Die Hochzeitskapelle

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Kapitel Vier

COLETTE

Manhattan

Ihr Tag begann auf dem Rücksitz eines Taxis, das sie zu einem Termin in einem Fotostudio in Brooklyn brachte, wo sie und ihre Kolleginnen und Kollegen des Ensembles von Morgen ist ein neuer Tag ein letztes Mal gemeinsam vor der Kamera stehen würden.

Das Ende einer Ära. Einer sehr langen, glanzvollen Ära.

Colette wand sich ihr Taschentuch um die Finger. Sie würde nicht sentimental werden oder gar weinen, aber das Ende einer Ära? Nun, was sollte denn eine gealterte Seifenoperndiva jetzt mit ihrer Zeit anfangen?

In ihrem Leben hatte es mehrere Enden gegeben, die schmerzhaftesten davon waren geschehen, bevor sie einundzwanzig Jahre alt geworden war. Während des Blitzkriegs war sie aus London weg aufs Land geschickt worden. Obwohl das schon fünfundsiebzig Jahre her war, gab es Tage – so wie heute –, an denen es ihr vorkam, als wäre es gestern gewesen.

Dann der Tod ihrer Eltern während des Krieges und wie sie mit sechzehn Großbritannien verlassen hatte, um bei ihrer Tante und ihrem Onkel in Tennessee zu leben.

Wie sie mit neunzehn aus Heart’s Bend abgehauen war. Wie sie damit ihn und den ganzen Kern ihres Wesens hinter sich gelassen hatte.

„Zoé sagt, deine Nichte sei heute die Fotografin? Ich wusste gar nicht, dass du eine Nichte hier in der Stadt hast.“

„Bitte?“ Colette wandte sich Ford zu, der seit einundfünfzig Jahren ihr Manager war. Ihr treuester Freund, neben ihrem Alter Ego Vivica Spenser, die sie seit dem Sommer 1954 in Morgen ist ein neuer Tag verkörperte.

„Deine Nichte? Sie sei heute die Fotografin?“

Ihre Nichte? „Oh ja: Taylor. Die Enkelin meiner Schwester Peg.“

„Peg.“ Colette kannte den Gesichtsausdruck, die gehobenen Augenbrauen und das gesenkte Kinn, wie er sie da so erwartungsvoll musterte. „Sag mir nicht, dass das keine verschütteten Gefühle weckt.“

„Mal ehrlich, Ford, du hättest Psychiater werden sollen und nicht Künstleragent.“

„Ich wusste gar nicht, dass es da einen Unterschied gibt.“

Colette drückte ihm sanft den Arm. „Taylor zu sehen wird keine verschütteten Gefühle wecken.“ Dank ihrer Karriere auf dem Fernsehschirm hatte sie die Kunst, sich zu verstellen, perfektioniert. Sie hätte einem Ertrinkenden ein Glas Wasser verkaufen können. „Wie sind im Grunde völlig Fremde. Ich habe sie einmal getroffen, als sie ein kleines Mädchen war, das ist über zwanzig Jahre her. Das letzte Mal, als ich in Heart’s Bend war. Als du mich dazu überredet hast, bei ihrer Weihnachtsparade den Marschall zu geben.“

Sie war außer Landes gewesen, als ihre Tante Jean im Sommer 1990 gestorben war. Als dann also das Angebot kam, bei der großen Parade Marschall zu sein, hatte Colettes Sehnsucht nach ihrem Zuhause, nach ihren Wurzeln, gewonnen. Vor der Parade hatte sie einen Nachmittag mit dem guten alten Onkel Fred im Pflegeheim verbracht, dankbar, dass er sanftmütig und altersmüde war. Dass er nie die große Frage stellte, obwohl sie sie in seinen Augen lesen konnte. „Was ist passiert, Lettie?“

„Überredet? Das war großartige Werbung. Besonders nach dem Debakel zwischen dir und Marilee Jones bei den Daytime-Emmys.“

„Sie hat vor aller Welt behauptet, ich sei eine furchtbare Schauspielerin. Eine Schwindlerin. Was hätte ich denn tun sollen?“

„Oh, eine ganze Menge, anstatt zu sagen: ‚Nimm das ,Marilee‘, als du den Preis für die beste Schauspielerin bekommen hast.“

„Na, das war doch wohl wirklich großartige Werbung.“ Colette lachte. Kabarettisten, Sitcoms, Talkshowmoderatoren hatten den Moment thematisiert, hatten eine echte Szene daraus gemacht. Eine, die Colette bei Saturday Night Live parodierte und bei Carson und Letterman verulkte.

