Unter Extremisten

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Viel Arbeit ist im Vorfeld einer Entlassung aus der Haft nötig, und im weiteren Kontext auch viel Vorwissen: Wie etwa, dass rund zwei Drittel jener, die als Extremisten Eingang in die Karteien gefunden haben, zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahre jung sind. Und dass die allergrößte Anfälligkeit zur Radikalisierung sich nicht zufällig in den Jahren rund um die Pubertät zeigt – jene Umbruchphase, die mit Beendigung der rein körperlichen Wandlung bei weitem nicht abgeschlossen ist. Oftmals hält sie noch jahrelang an, kann auch erst sehr verspätet einsetzen. Auch der renommierte französische Psychoanalytiker, Professor an der Universität Paris-Diderot Fethi Benslama, nimmt darauf in seinen Studien Bezug, legt alarmierende Zahlen für sein Heimatland vor, die über weite Strecken eins zu eins auf Resteuropa umzulegen sind. Er spricht von Adoleszenten oder jungen Erwachsenen, die sich in der Phase eines Moratoriums befinden, in dem die Adoleszenz möglicherweise ausgedehnt und die Krise verlängert wird.

Von größter Bedeutung ist an dieser Stelle aber auch etwas anderes, das ich für alle Beispiele vorausschicken möchte, die Ihnen in diesem Buch noch begegnen werden: Natürlich sind die jungen Menschen, oftmals Heimkehrer von Kriegsschauplätzen, traumatisiert und auf eine gewisse Weise Opfer.

Doch in jedem Fall sind jene, die sich tatsächlich aufmachen, die tatsächlich den Bau einer Bombe oder was immer in Angriff nehmen, immer auch Täter, die – Jugend hin, Blendkraft her – sich niemals aus ihrer Verantwortung stehlen können. Musa steht da mit seinen 20 Jahren gewissermaßen im Zenit dieses Altershorizonts einer ausgeprägten Gefährdung in punkto Radikalisierung.

Heranwachsende müssen sich erst selbst in Grundzügen kennenlernen, ihren Platz im Leben definieren und einnehmen, getrieben von Hormonen, Emotionen, dem Drang, alles infrage zu stellen, dem flammenden Bedürfnis, Neues zu definieren, und vor allem sind sie auf der Suche nach Idealen, für die zu leben es sich lohnt. Oft genug haben junge Radikale in ihrer Kindheit, Jugend einen Mangel an Vorbildern erlebt, es fehlt ihnen an Vätern, an denen sie sich erst aufrichten und später, auf der Jagd nach einer eigenen Identität, reiben können. Ein Aspekt allemal, der bisher vielleicht im Stillen beobachtet, doch kaum beachtet worden ist. Jugendliche werden bei ihrer Suche bisweilen auf sich selbst zurückgeworfen, auf die Ursprünge ihrer Existenz, und wenn sie an ihren Ausgangspunkt zurückkehren, zu Fragen des Seins und Sinns – wenn sie wissen wollen, was das Leben von ihnen will, ja, dann ist es gerade bei schwachen, wankelmütigen Charakteren für gewiefte Hassprediger ein Leichtes, sie genau dort abzuholen und auf die komplexesten Fragen die scheinbar simpelsten Antworten zu bieten. Labilen Seelen Struktur und Halt zu geben, ist eine Kernkompetenz von Religion, bloß dass hier der Missbrauch in der Maskerade des Bösen in Erscheinung tritt. Diesen Verführern ist es eine spielerische Selbstverständlichkeit, verirrte Menschen einzufangen wie der Rattenfänger die Kinder von Hameln. Der zu entrichtende Preis ist zum einen für die Gesellschaft, und zum andern für die Betroffenen selbst unbeschreiblich hoch. Sie verlieren ihre Jugend ohne den Zugewinn eines Erwachsenenlebens, das lohnt.

Erst vor zwei Jahren (!) hat man auf der verzweifelten Suche nach Ursachen und Gegenstrategien zur Radikalisierung begonnen, die in dem Zusammenhang bis dahin schon traditionellen Disziplinen, allen voran die Soziologie, auf wissenschaftlicher Ebene zu ergänzen. Es sind tiefgreifende, dringliche Aspekte, die man erst nach und nach zu beleuchten beginnt. Die systematische Zusammenführung herkömmlichen Wissens mit der Psychiatrie, der Psychologie und Psychoanalyse steht also erst am Anfang, während der Terror, sechzehn Jahre nach 9/11, auch in Europa längst eisenharte Wurzeln geschlagen hat. Natürlich sind soziokulturelle Bedingungen, Armut, Mangel an Bildung und gesellschaftliche Ausgrenzung wichtige Faktoren, die den Abfall eines Jugendlichen zum Extremismus begünstigen – doch sie sind bei weitem nicht die einzigen (dazu aber an anderer Stelle noch mehr).

