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Er beschrieb ihr damaliges Sexualleben als »normal«, was auch immer das bedeutete. Jedenfalls hätten sadomasochistische Praktiken und Fesselspiele einvernehmlich nicht stattgefunden.

An dem Gedanken, Behnsen könnte der Mörder sein, fand ich immer mehr Gefallen. Wenn sich dieser Verdacht bestätigen sollte, wären wir aus dem Schneider. Andernfalls hatten wir bei der Suche nach dem großen Unbekannten nicht viel in der Hand.

***

Hartmut zerriss den Papierstreifen, der die Tür zu Gabi Hellmanns Wohnung versiegelte. Nachdem er aufgeschlossen hatte, zögerte er einen Augenblick, bevor er den ersten Schritt in den Flur machte. Auch wenn die Leiche längst in einem Kühlfach in der Gerichtsmedizin lag, blieb das Gefühl, die Totenruhe zu stören.

Wenn die Spurensicherung am Tatort arbeitet, ist es schwierig, einen Eindruck vom Leben und von der Person des Opfers zu gewinnen. Zu viel verstellt den Blick auf die Details, aus denen der Alltag des Opfers bestand und die es charakterisierten.

Gleich links ging es ins Bad. Es verschlug mir den Atem, als ich eintrat. Die Spurensicherer hatten den Siphon des Waschbeckens zerlegt, um den Inhalt zu untersuchen. Außer dem Waschbecken gab es noch eine Badewanne mit Duschvorhang und natürlich eine Toilette, das alles auf etwa sechs Quadratmetern. Typischer Altbau. Gabis Toilettenartikel – die meisten befanden sich im Spiegelschrank über dem Waschbecken – taxierte ich auf mittlere Preisklasse. Sie beschrieben ihren Stil eindeutig: Sie legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres und war kein Freund von übertriebenem Make-up. Ein Hinweis auf einen männlichen Übernachtungsgast war nicht zu finden, keine zweite Zahnbürste, kein Rasierzeug. Die Kollegen im Labor würden vermutlich ergebnislos nach Bartstoppeln im Siphon suchen. Auch wenn der süßliche Leichengeruch aus der übrigen Wohnung nicht restlos verschwunden war, beeilte ich mich, das Badezimmer wieder zu verlassen.

Im Flur hockte Hartmut vor der halbhohen Kommode, in deren Schubladen sich Gabis Schuhe befanden. Sie diente gleichzeitig als Ablage für Handtasche und Schlüsselbund. Die Kommode war im Gegensatz zu den übrigen Möbeln alt und wuchtig, aus massivem dunklem Holz, keine schwedische Presspappe. Es kostete Kraft, die verzogenen Schubladen aufzuziehen. Darüber hing ein Spiegel, daneben ihre Garderobe.

»Wie Beckmann schon sagte, die Füße stehen nicht mehr in den Marken im Teppichboden. Der Schrank ist vor kurzem verschoben worden.« Die bierdeckelgroßen Stellen, an denen die Füße die Teppichfasern niedergedrückt hatten, zeichneten sich klar ab. Als Wegener den Schrank ein wenig anhob, konnten wir erkennen, dass dies am jetzigen Standort noch nicht der Fall war.

»Falls unsere Vermutung stimmt und die Kommode bei einem Kampf zwischen Gabi und ihrem Mörder verschoben wurde, dann müssten wir hier auch irgendwo die Stelle finden, wo sie sich die Verletzung am Hinterkopf zugezogen hat.«

Hartmut blickte zu mir auf. »Meinst du wirklich, die Spurensicherung hat eine Blutspur übersehen?«

Ich öffnete die Küchentür, um mehr Licht in den fensterlosen Flur zu lassen, und bemerkte dabei sofort, dass in der Küche etwas fehlte. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass der Käfig mit dem Kanarienvogel nicht mehr an seinem Platz stand. Offensichtlich hatte sich jemand erbarmt und des Tieres angenommen.

»Du weißt doch, wie sie arbeiten. Mit der Nase immer dicht über dem Boden, oberhalb der Fußleisten kann schon mal was durchgehen. Die Blutung am Hinterkopf war schwach, es kann daher nur eine winzige Blutspur sein.«

»Meinetwegen. Lass uns den Ablauf rekonstruieren. Die Kommode wurde von der Tür weg in die Wohnung hinein verschoben.« Hartmut ging zur Tür. »Der Mörder kommt herein, Gabi müsste zwischen Tür und Kommode gestanden haben.« Ich nahm den Platz ein. »Der Mörder schlägt ihr ins Gesicht, sie taumelt zurück und verschiebt im Fallen die Kommode.« Er nahm mich an den Schultern und dirigierte mich rückwärts, bis ich gegen die Kommode stieß. Links von mir war nun die Garderobe. Ich sah mir das schlichte Holzbrett an. Weder an den Kanten noch an den Aufhängern war Blut zu erkennen. Um einen Blick auf die Tapete werfen zu können, nahm ich das einzige Kleidungsstück an der Garderobe ab, einen anthrazitfarbenen Blazer.