Fords leises Glucksen brachte Colette zum Lächeln. Sie mochte den Mann so gern wie am ersten Tag. Er war ein junger, hungriger Talentsucher bei einer großen New Yorker Agentur gewesen, als er beschloss, sich selbstständig zu machen. Er hatte Colette bei einem Empfang des Bürgermeisters kennengelernt und sie ausdauernd umworben, bis sie am Ende seine erste Klientin wurde, das Gesicht seiner Agentur.

Und seine Geliebte.

Das war ein Akt, der über ihre Befindlichkeiten und moralischen Grenzen hinausging. Aber sie wollte so verzweifelt nach vorne sehen, ihre Wunden und Ängste begraben. Fühlen. Als ihre Affäre beendet war, floh sie einen Sommer lang nach Großbritannien. Warum gerade Großbritannien, mit seinen groben, schmerzhaften Erinnerungen, konnte sie nie sagen. Mal davon abgesehen, dass die Queen sie zum Tee eingeladen hatte.

Colette umklammerte ihre Handtasche, eine Diamatia-Greer-Tasche, nach ihr benannt von dem exklusiven, heißbegehrten Designer Luciano Diamatia, der in sie verliebt gewesen war. Aber sie hatte ihn nicht geliebt.

Es gab andere Männer. Spice Keating, einen alten Freund aus Heart’s Bend und Schauspielerkollegen. Und Bart Maverick, ihren Co-Star bei Morgen ist ein neuer Tag.

Alle Romanzen waren im Sande verlaufen. Weil ihr Herz einem anderen gehörte.

Also hießen ihre Gefährten Ruhm, Reichtum und Renommee. Auszeichnungen, Lob, Ehrengrade und ein Penthouse an der Park Avenue gehörten auch dazu.

Der Wagen rumpelte über Unebenheiten in der Straße.

Colette sah aus dem Fenster, während New York vorüberglitt. Ebenso vorüberglitt wie ihr Leben, wenn sie ehrlich war. Sie war in den „Wagen“ ihrer Karriere eingestiegen und hatte dabei zugesehen, wie das Leben an ihr vorbeiglitt. Sie hatte Dinge erreicht, um die sie alle Welt beneidete. Aber innerlich war sie leer. Obwohl sie sich über sechzig Jahre lang mit Narrheiten gefüllt hatte. Der Hype um die Serie. Der Wahnsinn, erst eine der schönsten, dann eine der ältesten Schauspielerinnen im Fernsehen zu sein. Eine Karriere, die über Jahrzehnte ging.

Aber seitdem die Aufzeichnungen vor einem Monat beendet worden waren, fand sie ihre Tage lang und leise. Und seitdem hatte sie angefangen, ihren eigenen Herzschlag zu hören.

So laut, dass sie Angst hatte, er könnte sie um den Verstand bringen.

„Hast du dir das mit dem Buch überlegt?“ Ford holte ihre Aufmerksamkeit wieder ins Taxi, in die Gegenwart zurück. Das Auto ruckelte einmal mehr, während der Fahrer, der immer wieder leise auf Arabisch murmelte, es durch den Verkehr manövrierte, wo orangene Hütchen die zwei breiten Fahrbahnen auf eine Spur verengten. „Die Serie ist vorbei. Du hattest jetzt einen Monat, um deine Freiheit zu genießen. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum du die Zeit nicht in deinem Haus in der Karibik verbracht hast. Egal, jedenfalls, jetzt, wo du etwas Zeit gehabt hast, kannst du doch anfangen, an dem Buch zu arbeiten. Ich habe deinem Verlag schon drei Jahre lang immer wieder ein Manuskript versprochen.“

„Ja, das Buch.“ Sie hatte einem Buchvertrag zugestimmt, aber nur, weil sie so wütend war auf Peg, die angesichts ihrer Krankheit plötzlich alles ins Reine hatte bringen wollen. Die letzten gut sechzig Jahre rückgängig machen, als wäre nichts geschehen. Colette vergab ihr und drohte ihr dann mit einer Enthüllungsgeschichte, falls sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen wollte.

Aber sie würde nie eine Autobiografie dieser Art schreiben. Nicht, solange Peg lebte. Weil das nichts wiedergutmachen, die Vergangenheit nicht verändern oder die Menschen zurückholen würde, die Colette geliebt und verloren hatte.