*

Seit sieben Jahren bin ich nunmehr Imam hinter Gittern, sprich: Seelsorger für muslimische Häftlinge, und seit einiger Zeit auch der Leiter der Gefängnisseelsorge für ganz Österreich. Imam zu sein heißt, durchaus ähnliche Aufgaben und Funktionen zu übernehmen wie ein christlicher Pfarrer, sieht man von Beichte und Ölsalbung ab. Auch Imame sind religiöse Leiter und Respektspersonen einer kleineren oder größeren Gemeinde. Sie sind Vorbeter und Prediger bei den Freitagsgebeten. Und natürlich zu den beiden großen Festen des Islam – dem Fest des Fastenbrechens am Ende des Fastenmonats Ramadan und dem Opferfest, das etwa siebzig Tage danach in Erinnerung an die Bereitschaft des Propheten Abraham begangen wird, seinen Sohn zu opfern.

Nur zwei weitere Justizanstalten (Salzburg und Stein) verfügen neben der Josefstadt über eine eigene Moschee. Die in Wien ist die kleinste, somit auch die kleinste Österreichs und im Untergeschoss des Gefangenentraktes angesiedelt. Linkerhand der dunkelgrünen Stahltür, überfrachtet von silbrigen Heizungsrohren, die querüber an der niederen Kellerdecke verlaufen und einigermaßen Lärm absondern, sodass eine Predigt bei offener Tür kaum möglich ist, stehen schlichte, weiße Regale, die die Hausschuhe der Betenden aufnehmen. Darüber ein von Häftlingen gemaltes Bild in frohen, bunten Farben. Es stellt eine Moschee dar, umkränzt von flammender Sonne und Himmel in harmonischem Farbverlauf. Darüber, als wäre es für jene gedacht, die es nicht glauben wollen, steht in fetten Lettern das Wort: MOSCHEE. Und, wie zur Unterstreichung dieses sehr speziellen Ortes, liegt ein allgegenwärtiger Moder in der Luft, der typische Kombinationsgeruch von Keller, altem Haus und Heizung. Ein Mahnmal der Vergänglichkeit.

Der eigenen, mehr aber noch zum Zeichen der Baufälligkeit, unter der die JA Josefstadt seit Langem leidet. Zur Rechten des Zugangs eine weiße Wand mit schwarzer Kalligraphie. Es sind arabische, mit Pinsel aufgetragene Schriftzeichen, die ersten drei Verse der 23. Sure im Koran: Wahrlich erfolgreich sind die Muslime, die in ihren Gebeten voller Demut sind und sich von allem Sinnlosen fernhalten.

Der Gebetsraum selbst ist maximal schlicht und ohne jene Art von Aura, wie man sie aus den großen Moscheen dieser Welt kennt, beispielsweise in Mekka, Medina oder Jerusalem. Aber auch aus der Hagia Sophia in Istanbul oder der Mezquita im südspanischen Córdoba, die eine Sonderstellung einnimmt, weil dort eine christliche Kathedrale auf einer vormals islamischen Moschee gebaut wurde und alle beide Gotteshäuser – auf beeindruckende Weise ineinander verschmolzen – die Kriege und Jahrhunderte mit all ihren Kriegen und Auseinandersetzungen wie auch menschlichen Animositäten überdauert haben.

Hier jedoch, im Keller des Gefangenenhauses in der Josefstadt, ist funktionaler Minimalismus angesagt. Auf die Installation eines minbar, der für Moscheen typischen Kanzel, von wo aus der Imam üblicherweise die Predigt hält, habe ich aus akuter Platznot verzichtet. Der Boden ist bedeckt von einer Handvoll billiger Teppiche, an der einen Seite sickert trübes Licht aus einem schmalen Fensterschacht hinab. Zuvorderst abermals die farbenfrohe, gleichfalls von Gefangenen und mit viel Engagement und Leidenschaft an die Wand geworfene Darstellung einer Moschee. Über der Kuppel mit golden funkelndem Halbmond ein pyramidenförmiger Wolkenhimmel, darüber eine breite, bis unter die Decke reichende Fläche in mattem Sonnengelb. Zu Beginn jener Schriftzug, jene Bekundung von Gottergebenheit, die von Extremisten aufs Schändlichste missbraucht wird und somit in Augen und Ohren der Gesellschaft zum Schlachtruf religiös motivierten Mordens verkommen ist: Allahu akbar. Gott ist der Allergrößte. Zur Rechten der Moschee abermals arabische Schriftzeichen, in Rotbraun diesmal. Vier Botschaften in vier Zeilen empfangen die Gläubigen:

Zuallererst die basmala, die Anrufungsformel, die mit einer einzigen Ausnahme alle Suren im Koran einleitet: Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen.