Als ich ihn in der Küche über einen Stuhl legen wollte, fielen mir die Metallknöpfe auf.

»Hartmut, sieh dir das mal an.« Auf dem obersten Knopf zeichnete sich eine Verunreinigung ab.

Er folgte mir in die Küche. »Der oberste Knopf.«

Hartmut nahm die Jacke, drehte sie und hielt den Knopf in Richtung Fenster, als visiere er über Kimme und Korn ein Ziel im Haus gegenüber an.

»Stimmt, eine Schmierspur. Könnte Blut sein.«

Wir suchten an Garderobe und Tapete nach weiteren Spuren, jedoch ohne Erfolg. Über Handy informierte Hartmut die Spurensicherungsgruppe. Sie würde sich den Flur noch einmal vornehmen müssen. Den Blazer hängten wir wieder an die Garderobe zurück.

Im Wohnzimmer ließ sich mein Chef in einen Sessel fallen. »Wenn es wirklich Blut ist, was da am Knopf klebt, wäre unsere Theorie vom Beginn der Tat damit erhärtet.«

Ich nahm links vom Fenster auf dem Drehstuhl vor dem Schreibtisch Platz und sah mir die beschrifteten Rücken der Aktenordner im Regal darüber an. »Versicherungen«, »Rechnungen«, »Studium«, »Diplomarbeit«, »Behörden«. Der Schreibtisch sah kahl und aufgeräumt aus. Eine Schale mit Stiften, ein Locher, ein Hefter und eine Rolle Tesafilm waren alles, was darauf lag.

»Vielleicht hat er die Tür aufgeschlossen und versucht, die Kette zu knacken. Sie ist davon aufgewacht und hat nachgesehen, woher die Geräusche kommen. Oder Behnsen hat den Schlüssel gar nicht benutzt, sondern geklingelt. Gabi macht die Tür auf, er will in die Wohnung, weil irgendetwas kaputt ist, worum er sich als Hausmeister kümmern muss. Oder er behauptet das zumindest. Dann wird er aufdringlich, sie weist ihn zurück, er wird wütend und alles nimmt seinen Lauf.«

Ich nahm mir den Ordner »Studium« und fing an zu blättern. »Aber warum hat er dann das Klebeband dabei? Und wieso sind auf dem Klebeband keine Fingerabdrücke zu finden?«

Hartmut zögerte mit der Antwort. »Entweder hat er alles geplant oder er brauchte das Klebeband für eine Reparatur. Behnsen hat Werkzeug und Material dabei und trägt Arbeitshandschuhe. Aber was ist so wichtig, dass es mitten in der Nacht repariert werden muss?« Er stützte den Kopf auf die Hand und sah aus dem Fenster. »Was hältst du eigentlich von diesem LKA-Mann?«

»Keine Ahnung, schaden wird es nicht, wenn er sich die Akten ansieht.«

Er rümpfte die Nase. »Ich hoffe, wir haben den Fall gelöst, bevor er seine Koffer richtig ausgepackt hat.«

Auf den Ordner vor mir konzentriert blätterte ich weiter. Schriftwechsel mit der Uni, Prüfungsergebnisse, und zwar sehr gute.

»Entweder – oder. Entweder er hat die Tat geplant und deswegen die Sachen dabei. Oder es passierte spontan, dann hätten wir Fingerabdrücke auf dem Klebeband. Ich habe noch nie gehört, dass ein Mann Arbeitshandschuhe anbehält, wenn er versucht, eine Frau zu begrapschen.« Hartmut antwortete nicht. »Wenn wir von einem Täter ausgehen, der die Tat sorgfältig geplant hat, passt es viel besser. Er klingelt, verschafft sich mit einem Trick Zutritt, überwältigt sie und so weiter.«

Abschlusszeugnis, Gesamtnote »gut«, Diplomurkunde, jeweils in Klarsichthüllen, dann Bewerbungsunterlagen, Anschreiben, Absagen und Informationsmaterial über die Firmen jeweils zusammengetackert. Ganz zum Schluss ihr Arbeitsvertrag, Nolte AG in Isernhagen, 3300 € brutto, 13,4 Monatsgehälter. Nicht übel für einen Berufsanfänger.