„Ich habe doch nicht den leisesten Schimmer, wie man ein Buch schreibt.“

Er seufzte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, als der Fahrer mit einem Mal mächtig Gas gab und über eine gelbe Ampel rauschte. „Du hast eine Ghostwriterin, Justine Longoria. Erinnerst du dich? Du erzählst, und sie übernimmt den Part mit dem Geschichtenzauber.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass überhaupt jemand etwas über mich lesen will.“

„Jeder will über dich lesen.“ Frustration spiegelte sich in Fords feinen Gesichtszügen. „Du bist eine preisgekrönte Schauspielerin, eine Weltreisende, eine Wortführerin. Du hast sechs Jahrzehnte lang in dieser Serie mitgespielt. Und trotzdem ist dein Privatleben ein einziges großes Geheimnis. Du hast viele Verehrer gehabt, aber keinen Ehemann. Keine Kinder. Seit fünfzig Jahren lebst du im selben Penthouse. Du hast ja noch nicht einmal Katzen oder Hunde.“

„Tiere sterben.“ Sie hatte genug Tode in ihrem Leben gehabt. Menschen. Träume. Liebe.

„Sie bringen aber auch Freude und Trost.“

„Und ich habe doch Kinder.“

Ford lachte leise. „Als Vivica Spenser? Das zählt nicht, Colette.“

„Sprich nicht mit mir, als wäre ich nur einen Satz vom Altersheim entfernt. Die Schauspieler, die Vivicas Kinder gespielt haben, fühlen sich sehr an wie meine eigenen. Caron Seitz und ich sprechen mindestens einmal im Monat miteinander. Und Jenn Baits‘ Kinder nennen mich Granny.“

„Süße Geschichten, aber mich belügst du nicht. Keiner kennt dich wirklich.“ Ford sagte das, während er auf seinem Handy eine Textnachricht beantwortete. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich dich so gut kenne.“

„Du kennst mich besser als jeder andere.“

„Dann sag’s mir. Wie geht es dir damit, dass die Serie aufhört? Dass diesen Monat die letzte Folge ausgestrahlt wird?“

„Ich bin …“ Colette hielt inne. Welche Worte passten zu dem Wirbel in ihrer Seele? Traurig? Verloren? Einsam? Solch erbärmliche Worte für eine Frau, die ein Leben lebte, um das andere sie beneideten.

 

Aber um ehrlich zu sein, gab es wirklich Tage, an denen Colette Greer nicht wusste, wo sie aufhörte und wo Vivica Spenser anfing. Die Frauen wurden zu ein und derselben Person. Die Wirklichkeit der einen war die Fantasievorstellung der anderen. Sie war der vermischte Schatten ihres wirklichen Selbst und ihrer Fernsehfigur.

„Darüber wirst du in meiner Autobiografie nachlesen müssen.“

Fords Gelächter füllte das Taxi. „Touché. Also wirst du das Buch machen?“ Er winkte mit seinem Telefon. „Dann buche ich Justine. Wie steht es mit Montag?“

„Schön, aber nicht zu früh. Ich habe meine Morgen gerne für mich selbst.“

„Dann mittags. Der Verlag wird sich freuen. Ich höre schon die Dollars für die Auslandsrechte klingeln. In Südamerika bist du praktisch eine Göttin.“

„Sie lieben doch nicht mich. Sie lieben Vivica Spenser.“ War es das? Die Welt liebte Vivica, nicht Colette. Bedeutete also das Ende der Serie, dass Schluss war mit der einzigen Liebe, die sie kannte?

„Natürlich lieben sie Vivica. Aber wer ist Vivica schon ohne Colette Greer?“ Fords große Hand umschloss die ihre. „Es wird therapeutisch sein, das Schreiben. Du kannst deine Dämonen verbannen.“

„Du meinst, ich habe Dämonen?“

Bei Colettes letztem Wort hielt das Taxi an einem Bordstein an, wo außer Backsteinbauten nichts weiter zu sehen war.

Ford reichte dem Fahrer seine Kreditkarte, während sie, ohne auf Hilfe zu warten, ausstieg und ihr Gesicht in die dünne, frische Morgenbrise hielt, dem Anblick und den Geräuschen New Yorks entgegen.