Darunter Sure 4, Vers 103, aus dem Koran (4:103): Das Gebet ist eine Pflicht für jeden Muslim, die zu bestimmten Zeiten zu verrichten ist.

Dritte Zeile, Sure Ihlas (112:1-4): Gott ist Einer, ihm ebenbürtig ist keiner. Gott ist der Absolute (der ewige Unabhängige, von dem alles abhängt). Er zeugt nicht und ist nicht gezeugt worden.

Vierte Zeile (16:44): Wir haben den Koran hinabgesandt, damit sie nachdenken (eine Sure, die meines Erachtens keinem einzigen IS-ler in ihrer Bedeutung eingängig oder wenigstens bekannt sein dürfte).

Die Fluktuation meiner Gemeinde ist naturgemäß groß, was im Wesen der JA Josefstadt begründet liegt. Potentiell sind es 350 Muslime. So viele muslimische Insassen zählt die Josefstadt bei Drucklegung dieses Textes, Ende Oktober 2017. Wer immer in Wien einer Straftat angeklagt wird, landet fürs Erste hier. Untersuchungshaft. Jene, die bloß kurze Strafen verbüßen, sind bald wieder weg. Jene, die besonders lange verbüßen – mehr als eineinhalb Jahre unbedingt – desgleichen, denn sie werden in andere Gefängnisse überstellt, wo sie den überwiegenden Teil ihrer Zeit hinter Gittern absitzen. Den einen oder anderen sehe ich wieder, wenn ich gleichsam auf Österreich-Rundfahrt gehe, soll heißen, meiner Aufgabe als Leiter der Gefangenen-Seelsorge im ganzen Land nachkomme. Die Josefstadt ist also gewissermaßen ein Zwischenlandeplatz für Gestrandete, und so entsteht meine rasch wechselnde Gemeinde größtenteils aus solchen, die auf ihren Prozess warten, oder solchen, die nach dem Urteilsspruch bald wieder wegdürfen.

Natürlich kommen und wollen nicht alle zum Gebet, doch der Andrang ist im Allgemeinen enorm. Ganz besonders zu den wichtigen islamischen Feiertagen. Viele muss ich dann abweisen, denn mehr als fünfunddreißig Gefangene dürfen am gemeinsamen Gebet aus Sicherheitsgründen nicht teilnehmen. Beim traditionellen Freitagsgebet (vergleichbar mit dem Sonntagsgottesdienst der Christen) habe ich eineinhalb Stunden Zeit für die Häftlinge. Vor dem Gebet folgt die khutba, die Predigt also, nach dem Gebet dann eine ausführliche Frage-Antwort-Runde. Für gewöhnlich öffnen sich die jungen Leute sehr rasch, denn sie wissen, dass hier keine Überwachung in Bild und Ton stattfindet (bloß eine Kamera ohne Mikrofon, die auch nicht aufzeichnet, bloß live mitfilmt, gedacht allein dafür, dass Wachpersonal im Notfall eines allfälligen Tumults während der Gebetsstunde einschreiten kann). Und sie wissen ferner, dass ich an meine Schweigepflicht gebunden bin. Sie vertrauen mir als einem der Ihren.

 

Neben Fragen eher allgemeiner, oftmals die Haftumstände umreißender Natur – »Ich möchte einen anderen Zellengenossen, Imam, können Sie mir helfen?« / »Warum gibt es kein Halal-Fleisch?« / »Könnten Sie meine Familie kontaktieren und sagen, dass es mir gutgeht?« / »Kann ich einen Gebetsteppich bekommen? Einen Koran in deutscher Sprache? Eine Gebetskette?« / »Ich habe noch nie gebetet, Imam, können Sie es mir zeigen?« / »Wie mache ich die rituelle Waschung vor dem Gebet?« / »Können Sie uns eine Kochplatte verschaffen, damit wir im Ramadan abends warmes Essen haben?« et cetera –, neben alledem also gibt es auch Themen, die den Insassen unter den Nägeln brennen, doch so persönlich sind, dass sie damit erst danach zu mir kommen.