»Du hast recht, aber trotzdem ist Behnsen unsere heißeste Spur. Lass uns die Hausdurchsuchung durchziehen.« Er stand auf und ging in Richtung Schlafzimmer. Ich nahm mir den nächsten Ordner – »Versicherungen« – vor.

Als ich »Behörden« wegstellte, kam Wegener zurück. »Was ist das?« Er zeigte auf meinen Oberschenkel. Auf meiner Jeans lag ein Fetzen Papier. Nachdem ich ihn auf den Schreibtisch gelegt hatte, war die Herkunft klar. Es handelte sich um ein fingernagelgroßes Stückchen weißes Papier. Eine Seite stammte vom Rand eines Blattes, die gegenüberliegende war rund, die Wölbung nach innen. »Das ist zurückgeblieben, als jemand ein gelochtes Blatt herausgerissen hat. Und beim Durchblättern ist es aus einem der Ordner gefallen.«

»Preisfrage, Hanna: Ist das eine Spur? Wer hat etwas herausgerissen? Das Opfer selbst oder jemand anderes?«

»Vielleicht ein bisschen weit hergeholt. Warum sollte ein Mörder Papier aus Gabis Ordnern reißen? Doch wohl nur, um seine Identität oder sein Motiv zu verschleiern. Damit wären wir dann aber definitiv nicht mehr beim großen Unbekannten, sondern Täter und Opfer haben sich auf irgendeine Art und Weise gekannt. Glaubst du, die sexuelle Komponente war nur vorgetäuscht und in Wirklichkeit liegt das Motiv ganz woanders?«

»Momentan weiß ich ehrlich gesagt überhaupt nicht, was ich von der Sache halten soll. Lass uns tauschen, ich seh mir die Schubladen an, dann kannst du dich in der Wohnung umsehen. Die Ordner nehmen wir mit, und den Schnipsel stellen wir als Beweisstück sicher.«

Er zog einen Klarsichtbeutel aus der Innentasche seines Sakkos und ließ den Papierfetzen hineinfallen.

»Übrigens noch herzlichen Glückwunsch zu deiner Ernennung zum Leiter der Soko.«

Hartmut winkte ärgerlich ab. »Hör bloß auf. Wenn Feldmann eine Soko bilden lässt, dann nur um seinen eigenen Hintern aus der Schusslinie zu bringen, falls etwas schiefgeht. Ich würde lieber mehr Zeit für die Ermittlungen haben, als mich mit organisatorischem Kleinkram herumzuplagen.«

Die Küche war so einfach eingerichtet wie die übrigen Räume auch. Das Kochen schien nicht Gabis große Leidenschaft gewesen zu sein. Außer Salz und Pfeffer hatte sie kaum Gewürze. Die Vorräte im Wandschrank sprachen für schnelle Küche.

 

Im Schlafzimmer waren die Vorhänge inzwischen geöffnet worden, und im Bett lag nur die abgezogene Matratze, sodass der Raum viel kälter wirkte als am Vortag. Nach dem Inhalt ihres Kleiderschranks zu urteilen, war das Opfer ein salopper Jeanstyp. Hemden, T-Shirts und Pullover dominierten. Für den Start ins Berufsleben hätte sie sich wohl noch etwas ausstaffieren müssen. Ein einziges graues Kostüm musste ihr für festliche Anlässe und Vorstellungsgespräche genügt haben.

Beckmann hatte recht. Die Dessous, die wir an der Leiche gefunden hatten, waren mit Abstand die auffälligsten Wäschestücke, die der Schrank zu bieten hatte. Wahrscheinlich die Ausstattung für ganz besondere Stunden.

Im Regal fand ich eine kleine Holzkiste mit Fotos, die noch in den Papiertaschen steckten, so wie man sie vom Entwickeln abholt. Da der Termin für die Hausdurchsuchung näher rückte, stellte ich die Kiste an die Wohnungstür, um sie nicht zu vergessen. Zu späterer Stunde würde ich mir die Fotos in Ruhe ansehen.

Hartmut rief mich aus dem Wohnzimmer. Vor ihm lag eine kleine Mappe mit Kontoauszügen. Er starrte kopfschüttelnd auf die Papiere vor ihm.