Der Herbst in der Stadt war zauberhaft, mit einer Art ätherischen Energie im kühlen Wind, die sie an ihre Kindheit erinnerte. Als sie über den Gehweg gehopst war, auf dem Rasen Rad geschlagen und goldene, rote und orangefarbene Blätter für eine Schatzkiste gesammelt hatte.

„Oberste Etage“, sagte Ford und zeigte auf das Gebäude, als er sich zu ihr gesellte und sein Portemonnaie verstaute.

Beim ersten Schritt geriet Colette ins Schwanken. Der Boden unter ihr schien zu beben. Das war es also. Ihre letzte Zusammenkunft mit der Besetzung.

Das Ende.

Vor ihr lag nichts außer dem blendenden Schein endloser leerer Tage.

„Ich kann nicht …“

„Wie bitte?“ Ford warf einen Blick auf sein klingelndes Telefon und steckte es dann weg. „Was kannst du nicht?“ Er nahm sie vorsichtig am Ellbogen und versuchte, sie vorwärtszubewegen.

„Ich kann da nicht hochgehen, Ford.“ Ihre Stimme versagte, und sie klang schwach, alt, als wäre sie hunderteins und nicht dynamisch und kultiviert mit ihren zweiundachtzig Jahren.

Ford beschattete seine Augen gegen die Morgensonne, die zwischen den Gebäuden hindurchfiel. „Was ist los? Sprich mit mir.“

„Es ist einfach so … vorbei.“ Colette betrachtete Ford einen Moment lang. Dann, ohne großartig durchzuatmen, rief sie Vivica Spenser herbei. Das alte Weibsbild war doppelt so stark wie sie. „Nun, wollen wir?“ Sie lächelte, hob das Kinn und schritt auf das Gebäude zu. „Bart Maverick wird kein gutes Haar an mir lassen, wenn er vor mir ankommt.“

„Colette?“

Sie warf einen Seitenblick auf Ford. „Mir geht’s gut.“

„Bist du sicher?“

„So sicher wie nur was.“ Ein berühmtes Vivica-Spenser-Zitat, das ihr sehr nützlich war.

Ford zeigte ihr den Weg in ein helles, gut beleuchtetes Studio. Musik mit einer leichten, eingängigen Melodie schuf eine heimelige Atmosphäre. Ein angenehmer Tenor sang über Glück.

Ein Teil der anderen Darsteller war bereits angekommen, einschließlich der siebenundneunzig Jahre alten Wilma Potter, die in der Serie Colettes erste Mutter gespielt hatte. Die beiden waren nie miteinander ausgekommen. Wilma hatte es zutiefst verabscheut, Colettes Mutter zu spielen, wo die beiden doch nur fünfzehn Jahre auseinander waren.

Während sie die anderen Darsteller begrüßte, die alten und die neuen, die aktuellen und die, die schon länger nicht mehr dabei waren, ging Colette in Vivicas Schuhen umher und zog den Raum in ihren Bann.

Die ganze Zeit über mied sie die schlanke Blondine, die mit einer ebenso schlanken Brünetten dabei war, die Technik aufzubauen und einzurichten. Sie würde Taylor früh genug begegnen.

Sie stimmte in den Jubel mit ein, als der legendäre Bart Maverick ankam, der den reichen und gut aussehenden Derek VanMartin spielte, Vivicas erste, wahrste Liebe und Patriarch des VanMartin-Vermögens.

„Wunderbare Colette.“ Ohne mit der Wimper zu zucken, zog Bart sie in eine Umarmung und küsste sie. Er machte daraus ein großartiges Schauspiel für alle.

Applaus brandete auf und umfloss sie, durchfloss sie und kam doch nie an. Er fand keinen Platz in ihrem Herzen. Weil sie sich nie nach Applaus gesehnt hatte. Wonach sie sich sehnte, das war die Flucht in eine andere Rolle. Danach, ein Leben zu leben, das von anderen geschrieben wurde.

Als Bart sie losließ, schlug Colette kokett nach ihm. „Du bist mir ein rechter Schmierenkomödiant. Wirst du dich denn nie ändern? Benimm dich doch einmal deinem Alter entsprechend.“

„Das ist doch mein Alter“, sagte er zwinkernd und drehte sich um, um die anderen Darsteller zu begrüßen.

Immer noch ein Charmeur, dieser Bart. Colette wurde bewusst, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Er hatte die Serie wegen einer Herzkrankheit Mitte der Neunziger verlassen, und, nun ja, es war anschließend einfach nicht mehr dasselbe gewesen. Jedenfalls für sie.