Die Zettel mit Ansuchen für ein Vier-Augen-Gespräch türmen sich auf meinem Schreibtisch, den man mir dankenswerterweise von christlichen Seersorgern in der JA zur Verfügung gestellt hat, und ein Ende des Engpasses ist nicht in Sicht. Viele hunderte junge Muslime sind es mittlerweile, denen ich gleichsam in die Seele geblickt habe – und natürlich steigert die jahrelange Erfahrung die Effizienz der Betreuung entscheidend. Was ich vorfinde, folgt im Großen und Ganzen den immer gleichen Mustern, und so habe ich auch bereits ein Feingefühl dafür entwickelt, wem ich wie begegnen muss, um ihm zu bieten, wonach ihn dürstet: spiritueller Beistand durch einen Mentor, den er allein kraft seines Amtes respektiert, dem er vertrauen kann und der nichts will, außer Halt und Orientierung zu geben in einer ausnehmend diffizilen Lebenssituation. Egal, wie bedrückend und selbstverschuldet sie sein mag.

Nicht alle Mitglieder meiner ungewöhnlichen Gemeinde sind das, was man landläufig radikal nennt. Einige allerdings sind in hohem Maße gewaltbereit, gelten als brandgefährlich und stellen dies auch gelegentlich hinter den dicken, ansonsten verschwiegenen Mauern der JA unter Beweis. Sie alle subsumiert man unter dem Begriff »Islamisten« – eine Definition, die ich im täglichen Gebrauch aus meiner leidvollen Erfahrung des ständigen Vermengens von Islam und Islamismus ablehne (ich spreche also üblicherweise nicht von Islamisten, sondern von radikalen, oder gewaltbereiten Muslimen oder schlicht von Extremisten), eine Definition aber auch, mit der ich prinzipiell könnte, würfe sie nicht eine solche Vielzahl eklatanter Missverständnisse und Vorurteile auf, weil die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus im Volksmund und in den Massenmedien oftmals keine ist. Jedes neuerliche Attentat, jede neue, zutiefst verachtungswürdige und durch nichts zu entschuldigende Bluttat unter dem Segel des Schlachtschiffs Islamismus – vorgeblich begangen im »Namen des Islam« – treibt einen zusätzlichen Keil in unsere längst multikulturelle Gesellschaft, reißt die Gräben nur noch weiter auf.

Gerade hier, bei der strikten Trennung von Islam und Islamismus, ist es besonders wichtig, den verstellten Blick freizuschaufeln, einen neuen, anderen Blick zu werfen, hinein in die Tiefe der Thematik, der natürlich auch ein Blick in die Geschichte dieses so genannten Islamismus ist. Das hat mit jahrhundertelanger, systematischer Ausbeuterei durch Kolonialstaaten ebenso zu tun wie mit archaischen Mustern und Rollenbildern so manch muslimisch geprägter Länder, was beispielsweise Erziehung und Status der Frau betrifft. Extremisten verstehen es auf oftmals beklemmend brillante Weise, sich diesen massiven Wandel der Gesellschaft in der jüngeren Weltgeschichte zunutze zu machen, indem sie die Veränderungen als Verlust eines religiösen Erbes beklagen – und mit aller Gewalt den Erhalt dieses Erbes vorantreiben, das in Wahrheit nichts anderes ist als ein Mix längst überkommener Traditionen und Kulturen. Die Religion wird als Mittel gegen den Zerfall nur vorgeschoben und damit aufs Schändlichste instrumentalisiert.

Und diese Geschichte des so genannten Islamismus (das macht sie mitunter zu einem zutiefst innerislamischen Problem) ist auch eng verknüpft mit der Geschichte der Versklavung der Frau, der Stigmatisierung alles Weiblichen schlechthin.Überspitzt könnte man es als Selbstbefruchtung bezeichnen, eine Art ungewollter Schwangerschaft, die die Geburt einer nur noch schwer zu bändigen Bestie gezeitigt hat. Dennoch ist der Islam – dies an dieser Stelle vorausgeschickt, weil es gar nicht oft genug betont werden kann – zu keiner Zeit eine frauenfeindliche Religion gewesen, und er ist es auch heute nicht.

