Psychologie

Text
Aus der Reihe: utb basics #1
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Merksatz

Der Gegensatz zwischen „quantitativer“ und „qualitativer“ Forschung dürfte sich im Sinne einer komplementären, einander ergänzenden Anwendung beider Ansätze immer mehr auflösen.

Ähnlich wie Karl Bühler vor etwa achtzig Jahren eine methodische Integration für die Psychologie vorgeschlagen hat, empfehlen nun auch Bortz und Döring (1995, 281) – ein Autor und eine Autorin, die den quantitativen Methoden verpflichtet sind – in ihrem weithin beachteten Werk „Forschungsmethoden und Evaluation“ eine Zusammenführung quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden. Nicht nur seien diese im Sinne eines interdisziplinären Arbeitens parallel einzusetzen, sondern es sollten auch Erhebungs- und Auswertungstechniken entwickelt werden, „die qualitative und quantitative Operationen vereinigen“. Die vermehrte Nutzung von Computern und elektronischen Arbeitsmitteln in der Forschung fördert in der Tat nicht nur den Einsatz mathematisch-statistischer Verfahren (z.B. statistischer Programmpakete), sondern eröffnet auch für die Weiterentwicklung qualitativer Verfahren große Chancen (Beispiele für qualitativ orientierte Auswertungsprogramme: ATLAS.ti, RQDA, MAXQDA, QDA Miner).


Gegenwärtige Forschungsorientierungen der Psychologie

Innerhalb von Wissenschaften existieren zumeist unterschiedliche Grundkonzepte (wissenschaftliche Paradigmen) darüber, welche Forschungsfragen aufgegriffen, welche wissenschaftlichen Instrumente für Untersuchungen herangezogen und welche Erklärungsmodelle bevorzugt werden. Die häufigsten in der Fachliteratur genannten derartigen Forschungsperspektiven sind folgende:

Biologische Perspektive: Bei dieser Forschungsausrichtung werden psychologische Phänomene hauptsächlich durch die Funktionsweise der Gene, des Gehirns, des Nervensystems oder anderer biologischer Systeme erklärt.

Merksatz

Die Erforschung eines psychischen Phänomens kann aus verschiedenen Perspektiven erfolgen, die sich hinsichtlich der theoretischen Annahmen, der verwendeten Untersuchungsmethoden und der bevorzugten Erklärungsmodelle unterscheiden.

Psychodynamische Perspektive: Ein Erklärungsansatz, bei dem psychische Prozesse auf die Verarbeitung vergangener Erfahrungen (z.B. Kindheitserlebnisse, Elternbeziehungen), auf teils unbewusste motivationale Kräfte (Triebe) oder auf die Anpassung an soziale Zwänge (Kultur) zurückgeführt werden.

Behavioristische Perspektive: Ein auf das „objektiv“ beobachtbare Verhalten (amerikan.: „behavior“) des Menschen (und von Tieren) ausgerichteter Ansatz, bei dem die gesetzmäßige Aufklärung von Reiz-Reaktions-Beziehungen im Vordergrund steht und der auf Aussagen über „innere“ – bewusste oder unbewusste – Prozesse verzichtet.

Humanistische Perspektive: Eine Strömung, welche den Menschen als freies und aktives Wesen interpretiert, das sich von selbst entwickelt, wenn man sich ihm nur wertschätzend, empathisch, ehrlich und „non-direktiv“ zuwendet („Selbstaktualisierung“).

Kognitive Perspektive: Hier sind Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen, Denken, Problemlösen, Emotion und Motivation als informationsverarbeitende Prozesse gesetzmäßig zu beschreiben („Computer-Metapher“).

Evolutionäre Perspektive: Die Struktur der Psyche sowie ihre Dynamik werden als Resultat der evolutionsgeschichtlichen Entwicklung des Menschen betrachtet, bei der das Verhaltensrepertoire (z.B. Erbkoordinationen, Ritualisierungen) durch Selektion und Mutation an die jeweiligen (frühmenschlichen) Umweltbedingungen angepasst und genetisch weitergegeben wurde.

Kulturvergleichende Perspektive: Dabei stehen Einflüsse von Kulturen (z.B. ihre Normen, Medien, Religionen) auf das Erleben und Verhalten des Menschen im Zentrum der Betrachtung, eine Richtung, die auf fast alle psychischen Phänomene anwendbar ist.

| Abb 2.2


Von Coan (1968) wurden 34 Merkmale psychologischer Theorien so in einen geometrischen Raum projiziert, dass das Ausmaß ihrer inhaltlichen Verwandtschaft durch ihre räumliche Nähe wiedergegeben wird. Die Schwerpunkte von sechs Bündelungen solcher Merkmale wurden als „Faktoren“ dargestellt, welche inhaltlich als oberbegriffliche Charakterisierungen der Merkmalsbündel aufzufassen sind. Diese sechs Faktoren konnten dann selbst wieder über zwei Faktoren (Koordinaten) beschrieben werden, von denen der eine (A) die naturwissenschaftliche und der andere (B) die geisteswissenschaftliche Forschungsorientierung symbolisiert.