„Sind wir alle hier?“ Taylor stand vor ihnen, ganz proper in Jeans und einem taillierten Top. Sie war umwerfend. Sie kam Colettes Erinnerungen an Mama so nahe, hatte die Augen der Greers und volle Lippen.

Lästige, verräterische Tränen brannten in Colettes Augen und drohten, sie zu verraten. Sie blinzelte den Schimmer weg, behielt ihr perfektes Lächeln bei und nickte, als Taylors Blick über sie und wieder zurückglitt.

Sie war aber auch schön. Und als sie sie anlächelte, löste sich der Boden unter Colettes Füßen auf, und sie fiel durch die Zeit.

Auf dem Hocker neben dem Herd in ihrem Haus in London sieht sie zu, wie Mama das Abendessen kocht. Sie lacht, als Papas tiefer Bass das Haus erfüllt. Glückliche Weihnachtsfeste am Feuer vor dem Krieg. Wie sie nach der Kirche nach Hause rennt, die Melodie von Gottes großer Liebe in ihrem Herzen.

Gemütliche Abende, an denen sie Mama zuhört, die Gutenachtgeschichten vorliest, während sie sich mit Peg ins Bett kuschelt. In Spitzen und Bänder gekleidet zu Mimi Blantons Hochzeit. In dieser alten Kirche in Nottingham. Sommer an der Küste. Mit Peg auf dem Schiff nach Amerika, so voller Angst und dennoch voller Erwartungen.

Tante Jean und Onkel Fred, Clem und das herzliche Willkommen in ihrem Zuhause.

Jimmy. Jeder Moment mit ihm.

Wie sie Heart’s Bend am Horizont verschwinden sieht, während Spice´ alter Ford auf der Straße nach Norden dahinjagt und ihr die Tränen, die ihre Bluse durchnässen, vom Kinn tropfen.

Sie hielt das keinen Moment länger aus. Colette reckte sich innerlich, um sich aus der Erinnerung herauszuziehen, bekam aber nichts zu fassen außer leerer Luft. Verzweifelt bemühte sie sich darum, sich zu beruhigen.

„Colette, schön, dich zu sehen.“ Taylor bot ihr die Hand an, und Colette gelang die Flucht aus ihrem Tagtraum.

„Schön, gesehen zu werden.“ Das war die erste Antwort, die ihr einfiel. Was konnte sie sonst schon sagen? „Sitzen wir hier?“ Colette zeigte auf das große rote Samtsofa. In ihren Ohren klang sie distanziert und ein bisschen versnobbt. Aber das war die Stimme alter Gemäuer.

„Ja, wenn’s recht ist. Colette hier, in der Mitte.“ Taylor platzierte sie auf den Polstern.

„Natürlich“, sagte Bart. „Colette ist die Sonne, und wir sind ihre Monde.“

„Pscht, du, setz dich einfach neben mich.“ Colette klopfte auf die weiche Oberfläche, vermied es, Taylor anzusehen, mied den stürmischen Schwall der Gefühle, der sie durchströmen wollte.

„Perfekt. Bart Maverick?“, sagte Taylor und streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Taylor Branson.“ Sie lächelte und hatte den alten Bart sofort hypnotisiert.

Aber nannte sie sich denn immer noch Branson? Colette musterte Taylor. War sie denn nicht verheiratet? Mit einem Werbetypen, wenn ihr Gedächtnis sie nicht täuschte.

„Addison?“, rief Taylor, die Brünette. „Arrangiere du doch schon einmal das Ensemble, während ich das Licht teste.“

Während sie Taylor beobachtete, kämpfte Colette gegen eine heiße Welle des Bedauerns. Seit sie im Frühling ’51 in New York angekommen war, hatte sie sich nie mehr erlaubt, zurückzublicken, der Vergangenheit nachzuhängen. Weil der Schmerz drohte, ihr zum Verhängnis zu werden.

Aber für den Bruchteil einer Sekunde erschauerte sie, spürte sie einen Funken Wahrheit in sich. Ihr ganzes Leben, all ihre Leistungen waren Müll im Vergleich zu dem, was sie hätte sein können, was sie hätte sein sollen. Und nichts erinnerte sie mehr daran als die schöne Taylor Branson.