Ich erkläre das meinen Häftlingen bei jeder Gelegenheit in einfachen, eingängigen Worten, wieder und wieder – zitiere gebetsmühlenartig Stellen aus dem Koran, die explizit auf Stellung und Bedeutung der Frau im Islam gemünzt sind, weil ich sehe, dass viele junge Männer, geprägt durch Elternhaus und Verwandtschaft in den Herkunftsländern, oftmals mit genau diesen alten Modellen aufwachsen. Schon zu Zeiten des Propheten Muhammad haben die Frauen in der islamischen Gesellschaft eine bedeutende Rolle gespielt. Und so haben wir es bei dem Phänomen Islamismus in erster Linie mit überkommenen Leitbildern zu tun, mit archaischen, vom Patriarchat geprägten Wertvorstellungen, die ins Kleid von Kultur und Tradition schlüpfen und dabei vorgeben, unabwendbarer Bestandteil der Religion zu sein. Damit wird ein grundfalsches Verständnis von dem vermittelt, was tatsächlich den Islam ausmacht, was tatsächlich im Koran festgeschrieben steht, was tatsächlich also der unverbrüchliche Wille Allahs ist.

Und noch etwas gehört hierher, weil untrennbar verbunden mit dem Phänomen Extremismus und dem politisch motivierten Missbrauch des Islam (in den Medien immer politischer Islam genannt) – es ist dies der Begriff der Heuchelei.

Seine Ursprünge reichen wiederum bis zu Napoleon und seinem Ägyptenfeldzug (1798) zurück, und seine Wirkmächtigkeit ist heute ausgeprägter denn je. Schon damals, in Berichten des reisenden Chronisten Henry Laurens beispielsweise, taucht immer wieder das Wort Heuchelei auf, wie auch der bereits erwähnte Psychoanalytiker Fethi Benslama aufzeigt. Der Begriff fußt auf dem arabischen munafiq, was ursprünglich jene beschrieben hat, die ihre Ungläubigkeit zu verschleiern versuchen, indem sie sich als Muslime ausgeben. Mehrfache missbräuchliche Umdeutung bzw. Verstärkung über die Jahrhunderte hat den Begriff im Bewusstsein heutiger Radikaler als das Übelste vom Üblen einzementiert. Er wird über all jene Glaubensbrüder gegossen, die sich – völlig zu Recht, wie ich meine – einer Politisierung ihrer friedfertigen Religion Islam verweigern, die Bestrebungen der Radikalen unterwandern und sich somit zu Todfeinden machen. Diese Heuchler stellen sich auf die falsche Seite, stehen in den Augen der Extremisten auf dem Podest des Verachtungswürdigen noch über den Ungläubigen.

Wie tief der Begriff Islamismus in den Köpfen vieler Menschen als Synonym für Islam Wurzeln geschlagen hat, zeigt auch folgendes, ausgenommen krasses Beispiel aus meinem eigenen Umfeld. Hätte ich es nicht selbst vom Betroffenen (im Nachhinein kleinmütig) bestätigt bekommen, bekäme ich es also bloß erzählt, ich würde es als launige, doch jeden Funken Wahrheit entbehrende Maskerade abtun.

Doch gerade dieses Beispiel zeigt eindringlich, was im Sprachgebrauch schieflaufen kann: Ein Kollege aus meinem ehemaligen Brotberuf islamischer Religionslehrer an einer Wiener Schule gerät eines Tages in Konflikt mit dem Vater eines Schülers. Anlass ist ein Missverständnis bei einer Gruppenarbeit, die als Aushang auf dem Schulgang gelandet ist und den Vater des Buben angesichts arabischer Schriftzeichen (im Unwissen, was die Schrift bedeutet) dazu anhält, heftig mit dem Lehrer zu diskutieren. Ein Wort ergibt das andere, eine Beschwerde bei der Direktorin folgt. Sie nimmt meinen Kollegen beiseite, fragt ihn eindringlich, ob es denn stimme, was der Vater behaupte, dass er nämlich zugegeben habe, ein Islamist zu sein.

»Natürlich bin ich Islamist«, ruft der Lehrer mit einiger Dynamik und auch Ernsthaftigkeit. »IslamIST. So wie ChrIST. Oder BuddhIST.«

Erst die Widerworte der Direktorin, welch fatale Wirkung Begriffe wie Islamist und Islamismus in unserer Gesellschaft zeitigen, bringt Aufklärung. Der Lehrer ist zutiefst bestürzt, auf welche – grundfalsche – Seite er sich (aus einigermaßen beschämendem Unwissen heraus) gestellt hat.