»Halt dich fest. Hunderttausend in bar auf dem Konto, in etwa das Gleiche noch mal festverzinslich angelegt. Sie war eine wirklich gute Partie.«

***

Eine Hausdurchsuchung ist kein Betriebsausflug. Man dringt in die persönlichsten Lebensbereiche eines Mitmenschen ein, seine Intimsphäre wird von Amts wegen aufgehoben. Und in einem Haushalt wie dem von Paul Behnsen waren wir gezwungen, in Dimensionen vorzudringen, die ein menschliches Wesen mit einem Grundverständnis für Hygiene für gewöhnlich nicht ohne Würgreiz überstanden hätte. Zusätzlich zu den üblichen Einweghandschuhen wäre diesmal auch eine Atemmaske angebracht gewesen. Die Wahl zwischen einem Spaziergang in der Kanalisation und der Untersuchung von Behnsens Schmutzwäschekorb hätte mir einiges Kopfzerbrechen bereitet.

Was finde ich in der nächsten Schublade? Was erwartet mich hinter einer verschlossenen Tür? Wer noch nie sein Geld mit der Beantwortung dieser Fragen verdient hat, kann die Mixtur aus Ekel und Nervenkitzel nicht nachvollziehen, mit der wir zu Werke gingen.

Der Erfolg der Aktion war durchwachsen. Das wichtigste Utensil in Behnsens Küche war ohne Zweifel der Dosenöffner, entsprechend schlecht war er mit Messern ausgestattet. Zwar stellten wir einige Exemplare sicher, weil undefinierbare Rückstände darauf zu erkennen waren. Jedoch war von der gesuchten Art – mindestens 15 Zentimeter lange, glatte Klinge – keines dabei. Ich war in Anbetracht der allgemeinen hygienischen Zustände davon überzeugt, dass es sich bei den Flecken nicht um Blut, sondern um Speisereste handelte.

In seiner Werkzeugtasche fand sich eine Rolle Klebeband, allerdings nicht das Fabrikat, mit dem das Opfer gefesselt wurde.

Immerhin besaß der Hausmeister eine stattliche Sammlung Porno-DVDs. Auf den ersten Blick handelte es sich um Ware, die im Fachhandel oberhalb des Ladentisches verkauft wird. Sadomaso-Filme, die ein Beleg für entsprechende Fantasien und eine daraus resultierende Motivation für Gewalttaten hätten sein können, waren auf den ersten Blick nicht dabei.

Der Knüller war zweifellos eine Schublade voller Damenunterwäsche im Kleiderschrank, die Behnsen arg ins Schwitzen brachte.

»Ich habe doch nur im Interesse der Mieter gehandelt. Als Hausmeister bin ich auch eine Art Fundbüro. Und auf dem Trockenboden liegt so manches herrenlose Kleidungsstück. Das nehme ich an mich, damit es nicht wegkommt.«

»Damenlos wäre passender«, entgegnete ich, ohne aufzusehen. Behnsen saß auf seinem Bett, das mit einer geblümten Tagesdecke mit Fransen und Troddeln überzogen war. Mit puterrotem Kopf sah er zu, wie ich den Fund sichtete und in einen Karton umpackte.

»Was? Das meiste habe ich sowieso für eine ehemalige Bekannte ehrlich gekauft.« Er legte die Hände ich den Schoß und starrte auf seine Füße, die in abgelaufenen Puschen steckten.

»Sie waren sich wohl nicht sicher wegen der Größe, von 36 bis 44 ist alles dabei.« Gleiches galt für den Stil, der das gesamte Spektrum von Reizwäsche bis zum Liebestöter bediente. »Es wird sich zeigen, ob aus dem Haus jemand Besitzansprüche anmeldet.« Eigentlich hatte ich gar keine Lust, mit ihm zu debattieren.

»Muss das wirklich sein?« Er war den Tränen nahe. »Dann bin ich in der Hausgemeinschaft erledigt.«

Also doch von der Leine geklaut. Hartmut kam herein. »Hast du ihn über seine Rechte informiert?« Ich nickte, während ich den Karton mit der Wäsche verschloss. Er reichte unserem Verdächtigen einen Zettel.

»Die Sachen nehmen wir mit. Finden Sie sich um 18 Uhr bei dieser Adresse ein. Ob mit oder ohne Anwalt, bleibt Ihnen überlassen.«

***

Wieder im Büro, hatten wir uns kaum gesetzt, als Feldmann mit einem Unbekannten im Gefolge erschien. Anscheinend hatte er uns erwartet und abgepasst.