Kapitel Fünf

JIMMY

Heart’s Bend, Tennessee

17. September 2015

Also wirklich, war das nicht komisch? Zweimal in einer Woche? Welche Wendung wollte Gott seinem Leben denn nun wieder geben?

Jimmy legte den Hörer auf die Gabel und starrte aus dem Fenster über der Spüle. Seine Kapelle. Die er über sechzig Jahre lang dunkel und alleingelassen hatte. Und plötzlich kamen von überall her Leute und wollten einen Blick darauf werfen.

Nachdem die Kapelle weitab vom Schuss die River Road runter lag, hätte er nicht gedacht, dass jemand außer ihm, seinem lieben verstorbenen Dad und dem Landvermesser überhaupt davon wusste.

Aber dann hatte da so ein Bursche vom Architecture Quarterly angerufen, der einen Fotografen hinschicken wollte. Der sagte, sie wollten eine Ausgabe über klassische amerikanische Hochzeitskapellen machen. Jimmy hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie überhaupt auf den Ort gekommen waren.

Als Jimmy nachfragte, sagte der Mann, er wisse das auch nicht. Aber wenn Jimmy tatsächlich eine Hochzeitskapelle im Wald versteckt hätte, würden sie gerne in ihrem Magazin darüber berichten.

„Wir haben gehört, sie soll eine echte Schönheit sein.“

Von wem? Der Immobiliengutachter Arnold Rowland hatte keine Verbindungen zum Architecture Quarterly, da war sich Jimmy ganz sicher.

Das war auf jeden Fall eine sehr mysteriöse Sache.

Und gerade jetzt hatte auch noch ein Immobilienmakler angerufen. Keith Niven sagte, er wolle sich das Gebäude anschauen und hätte sogar einen Käufer an der Hand, falls Jimmy interessiert wäre.

„Ich bin hier draußen auf Ihrem Grundstück, und, also, Junge, Junge, Coach, was machen Sie denn mit diesem Ding?“ Keith hatte laut und durchdringend gepfiffen und Jimmy gegenüber den Eindruck hervorgerufen, er sei von dem Gebäude beeindruckt. Oder war das nur Verkäufergehabe? „Wollen Sie verkaufen?“

„Nein“, war Jimmys spontane Antwort. Aber er hielt sich damit zurück, sagte nichts. Vielleicht war es an der Zeit. Wenn nächste Woche erst einmal der Fotograf von Architecture Quarterly da war, würde er sowieso allerhand Anfragen bekommen. Da konnte er Keith ebenso gut einen Vorsprung lassen.

„Ich fahre raus. Gib mir zehn Minuten.“

„Fantastisch.“

Mit diesem Morast in seinem Kopf fischte Jimmy seine Autoschlüssel aus der Obstschüssel neben der Küchentür und trat hinaus in die Mittagssonne. Der Sommer hatte die Septembertage immer noch fest im Griff, heiß war es.

Aber so war es eben in Tennessee. Er hatte mehr als genug Herbstnachmittage von den sengenden Sonnenstrahlen rösten lassen, während er Footballtrainings leitete und Jungen zu Männern aufgebaut hatte.

Dann legte Gott irgendwann den Schalter um, senkte die Temperaturen, färbte die Bäume mit der Herrlichkeit des Himmels und machte das Leben mit dem perfekten Footballwetter umso schöner.

 

Er vermisste diese Tage. Ihm fehlte etwas, das seinem Leben Bedeutung verlieh. Aber als er vor neun Jahren vierundsiebzig geworden war, hatte er den Glockenschlag der Zeit gespürt und gewusst, dass es an der Zeit war, die Verantwortung des Footballprogramms an der Rock Mill Highschool einem jüngeren Mann zu überlassen.

Außerdem machte Tom Meyers seine Sache sehr gut. Er hatte zwar noch keinen nationalen Titel gewonnen, aber das war heute auch schwerer als zu Jimmys Zeiten.

Während er zu seinem Auto ging, sprangen seine Gedanken vom Football zur Kapelle, genauer gesagt zu Keiths Vorschlag. Er war ein junger Kerl, dieser Immobilienmakler, und, soweit Jimmy wusste, ein guter Mann. Sein Vater hatte in einer von Jimmys Championship-Mannschaften gespielt.

Jimmy ließ sich hinter dem Steuer nieder, warf den Motor an und zögerte dann mit der Hand auf dem Schaltknauf. Seine alte Kapelle … Die Erinnerungen kamen an die Oberfläche …

Mist, jetzt hatte er doch den Schlüssel zur Kapelle vergessen.