Apropos richtige oder falsche Seite: Richtig und Falsch sind Kategorien der Moral. Ich versuche in meinen Predigten und auch Einzelgesprächen, diese Moral von Anbeginn nicht wie einen unüberwindbaren Schild vor mir herzutragen.

Die Erfahrung lehrt mich, dass gerade das Antreten unter dem Panzer der Gerechtigkeit dazu führt, dass die allermeisten Gefangenen zwar wohlwollend nicken, doch augenblicklich zumachen. Sie machen zu, verpuppen sich zur Larve, die wider die Abläufe der Natur beschlossen hat, das Schlüpfen bleibenzulassen. Womit sich – mit dem Bild der Larve – der Bogen wieder auf den Tschetschenen Musa senkt.

Als Musa erstmals beim Freitagsgebet auftaucht, sticht er mir sofort ins Auge. Der Blick in eine Schar von fünfunddreißig Augenpaaren ist immer auch der Blick in die Gesichter der Proponenten gegenläufiger Strömungen und Ansichten. Da gibt es jene, die mit ehrlichem Eifer und angespannter Aufmerksamkeit bei der Sache sind, die ihrem Prediger jedes Wort von den Lippen ablesen und auch später in den Diskussionen viel preisgeben. Dann gibt es die Wankenden, die Unsicheren, die schon während der Predigt, scheint’s, ihren inneren Kampf ausfechten, wieder und wieder die Stirn in Falten legen, schließlich aber nicht den Mut aufbringen, sich in der anschließenden Gesprächsrunde mit Fragen oder Kommentaren einzubringen. Vertreter der Gruppe der Gleichgültigen gibt es so gut wie nie, denn sie haben kein Interesse, ihren gläubigen Brüdern einen Platz zu versitzen. Und dann, am anderen Ende der Skala, finden sich jene, die dir als Prediger von Anbeginn signalisieren, wie klein und mickrig, welch ein Nichts du in ihren Augen bist. Die ihre Mundwinkel verächtlich herabziehen, Körpersignale purer Ablehnung aussenden, wie Gurus Grüppchen Gleichgesinnter um sich scharen und nicht selten die Predigt durch provokante Zwischenrufe stören.

Musa erscheint mir als Vertreter des Typus Wankelmut, Tendenz Larve. Ich nehme ihn als neues Mitglied meiner Gemeinde zwischendurch vermehrt in Augenschein, und ich sehe, er folgt meinen Ausführungen mit einigem Interesse. Selbst zu Wort meldet er sich aber nicht. Erst nach der Frage-Antwort-Runde fasst er sich ein Herz, tritt in einem unbeobachteten Moment dicht an mich heran. »Imam, darf ich zu Ihnen kommen«, haucht er mir ins Ohr. »Jetzt?«

Ich muster ihn kurz, lehne dann höflich, aber bestimmt ab. Ich hätte ein anderes, längst vereinbartes Treffen mit einem Gefangenen, der gleich dort drüben stehe und warte.

»Es ist dringend, Imam. Wirklich dringend!«

Musa blickt beschämt zu Boden. Er ist aufgewühlt, nestelt am Bündchen seines Kapuzensweaters, dann gleiten seine Hände fahrig an den Hosennähten auf und ab. Ich überlege nicht lange, nehme den wartenden Häftling beiseite und bitte ihn um Verständnis. Ein Notfall. Wenig später treffe ich Musa im Besprechungsraum im vierten Stock wieder.

Ein andermal, Musa und ich sind schon so etwas wie alte Bekannte, sitzt er anfangs nur mit hängenden Schultern da. Beklemmendes Schweigen legt sich über uns wie eine Decke aus schwerem Brokat. »Sie sind doch Imam«, sagt er endlich.

Irritiert blicke ich ihn an. »Natürlich, das weißt du doch.«

»Sie wissen also, was richtig und ist und was nicht. Sie wissen, was Allah will.«

Zweifel keimen in mir auf. Eine Zeitlang habe ich wohl gedacht, Musa gehörte zu jenen, die dem Bösen bereits abgeschworen haben oder wenigstens auf bestem Wege dorthin sind. Doch nun hat es den Anschein, als sei der innere Kampf des jungen Mannes noch lange nicht ausgefochten, als erleide er gerade einen massiven Rückfall.