»Ich darf Sie mit Herrn Dirk Förster vom LKA bekannt machen. Er ist der angekündigte Experte für die Täterprofilerstellung.«

Förster sah aus wie Anfang vierzig. Hätte ich vorher versucht, ihn mir vorzustellen, wäre ich nun bestimmt überrascht gewesen. Das Landeskriminalamt hatte ein Image, das sorgsam gepflegt wurde. Als Landesbehörde verstand man sich als Vorbild für die dezentralisierten unteren Chargen, auch in Sachen Kleiderordnung. Anzüge in gedeckten Farben waren die Regel. Wenigstens hatten sich Ray-Ban-Sonnenbrillen noch nicht durchgesetzt.

Försters Outfit dagegen entsprach – bis auf die Tatsache, dass er eine Krawatte trug – der ungeschriebenen Kleiderordnung der Mordkommission. Die Jeans war eng geschnitten, was bei Männern seines Alters leicht peinlich wirkt. Bei ihm konnte davon keine Rede sein, sein Körper war durchtrainiert. Wir standen auf, er gab uns die Hand – nicht zu fest und nicht zu schlapp – und erweckte dabei nicht den Eindruck, als erwarte er Beileidsbekundungen zum Tod seiner Nichte.

»Bitte sorgen Sie dafür, dass Herr Förster einen Arbeitsplatz bekommt, und halten Sie ihn über alle Entwicklungen des Falles auf dem Laufenden.« Es folgte ein verstohlener Blick auf die Uhr. »Sie entschuldigen mich jetzt bitte. Auf gute Zusammenarbeit, Herr Förster.«

Die letzten Worte sprach Feldmann bereits mit einem Bein auf dem Flur. Das offizielle Dienstende hatte er längst verpasst, er musste auf glühenden Kohlen gesessen haben. Zu Hause wartete bereits der Kaffee auf ihn. Seine Gattin pflegte ungeniert anzurufen und ihn anzumahnen, falls er es tatsächlich einmal wagte, sich zu verspäten. Während einer Besprechung der Abteilungsleiter vor einigen Monaten bestand sie darauf, dass man ihm einen Zettel hereinreichte, auf dem er über die gelungene Premiere eines neuen Käsekuchen-Rezepts informiert wurde. Bevor Feldmann den Zettel zu sehen bekam, hatten ihn umsichtige Kollegen bereits fotokopiert, sodass sich die ganze Abteilung an der guten Nachricht erfreuen konnte.

»Ein Arbeitsplatz ist kein Problem, das indische Büro ist frei«, sagte Hartmut zu mir gerichtet.

»Indisch?« Förster sah mich mit hochgezogenen Brauen an.

»Es heißt so, weil es am Ende des Ganges liegt«, klärte ich ihn auf. Er quittierte den Kalauer mit einem gnädigen Schmunzeln. Hartmut begann Kaffee zu machen, wozu er erst einmal eine neue Packung öffnen musste. Er schimpfte leise vor sich hin, als er das braune Pulver auf seinem Schreibtisch verschüttete, während ich mich mit Förster an unseren kleinen Besprechungstisch setzte.

»Sie haben gerade eine Wohnung durchsucht, sagte Herr Feldmann. Er meinte, Sie hätten bereits eine heiße Spur. Vielleicht werde ich hier gar nicht gebraucht?« Es klang nach einer ehrlichen Frage.

»Heiße Spur klingt etwas zu euphorisch für meinen Geschmack.«

»Leider«, stimmte mir Hartmut halblaut zu, immer noch mit dem Kaffee kämpfend.

»Wir haben einen einschlägig Vorbestraften, der im selben Haus wohnt, einen Schlüssel für die Wohnung hat, weil er Hausmeister ist, und den wir bis jetzt noch nicht nach seinem Alibi gefragt haben«, fuhr ich fort. »Konkrete Beweise, die ihn mit der Tat in Verbindung bringen, haben wir allerdings keine. Um sechs kommt er zur Zeugenbefragung. Sie möchten bestimmt dabei sein?«

»Vielen Dank für das Angebot. Mir wäre es lieber, wenn Sie mich bis dahin mit dem Fall vertraut machen würden und ich mich dann mit den Akten zurückziehe«, sagte Förster und fügte mit einem Schmunzeln hinzu: »Nach Indien.«

Das war mir ganz recht, so konnten wir die Vernehmung ohne Aufpasser vom LKA durchführen. Auch die Miene meines Chefs hellte sich auf. Er knipste die Kaffeemaschine an und setzte sich zu uns.