Er ließ den Wagen im Leerlauf stehen, ging zurück ins Haus, durch die Küche ins Wohnzimmer, dann nach oben. In seinem Zimmer, unter der Dachgaube, öffnete er die schmale Halbtür zum Dachboden und kletterte hoch.

Gebückt tastete er sich durchs Dunkel und holte ein kleines Kästchen aus Zedernholz hervor. Als er den Deckel hob, verstärkte der Duft des Holzes seine Erinnerungen.

„Was wirst du mit dem Gebäude machen?“ Dad war Jimmy in sein Zimmer gefolgt, er war nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

„Es abschließen.“

„Nach all deiner harten Arbeit? Jimmy, lass es nützlich sein …“

„Ich schließe es ab, wo du schon nicht zugelassen hast, dass ich es abbrenne.“ Jimmy wühlte in seiner Kommode nach irgendetwas, in dem er den Schlüssel verstauen konnte. Schließlich entdeckte er ein staubiges Holzkästchen, das er vor Urzeiten in der Sonntagsschule gebastelt hatte. Er öffnete es und ließ den Schlüssel hineinfallen.

„Du wirst dich nicht immer so fühlen wie jetzt“, sagte Dad. „Sie könnte zurückkommen.“

„Ja? Hat Mama das denn gemacht?“ Das ging unter die Gürtellinie, aber seine Wut ließ ihn heftig austeilen.

„Was habe ich dir denn immer gesagt? Sei nicht wie ich. Leb weiter. Finde ein anderes Mädchen.“ Dad ging zur Tür. Seine breiten großen Schultern beugten sich unter der Schwere der Unterhaltung. „Versprich mir nur, dass du den Schlüssel nicht wegwirfst.“

Er sprach nicht von dem Metallstück in dem Holzkästchen. Jimmy wusste das. Er warf sich aufs Bett, streckte sich lang aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und nickte. „Werde ich nicht … Ich werde den Schlüssel nicht wegwerfen.“

Er verstaute das Kästchen wieder in seinem Versteck und schüttelte den Geruch der Vergangenheit ab. Aber den Schlüssel hatte er doch weggeworfen. Den zu seinem Herzen. Während der echte, greifbare Schlüssel zur Kapelle unversehrt geblieben war, hatte sich Jimmy an die Buchstaben des Gesetzes gehalten, nicht aber an die Gnade dahinter.

Er drückte sich den Schlüssel in die Handfläche. „Es tut mir leid, Daddy.“ Noch mit dreiundachtzig Jahren vermisste er seinen Vater.

Aber der heutige Tag stellte eine neue Chance dar. Eine Möglichkeit, den Schlüssel weiterzugeben und der alten Kapelle das Leben einzuhauchen, das sie nie gehabt hatte. Für sein Herz war es zu spät, nicht aber für das der Kapelle. Nicht für die Träume, die er für die Kapelle hatte.

Doch hatte er den Mut? Das würde Jimmy nicht wissen, bis er das erste Mal nach langer Zeit die Tür öffnen und in seine Vergangenheit eintreten würde.

Mit diesem Gedanken verließ er das Haus und hegte ein Gefühl, das Ganze könnte einen gewissen Sinn haben. Vielleicht schritt das Göttliche ein und erhörte ein unausgesprochenes Gebet seines Herzens.

Er fuhr langsam die Straße hinunter. Eine Vorahnung des Herbstes hatte die Ränder der grünen Hügel berührt.

Er legte seinen Ellbogen ins offene Fenster und roch einen Hauch Holzfeuer. Veränderung lag in der Luft und weckte in ihm das Verlangen nach etwas, das er weder sehen noch fassen konnte.

Jimmy bog von der Dunbar Street in die River Road ein und fuhr drei kurze Meilen nach Norden.

Ein Neubaugebiet schien über Nacht in den sanften Hügeln emporgeschossen zu sein. Heart’s Bend wirkte in den letzten Jahren kaum noch wie früher, wo sich Nashville heutzutage immer mehr ausbreitete und sich nach Nordwesten ausdehnte, wo es über Jimmys sanftgeschwungenen Hügeln und am Cumberland River immer neue Baustellen entstehen ließ.