 

»Sie haben heute in der Predigt viel über den IS gesprochen.«

Tatsächlich ist der Islamische Staat Hauptthema meiner Predigt gewesen. Aus wie so oft aktuellem Anlass. Ich habe davon gesprochen, wie grauenvoll Angriffskriege etwa im Nahen Osten oder auch Terroranschläge im Herzen Europas seien, wie sehr sie dem Willen Allahs entgegenstünden und wie perfide Zitate aus dem Koran immer wieder hergenommen würden, um genau das zu rechtfertigen.

»Ja, Musa«, sage ich. »Du hast meine Worte bestimmt noch im Ohr. Auch das Versklaven von Frauen widerspricht den Botschaften Allahs im Koran. Und das Töten anderer Menschen ebenso.«

»Ich bin jetzt seit drei Monaten hier«, sagt Musa. »Die ganze Zeit in der Haft denke ich darüber nach, ob ich falsche Dinge getan habe. Wahrscheinlich habe ich das. Aber dann wieder denke ich …« Er verhält, sieht mich unsicher an.

Der Eindruck von Intelligenz und Einsicht, den Musa mir zuletzt vermittelt hat, scheint in diesem Augenblick wie weggewaschen, fortgespült unter den Ausläufern einer Masse von aufrührerischen Worten, mit denen einer oder mehrere Hassprediger ihm seinerzeit die Seele geflutet haben.

Der radikale Same aus Hass und Niedertracht wurzelt enorm tief, sodass er immer wieder aufkeimt. Und doch erkenne ich erste Anzeichen einer Reue, wiewohl auf noch sehr wackeligen Beinen stehend und permanent unterlaufen von Zweifeln – nicht zuletzt auch neu entfacht von radikalen Mitgefangenen, denen der allmähliche Sinneswandel ihres Mitbruders nicht zu entgehen scheint.

Doch Musa vertraut mir. Und so gibt er auch nach und nach preis, was sein früheres Leben ausgemacht, was diesen radikalen Wandel in ihm entfacht hat. Puzzlestein um Puzzlestein fällt Musas Weg – dieser durch und durch klassische Weg – zum Extremisten vor mir zu einem abgerundeten Bild zusammen.

Musas Eltern sind in den Neunzigern aus Tschetschenien geflohen. Er wie auch seine Schwestern Hatija und Aisha wachsen bereits in Wien auf. Es ist eine Geburt in die Unterschicht. Eine Geburt in die Unterprivilegiertheit. Ein Katapultstart in Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung. Der Vater, Fabriksarbeiter, verlässt die Familie kurz nach der Niederkunft seiner Frau mit der jüngsten Tochter. Musa hat ihn nie mehr wiedergesehen, weiß auch nicht, wo er sich seither aufhält.

Musas Verhältnis zur Mutter ist seit jeher innig. Sie zieht die Kinder alleine groß, sorgt für den kümmerlichen Unterhalt. Tagsüber jobbt sie bei einer Reinigungsfirma, abends und wochenends putzt sie in Privathaushalten. »Mama war oft nicht da«, sagt Musa. »Sie arbeitete ununterbrochen, hatte meist Rückenschmerzen.«

Als die Schwestern noch klein sind, passt er oft in der engen Zwei-Zimmer-Wohnung auf sie auf. Sie leben draußen in einer Wiener Siedlung am südlichen Stadtrand Wiens, einer jener immer häufiger anzutreffenden, zum Minighetto mutierenden Gegenden, wo die Kaufkraft der Menschen weitflächig und dramatisch ins Bodenlose sinkt. Aus unterschiedlichsten Gründen. Arbeitslosigkeit. Kriminalität. Oftmals eine Mischung aus beidem.

Die Schule schmeißt Musa bald hin. Er hat nicht mal einen Hauptschulabschluss. »Ich war nicht gerne dort«, rechtfertigt er sich. Er habe keine richtigen Freunde gehabt in der Schule, man habe ihn nicht gemocht. Freunde gewinnt er dafür rasch anderswo. Im Park, unweit der Wohnung. Mit ihnen verbringt er zunehmend Zeit. Man trifft sich. Bald regelmäßig. Bald jeden Tag. Oft kommt Musa überhaupt nur noch zum Schlafen nachhause. Abhängen im Park ist angesagt. »Wir haben nichts Schlechts getan«, sagt Musa. Nein. Damals noch nicht.

Die Zugehörigkeit zur Gruppe verleiht dem gestutzten Selbstwertgefühl der Burschen neue Flügel. Zusammen fühlt man sich stark. Zusammen fühlt man sich sicher. Irgendwann geht der neue Stolz soweit, dass man auch nach außen hin proklamiert: »Hey, Mann, wir sind keine Österreicher. Wir sind Ausländer.« Das grenzt ab. Und gibt ein Empfinden von Stärke.