»Es mag für Sie merkwürdig klingen, aber erzählen Sie mir bitte nichts weiter über ihre Interpretation des Verdächtigen.«

Wollte er nun in den Fall eingeweiht werden oder nicht? Er registrierte unser Erstaunen und fühlte sich zu einer Begründung genötigt. »Ich möchte mir ganz unbeeinflusst anhand der Akten ein Bild von der Tat machen und dann versuchen zu beurteilen, ob Ihr Verdächtiger für den Mord in Frage kommt. Wenn wir Ihren kriminalistischen und meinen täterbezogenen Ansatz zusammenführen, kommen wir zum bestmöglichen Ergebnis.«

Hartmut zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie meinen …«

***

Behnsen hatte sich einen dieser fast arbeitslosen Anwälte mitgebracht, ein gut gekleideter junger Mann, kaum älter als 30. Arbeitslose Rechtsanwälte gibt es nicht. Wer den Sprung in eine Kanzlei oder in den Staatsdienst nicht schafft und keine Anstellung als Firmenjurist findet, lässt sich für ein paar Euro ein Messingschild gravieren, schraubt es an die Tür eines gemieteten Büros oder notfalls – falls das Startkapital dafür nicht reicht – an die eigene Wohnungstür und hat sich damit als Anwalt mit eigener Praxis niedergelassen. Einen Mandanten abzulehnen, ist aus wirtschaftlichen Gründen natürlich undenkbar. So finden Rechtsschutzversicherte und andere Streitsüchtige garantiert immer wieder jemanden, der sie in jeder noch so sinnlosen Angelegenheit vertritt, mitunter vom heimischen Küchentisch aus.

Der Anwalt stellte sich als Klaus Gerber vor und hatte einen unangenehm feuchten Händedruck, der nicht zu seinem übrigen Erscheinungsbild passte. Gut möglich, dass in dieser Konstellation der Mandant mehr Erfahrung mit dem Strafrecht hatte als sein Anwalt, der sich normalerweise vermutlich hauptsächlich mit Hausratversicherungen und Nachbarschaftsstreit herumplagen musste. Leider ließ es sich nicht vermeiden, auch Behnsen die Hand zu schütteln. Am liebsten hätte ich unter einem Vorwand noch einmal den Raum verlassen, um mir die Hände zu waschen oder besser noch: zu desinfizieren. Ich beließ es dabei, mir die rechte an der Jeans abzuwischen, wobei ich keinen besonderen Wert darauf legte, dies unauffällig zu tun.

Hartmut rückte das Mikrofon auf dem Tisch zurecht und schaltete das Tonband ein. Wir saßen uns pärchenweise gegenüber, Anwalt und Mandant sowie Wegener und ich. Das Hausrecht ausnutzend hatten wir unseren Gästen die Plätze mit Blick in Richtung Fenster zugewiesen, sodass ihnen die Abendsonne, die zwischen den Häusern stand, ins Gesicht schien.

Das Verhörzimmer war mit den ältesten Möbeln ausgestattet, die im Haus zu finden waren. Es gab nichts, was ein Gefühl von Gemütlichkeit hätte erzeugen können, keine Vorhänge, keine Blumen, kein Bild an der Wand.

Nachdem Wegener Datum, Teilnehmer und Anlass auf das Band gesprochen hatte, wählte er die klassische Eröffnung und war damit sofort im Thema. »Herr Behnsen, wo waren Sie in der Nacht von Donnerstag auf Freitag?«

»Zu Hause natürlich, in meiner Wohnung.«

»Gibt es dafür Zeugen?«

Behnsen begann zu gestikulieren wie ein Sizilianer bei einem Blechschaden. »Was für Zeugen? Ich lebe alleine, ich war zu Haus, habe ferngesehen und bin um elf ins Bett gegangen. Ja, wie soll ich denn meine Unschuld beweisen?« Für meinen Geschmack ein bisschen zu theatralisch.

Gerber legte väterlich die Hand auf seinen Arm und raunte ihm zu: »Sie müssen Ihre Unschuld nicht beweisen, man müsste Ihnen etwas nachweisen«, worauf sich sein Mandant wieder zurücklehnte und beleidigt aussah.

»Herr Behnsen«, sagte ich, »schildern Sie uns bitte, wie Sie die Leiche entdeckt haben.« Der Angesprochene blickte verstohlen zu seinem Anwalt, der daraufhin nickte.

»Nachdem Frau Hansen zu mir gekommen ist, sind wir gemeinsam zu Frau Hellmanns Wohnung gegangen. Ich habe geklingelt, aber außer dem Vogel war nichts zu hören. Dann habe ich aufgeschlossen und die Tür geöffnet.«

 

»War die Tür abgeschlossen oder nur zugezogen?«, fragte ich.