Er hatte so lange hier draußen gelebt, dass er das Land als etwas Persönliches empfand. Damals wollte er, dass Daddy das Land kaufte, das ihr Haus umgab. Er hatte es geschafft, eine Anzahlung für den ersten Feldweg zu leisten, als der alte Rise Forester Sr. daherkam und den ganzen Rest aufkaufte.

Jetzt verkaufte sein Sohn, der Taugenichts Rise jr. ,an jeden, der es sich leisten konnte. Den Gerüchten nach blieb ihm auch nichts anderes übrig. In nur zwei Jahrzehnten hatte er das gesamte Vermögen seiner Familie durchgebracht. Ganz zu schweigen davon, dass er ein gemeiner Fiesling war. Was er seinem Sohn Jack angetan hatte …

Jimmy rutschte in seinem Sitz herum und spielte mit der Hand am Lenkrad. In seinen fünfundvierzig Jahren als Coach hatte er Hunderte Kinder trainiert, aber Jack Forester blieb ihm klar vor Augen. Jimmy hatte die Gelegenheit bekommen, ihn zu trainieren, kurz bevor er in den Ruhestand ging. Der Junge arbeitete hart, spielte hart, lernte hart. Er tat alles, was von ihm verlangt wurde, während er die ganze Zeit von einer Pflegestelle zur nächsten durchgereicht wurde. Und sein verflixter Vater sah dabei zu und tat nichts.

Unter den überwucherten Sommerstauden kam die Straße zu der Kapelle zum Vorschein, und Jimmy lenkte den Wagen auf sein Grundstück, ein echtes Juwel inmitten des Waldes.

Es ging einen kurzen, schmalen Weg hinunter, dann brach der Wagen auf eine helle, magische Lichtung durch, und die Kapelle erhob sich und befahl die Andacht aller, die sich ihr näherten.

Jimmy atmete ein. Sie war eine Schönheit. Wie die, die ihn dazu inspiriert hatte.

Ihre Steinmauern und das verwitterte Fachwerk wirkten majestätisch. Die Kapelle schien durch die Kuppel das Licht förmlich zu trinken, das sie dann durch die Fenster wieder ausströmen ließ. Die Buchen und Schwarzpappeln streckten reichbelaubte Äste über das Schindeldach der Kapelle und schufen ein Dickicht, das Sicherheit und Frieden ausstrahlte.

Jimmy brachte das Auto auf dem dicken Teppich der Spätsommerwiese zum Stehen, stieg aus und schloss vorsichtig die Tür. „Hallo, alte Freundin“, sagte er, und in seiner Stimme lag viel Gefühl.

Eine Brise strich durch die Bäume und wand sich im Gras, als wollte sie antworten: Und ich grüße dich, alter Freund.

Seine Stiefelabsätze knirschten auf dem Schotter, als er zu dem betonierten Weg hinüberging – der letzte Schliff, den er der Kapelle vor dreißig Jahren verpasst hatte. Er war immer etwa einmal im Jahr hergekommen, um sich zu versichern, dass sie ganz und unversehrt war.

Aber dann war aus einem Jahr zwei geworden und aus zweien drei … Jetzt schätzte Jimmy, dass er etwa sechs oder sieben Jahre nicht mehr hier gewesen war. Und wenn er kam, dann nur, um mal kurz nach dem Rechten sehen. Er hatte Andrew Votava eingestellt, um das Gelände in Ordnung zu halten. Aber sonst …

Jetzt bereute er seine Abwesenheit, wo sie doch mit der Zeit noch schöner geworden war.

Er trat in den winzigen Säulengang und legte die Hand auf den sonnengewärmten grauen Stein.

Sie war ein Teil von ihm, diese Kapelle. Hier hatte er seinen Schweiß, seine Tränen und sein Herz gelassen. Und sie mit der Zeit begraben.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der er die Kapelle als ein Mahnmal seiner Trauer betrachtet hatte. Er hatte vorgehabt, sie bis auf den Grund abzubrennen, bevor Daddy eingeschritten war.

„Beende, was du begonnen hast. Schließe deinen Frieden damit, Sohn.“

Er hatte den Bau beendet, aber Frieden damit hatte er nie geschlossen. Nein, jahrelang hatte er sich an der Wut festgeklammert und die Bitterkeit gefüttert wie einen hungrigen Bären. Bis er eines Tages aufwachte, in den Spiegel schaute und entdeckte, dass er der Mann geworden war, der er niemals hatte sein wollen; dass er noch nicht einmal versucht hatte, der Mann zu werden, von dem er geträumt hatte.