Den meisten von Musas Freunden ist es wie ihm ergangen. Kein Schulabschluss. Keine Lehrstelle. Keine Perspektive. Warum sie keinen Job gefunden haben? »Weil wir Muslime sind«, sagen sie sich, sagen sie jedem, der es hören will oder auch nicht. Man wolle nicht, dass sie hier etwas erreichen. Putzen. Drecksarbeit verrichten, sagen sie. Das ja. Mehr nicht. Niemand akzeptiere, niemand brauche sie. Sie wissen nicht, noch nicht, dass das so nicht stimmt. Dass sie längst bei Menschen mit ganz eigenen Interessen auf dem Schirm stehen.

Als zwei neue Burschen sich der Gruppe im Park zugesellen, nehmen Musa und die Gang sie rasch auf. Mehmet und Ismael heißen sie. Sie erzählen vom Sinn des Lebens. Von Gerechtigkeit. Und sehr bald erzählen sie auch von Allah. Musa hat mit Allah bis dahin nicht allzu viel am Hut. Er ist als Muslim das, was man bei Katholischen oder Evangelischen einen Taufscheinchristen nennt. Der Glaube hat in Musas Familie bis dahin keine tragende Rolle gespielt. Doch was Mehmet und Ismael zum Besten geben, hat Charme, hat verführerische Kräfte und zieht nicht bloß Musa rasch in den Bann. Erst zaudert er noch, als sie ihm den Gang zu einem coolen Prediger ans Herz legen. Es sei ganz in der Nähe. Ein winziger Raum in einem Hinterhof. Musa hat ein flaues Gefühl im Magen. Man hört so einiges von dieser Art von Predigern. Man hört auch, sie würden die Welten junger Menschen auf eine Weise verändern, die nicht immer die beste ist.

Doch dann schließen sich zwei seiner Freunde Mehmet und Ismael an. Sie kehren wieder mit ungeteilter Begeisterung, erzählen, wie klug, wie belesen, wie beredt, wie freundlich und gütig der Prediger sei.

Das überzeugt Musa letztlich. Wie auch die anderen aus der Gang. Musa wäre also der Einzige gewesen, der nicht mitgeht. Er weiß, er ist womöglich der Klügste unter ihnen. Doch er ist mitnichten der Stärkste. Und auch nicht der Charismatischste. Er ist einer, der eben mitgeht. Mitläuft. Der sich nicht gerne selbst ausgrenzt. Und so folgt er dem Beispiel, dem Druck der Gruppe.

Tatsächlich hat dieser Prediger etwas, das Musa elektrisiert. Er strahlt nichts Düsteres aus. Er verbreitet Zuversicht. Und Gewissheit. Eine Gewissheit, die Vertrauen begründet, die ihn unausgesprochen zu einer starken Persönlichkeit erhebt, einem Führer, ohne dass er hätte darauf pochen müssen. »Er war wie mein großer Bruder, den ich nie hatte«, sagt Musa. Weise. Stark. Unwiderstehlich.

Der Prediger ist aber nicht bloß großer Bruder. Er ist bedeutend mehr als das. Er ist auch Freund. Man trifft sich zum Paintball-Spielen. Man verabredet sich in einem Internet-Café, teilt den gemeinsamen Nervenkitzel bei Counter Strike, einem Egoshooter-Klassiker. Auch, insbesondere an schönen Tagen draußen im Park, lehrt er sie sein Wissen über Kampfsporttechniken. Und zwischendurch werden Allerweltspläne geschmiedet, wird gescherzt. Geplaudert. Über dies und das. Und über Allah. Später dann, in seinen Predigten, geht es schärfer, bedeutend konkreter zur Sache. Man hört von den Ungläubigen. Davon, dass sie nichts als den Tod verdienen. Davon, dass der Islamische Staat der richtige Weg, der einzig richtige Weg dorthin sei. Der Aufbau des IS sei in vollem Gange. Doch es brauche noch mehr Kämpfer. Unerschrockene, von Leben und Gesellschaft Benachteiligte wie sie alle.

Es ist dies ein durch und durch typischer Weg der schleichenden Radikalisierung, den Musa und seine Freunde da durchlaufen. Fast schon klischeehaft. Ein Klassiker, der in unzähligen Nuancen auftritt, letztlich aber, die immer selbe Maske des Bösen zeigt.

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