Behnsen zögerte einen Moment. »Sie war nur zugezogen, das habe ich Ihnen doch gestern schon gesagt.«

»Erzählen Sie bitte weiter.«

»Das Erste, was mir auffiel, war der merkwürdige Geruch. Wir haben nach Frau Hellmann gerufen – keine Antwort. Die Türen zur Küche und zum Wohnzimmer standen offen. Ich habe dann an die Schlafzimmertür geklopft. Als sich nichts rührte, habe ich aufgemacht. Die Vorhänge waren zugezogen, ich konnte sie in dem schummrigen Licht zwar auf dem Bett liegen sehen, aber noch nicht, wie sie zugerichtet war.«

Seine Aussage war glatt wie sein Haar, das nach hinten gekämmt auf der Kopfhaut klebte und einem Orkan getrotzt hätte. Offensichtlich hatte er den Text mit seinem Anwalt gut gelernt. »›Frau Hellmann‹, habe ich gesagt, und als sie nicht antwortete, das Licht angemacht. Sie können mir glauben, ich habe schon einiges gesehen in meinem Leben, aber das hat mich ganz schön umgehauen.«

»Was tat Frau Hansen?«, wollte Wegener wissen.

»Sie ist in der Wohnung hinter mir geblieben, und ich habe versucht, sie aus dem Raum zu schieben, bevor sie sah, was passiert war. Das war wirklich kein Anblick für eine junge Frau. Aber es war zu spät. Sie hat geschrien und ist weggerannt.« Er sah mich schwache, schützenswerte Frau mitleidig an, und ich hätte ihm gerne gesagt, dass er sich sein Geschwätz schenken könne, aber Hartmut fragte zum Glück schon weiter. »Was haben Sie in der Wohnung angefasst?«

Auch diese Antwort kam so präzise, als würde die Nadel an der richtigen Stelle auf eine Schallplatte gesenkt. »Dass Frau Hellmann nicht mehr zu retten war, habe ich gleich erkannt. Von meiner Wohnung aus habe ich die Polizei gerufen. Ich habe also nur die Klinke von der Wohnungs- und der Schlafzimmertür und den Lichtschalter angefasst, sonst nichts. Ich habe auch nichts verändert oder weggenommen.«

Mein Handy piepste einmal kurz als Zeichen, dass ich eine SMS erhalten hatte, was mir einen strafenden Blick meines Chefs einbrachte. Handys waren in Besprechungen und schon gar in Vernehmungen auszuschalten. Ich holte es aus meiner Handtasche, die ich über meinen Stuhl gehängt hatte. Marianne bat um Rückruf.

»Kommen wir zur Hausdurchsuchung«, wechselte Hartmut das Thema. »Wir haben eine stattliche Menge Damenunterwäsche gefunden. Woher stammt sie und wofür benutzen Sie sie?«

Jetzt glaubte der Anwalt, sein Auftritt sei an der Reihe. »Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen dem Mord und der Damenunterwäsche, die mein Mandant verwahrt«, plusterte er sich auf.

»Gestatten Sie, dass wir die Sachlage etwas differenzierter betrachten«, fuhr ihm Hartmut mit erhobener Stimme in die Parade. »Aus ermittlungstaktischen Gründen müssen wir Ihnen leider zu diesem Zeitpunkt einige Einzelheiten der Tat vorenthalten, der Ausdruck ›Täterwissen‹ dürfte Ihnen sicherlich schon einmal begegnet sein. So viel sei jedoch verraten: Bei der Tat spielte Damenunterwäsche eine wichtige Rolle. Und ihr alleinstehender Mandant besitzt eine Kollektion davon, die jeder Dessous-Boutique zur Ehre gereichen würde. Da ist es sicherlich nicht weit hergeholt, über einen Zusammenhang nachzudenken.«

Gerber sackte in sich zusammen. Dafür kam wieder Leben in Behnsen. »Die habe ich nicht geklaut. Das sind Fundstücke, die ich an mich genommen habe, das habe ich Ihnen doch schon alles erklärt«, brauste er auf.

Ich sah ihm in die Augen. »Wollen Sie uns allen Ernstes weismachen, die Frauen in Ihrem Haus verlieren in der Waschküche und auf dem Trockenboden immer nur Unterwäsche? Warum finden Sie denn nicht auch einmal ein T-Shirt oder einen alten Socken? Und warum geben Sie die Sachen nicht zurück?«

Seine Aufregung verschwand genauso schnell wieder, wie sie gekommen war. Er sackte in sich zusammen.

