Verzeihung.« Louis gab sich Mühe, streng dreinzuschauen, und glättete seine Krawatte. »Aber in dem Fall sage ich: Lang lebe ein unabhängiges Hessenberg!«

»Es ist so unglaublich bewegend, wie sehr Ihnen die politische und wirtschaftliche Zukunft unseres Landes am Herzen liegt, Louis. Vielen Dank.« Tanner ging zu einem Teewagen am anderen Ende des Eckbüros. Hinter den Bogenfenstern hatte sich der Nieselregen zu einem richtigen Guss gemausert.

»Warum hatten Sie mich angerufen?« Tanner hob den Deckel der Teekanne hoch und schnupperte. Stark und bitter, genau, wie er ihn mochte. Aber der Tee war kalt, und ihm war auch nicht danach. Er stellte die Kanne zurück auf den Wagen. In der Mittagspause würde er sich eine heiße Tasse holen. »Sie sagten im Flur, Sie hätten mich angerufen.«

»Ja, richtig.« Louis erhob sich und klemmte sich sein Tablet unter den Arm. »Der König und sein Assistent sind gemeinsam mit dem Premierminister von Brighton auf dem Weg hierher.«

»Hierher?« Panik bohrte sich in Tanners Brust. »Und da haben Sie diese Information bis jetzt für sich behalten, Louis?« Tanner drehte eine kleine Runde, krempelte die Ärmel wieder runter und besah prüfend das Zimmer. Warum hatten die Modegötter nur vorgegeben, dass die Knopflöcher kleiner sein sollten als die passenden Knöpfe?

Die Wände seines Büros … Er hatte sie noch nicht mit moderner oder klassischer Kunst oder irgendwelchen anderen geschmackvollen Accessoires dekoriert. Nein, bisher hatte er nur seine Rugbypokale und ein gerahmtes Poster von Hessenberg Union mit den Autogrammen der kompletten Mannschaft von zu Hause mitgebracht. Obendrein tummelten sich Wollmäuse auf dem dicken blauen Teppich, und die Bretter der Walnussregale würden wohl kaum einer Staubinspektion standhalten. Nicht zuletzt befanden sich die Reste des gestrigen Abendessens noch immer in seinem Papierkorb.

Tanner ging um den Kreis aus Lederstühlen herum, der die Mitte des Raumes dominierte, kickte den Rucksack mit seinen Sportsachen in den kleinen Toilettenraum nebenan und schloss die Tür.

»Jonathan sagte nur, sie seien unterwegs. Er rief an, als sie gerade ins Flugzeug stiegen.«

»Dann wird er gleich hier sein.« Der Flug von Brighton nach Hessenberg dauerte weniger als eine halbe Stunde. »Weiß der Gouverneur, dass der König kommt?« Gouverneur Fitzsimmons‘ Büro und die seiner Angestellten nahmen die gesamte erste Etage von Wettin Manor ein. Er würde wissen wollen, dass der König unterwegs war.

»Ja, und ich habe auch den Sicherheitsdienst in Bereitschaft versetzt.«

»Sind Sie sicher, dass er mich besuchen will und nicht den Gouverneur?«

»Jonathan hat ausdrücklich von Ihnen gesprochen.«

»Bestellen Sie die Putzkolonne hierher«, sagte Tanner und machte sich daran, auf seinem Schreibtisch Ordnung zu schaffen. Er stapelte seine Notizen und Unterlagen und verstaute sie in der untersten Schublade. »Und lassen Sie eine frische Kanne Tee herbringen. Sagen Sie Marissa, sie soll frisches Gebäck von Loudermilks Bäckerei bringen lassen. Richten Sie ihr aus, sie soll ihnen sagen, dass es für Seine Majestät ist. Ich glaube, Krapfen mag er am liebsten.«

Louis hatte das Telefon schon am Ohr. »Ja, das stimmt. Ich habe den gleichen Artikel in der Liberty Press gelesen. Manfred, hier ist Louis. Wir brauchen Reinigungskräfte hier oben.« Er war auf dem Weg nach draußen. »Ja, das ist mir klar, aber der König kommt ins Büro des Kulturministers.«

Tanner zog seine Anzugjacke an. Zum hundertsten Mal in der letzten Minute fragte er sich, was der König wohl von ihm wollte.

Louis erschien wieder auf der Bildfläche. Er war immer noch am Telefon und hielt Tanner einen dünnen Leinenumschlag hin. »Das ist gekommen, als Sie unterwegs waren«, sagte er, während er mit einem Ohr dem zuhörte, was Manfred am anderen Ende zu sagen hatte. »Hören Sie, wollen Sie, dass der König einen schmutzigen Teppich in Tanners Büro vorfindet? Was glauben Sie, auf wen das zurückfallen wird?« Louis Stimme wurde leiser, als er hinausging. »Dann bis in zwei Minuten. Vielen Dank.«

Tanner betrachtete den Umschlag und runzelte die Stirn. Sein Name war in einer extravaganten Schreibmaschinenschrift aufgedruckt. Aber von wem kam er? Er drehte ihn um und las die Absenderadresse, während er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen ließ.

Estes Estate

2, Horsely Hill Road,

Strauberg, Hessenberg 93-E15

Der Name, die Adresse weckten all das Gestern, das er mit aller Kraft versucht hatte, wegzuschieben und zu vergessen. Weckten die Erinnerung an sein Versagen.

Seine Kehle wurde eng, und sein Puls raste. Mit steifer, eiskalter Hand strich er sein Haar glatt. Warum in aller Welt sollte Barbara »Babs« Estes ihm einen Brief schreiben? Noch dazu eine Einladung? Seit der verhängnisvollen Nacht vor acht Jahren war er nicht mehr in ihrer Villa auf dem Hügel gewesen. Aber er brauchte nicht einmal seinen investigativen Rechtsanwaltsverstand zu bemühen, um zu erraten, was wohl der Inhalt des Briefes sein könnte. Einige Details und Erinnerungen weigerten sich einfach, in den Tiefen des Vergessens zu verschwinden.

Die Zwillinge würden in wenigen Wochen zehn Jahre alt werden. Am fünften Oktober, um genau zu sein.

Tanner griff nach dem Brieföffner und debattierte noch mit sich selbst, was wohl besser wäre – hineinzuschauen oder das verflixte Ding einfach in den Papierkorb zu werfen.

Er hatte es geschafft. Er war wieder auf die Füße gekommen. Hatte seinen Jura-Abschluss gemacht. War Mitarbeiter des Gouverneurs geworden, bevor er dem König aufgefallen und zum Kulturminister ernannt worden war.

Dann hatte er seinen Wert bewiesen, indem er sich an einen seiner ehemaligen Professoren, den guten alten Yardley Pritchard, erinnert hatte, der eine Verbindung zu dem lange verlorenen Erben des hessenbergischen Throns haben könnte.

Und wenn sich Tanners Instinkte als richtig erwiesen, was das Wissen des Professors über den Verbleib der Erbin anging, dann wäre Hessenberg auf dem besten Weg, wieder eine unabhängige Nation zu werden.

Warum also sollte Tanner ausgerechnet heute, wo der König doch tatsächlich auf dem Weg zu seinem Büro war, eine Einladung von Trudes Mutter bekommen? War seine Vergangenheit so stark, dass sie einfach in seine Gegenwart einmarschieren konnte, wenn ihr der Sinn danach stand? Nun, er würde zusehen, dass es nicht dazu kam.

Tanner riss die mittlere Schublade auf, warf den Briefumschlag hinein und schob ihn ganz nach hinten. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Eine Technik, die er nahezu perfektioniert hatte.