Behnsen hatte plötzlich Tränen in den Augen, hilfesuchend schaute er zu seinem Anwalt, der dem Blickkontakt auswich. Fazit: Nicht weiterzuempfehlen. »Ich weiß, warum ich hier sitze. Vor ein paar Jahren habe ich Mist gebaut, aber ich habe meine Strafe abgesessen.« Seine Stimme war brüchig, aber immer lauter geworden. »Mit diesem Mord habe ich nichts zu tun. Ich habe niemanden umgebracht und ich lasse mir das von euch nicht in die Schuhe schieben.« Er hatte nun völlig die Fassung verloren, Tränen liefen über sein Gesicht. Obwohl Behnsens Fassade nun gebrochen war, fühlte ich mich mit einem Mal sehr unwohl in meiner Haut. Gibt es etwas Unangenehmeres, als Männer weinen zu sehen? Gerber schien es ähnlich zu ergehen. Er rieb sich die Hände und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.

»Es ist nicht leicht für einen Ex-Knacki, wieder Arbeit zu finden, vor allem, wenn man wegen Vergewaltigung gesessen hat, das können Sie mir glauben.« Er starrte auf das Mikrofon vor ihm auf dem Tisch und bäumte sich dann zu einem letzten Gefühlsausbruch auf. »Aber ich habe meine Chance genutzt und jetzt kommen Sie und machen alles kaputt. Wegen ein bisschen Unterwäsche.« Der letzte Satz war begleitet von einem Faustschlag auf den Tisch. Dem dumpfen Geräusch folgte eine vollkommene Stille. Man hätte einen Floh husten hören können. Die Szene hatte etwas Hypnotisches. Vier Menschen, gerade noch in heftige Wortgefechte verwickelt, plötzlich wie versteinert, auf das Signal wartend, das die Situation auflöst. Es kam von Behnsen, der lautstark die Nase hochzog.

Ich hatte das unbändige Bedürfnis, mich zu bewegen. Auf der Suche nach einer sinnvollen Aktion wurde mir bewusst, wie unerträglich heiß es im Raum war. Also öffnete ich das Fenster, um die kühle Abendluft hereinzulassen, während Behnsen leise wieder zu sprechen begann.

»Ich kann meine Unschuld nicht beweisen. Und auch wenn ich es könnte und ich freigesprochen werde, bleibt immer etwas zurück. Kein Rauch ohne Feuer, ich weiß, was die Leute so reden. Alle im Haus werden von meiner Vorstrafe wissen. Alle werden wissen, dass ich ihre Wäsche im Schrank hatte. Hausmeister ist kein Traumjob, aber ich lebe davon. Wer gibt mir wieder Arbeit? Wisst ihr eigentlich, was ihr mir antut? Muss ich denn mein Leben lang büßen für dieses kleine Flittchen?«

***

Wir hatten Behnsen noch über eine Stunde weiter vernommen, drehten uns dabei aber nur im Kreis. Er beteuerte seine Unschuld, und wir hatten bei Licht betrachtet nichts gegen ihn in der Hand, das über Wäschediebstahl hinausreichte.

Hartmut war nach Hause gefahren, er war mit seiner Frau zum Essen eingeladen und wollte keinen Ärger. Obwohl seine Frau unserem Job grundsätzlich viel Verständnis entgegenbrachte, war ihre Stimmung in den letzten Jahren umgeschlagen. Oft genug saß sie mit den beiden Söhnen allein am Abendbrottisch, weil ihr Mann wieder einmal Überstunden machte. Und jetzt hatte er auch noch die Leitung der Soko »Gabi« – der Name hatte sich inzwischen eingeprägt – am Hacken. An normale Dienstzeiten war bis auf Weiteres nicht zu denken. Um den Bogen nicht zu überspannen, hatte er die Einladung über die Ermittlungen gestellt, obwohl ihm anzumerken war, dass er lieber weiter gearbeitet hätte. Andererseits wusste er genau, mit Stress zu Hause würde er den Kopf für die Arbeit nicht frei haben.

Marianne war noch in der Redaktion. Nach dem ersten Klingeln kam sie bereits an den Apparat. Wahrscheinlich gab es auf der Uni im ersten Semester Journalismus eine Vorlesung »auf-klingende-Telefone-stürzen-um-keine-Sensation-zu-verpassen«, wo diese Fertigkeit gelehrt wurde.

Ihr Kollege Platner hatte Informationen, für die sie noch eine Bestätigung von mir wollte, bevor sie in Druck gingen. »Er hat gehört, der Mörder habe sein Opfer grausam gefoltert und die Leiche zerstückelt. Kannst du dazu etwas sagen?«