Idealerweise sollten die Forschungsergebnisse der verschiedenen Ansätze zusammengeführt und zu einheitlichen Theorien integriert werden. Leider wird dieses Vorhaben durch die große Menge an empirischen Resultaten erschwert. Jährlich erscheinen weltweit nicht weniger als 2.500 psychologische Zeitschriften und etwa 40.000 wissenschaftliche Publikationen zu psychologischen Themen (Schönpflug, 2013).

Zusammenfassung

Die Psychologie befasst sich mit menschlichem Verhalten, Erleben und Bewusstsein, deren Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und eventuelle Veränderung sie anstrebt. Wie in jeder anderen Wissenschaft finden sich auch hier zwischen den Fachangehörigen Diskrepanzen hinsichtlich axiomatischer Annahmen (z.B. Leib-Seele-Dualismus, Anlage-Umwelt-Einfluss, Forschungsmethoden), aus denen sich unterschiedliche Präferenzen für theoretische Erklärungen und Forschungsthemen ergeben. Der Theorienraum der Psychologie lässt sich grob in eine naturwissenschaftliche und in eine geisteswissenschaftliche Orientierung gliedern, eine Unterscheidung, die sich auch in den gegenwärtigen Forschungsperspektiven widerspiegelt, die aber als wechselseitig befruchtend angesehen werden können.

Fragen

1. Woran orientieren sich Definitionsversuche für das Wissenschaftsfach Psychologie?

2. Wie lautet eine möglichst umfassende Definition der Psychologie, bei der auch die Hauptforschungsthemen berücksichtigt sind?

3. Wie lassen sich Psyche und Bewusstsein in ihrem Wechselbezug charakterisieren?

4. Welche allgemeinen Zielsetzungen gelten für die Psychologie als Wissenschaft?

6. Mit welchen Verfälschungen (Artefakten) muss man bei Befragungen rechnen?

7. Was versteht man in der Psychologie unter Objektivitäts-, Reliabilitäts- und Validitätsproblem?

8. Nennen Sie Möglichkeiten des Einsatzes psychologischen Wissens zur Veränderung und Optimierung menschlichen Erlebens und Verhaltens!

9. Welche gegensätzlichen Grundannahmen lassen sich in psychologischen Forschungsfeldern unterscheiden?

10. Beeinflussen die Gene oder die Umwelt stärker das Verhalten des Menschen?

11. Wie kann der „freie Wille“ psychologisch interpretiert werden?

12. Wie unterscheiden sich die nomothetische und die ideografische Vorgangsweise in der psychologischen Forschung?

13. Können psychische Phänomene nur ganzheitlich untersucht werden?

14. In welchen Aspekten unterscheiden sich qualitative von quantitativen Forschungsmethoden?

15. Welche theoretischen und methodischen Perspektiven der Forschung finden sich gegenwärtig in der Psychologie?

Literatur

Bischof, N. (2014). Psychologie – Ein Grundkurs für Anspruchsvolle. Stuttgart

Bischof, N. (2016). Struktur und Bedeutung. Göttingen

Bortz, J. & Döring, N. (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. Berlin

Gerrig, R. J. & Zimbardo, P. G. (2008). Psychology and Life. Boston (www.learner.org/ resources/series138.html; 16.11.2007) Gollwitzer, M. & Jäger, R. S. (2014). Evaluation kompakt: mit Online-Materialien (Lehrbuch kompakt). Basel

Hellbrück, J. & Fischer, M. (1999). Umweltpsychologie. Ein Lehrbuch. Göttingen Hofstätter, P. R. (1984). Psychologie zwischen Kenntnis und Kult. München

Lamnek, S. (1995). Qualitative Sozialforschung. Bd. 1, Methodologie. Weinheim

Maderthaner, R. (in Vorbereitung). Relationsanalyse (RELAN) – Systematik und Programm zur logischen und statistischen Analyse von Hypothesen und Daten in statistisch-empirischen Wissenschaften.

Myers, D. G. (2016). Psychologie. Heidelberg Passer, M. W. & Smith, R. E. (2010). Psychology. The science of mind and behavior. Boston Reinecker, H. (2003). Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie. Göttingen Schnell, R., Hill, P. B. & Esser, E. (2005). Methoden der empirischen Sozialforschung (7. überarbeitete Auflage). München

Schwarzer, R. & Jerusalem, M. (2002). Gesundheitspsychologie von A bis Z: Ein Handwörterbuch. Göttingen

Wottawa, H. & Thierau, H. (2003). Lehrbuch Evaluation. Bern

Forschungsmethodik der Psychologie – Grundbegriffe der psychologischen Methodenlehre und Statistik | 3

Inhalt

3.1 Wissenschaftlichkeit

3.2 Von der Empirie zur Theorie

3.3 Fälle und Variablen

3.4 Kausalität und Wahrscheinlichkeit

Multikausalität und bedingte Kausalität

Indeterminismus und Wahrscheinlichkeitsschlüsse

3.5 Relationen und Funktionen

3.6 Beschreibende und hypothesenprüfende Statistik

Deskriptivstatistik – beschreibende Statistik

Inferenzstatistik – schließende und prüfende Statistik

3.7 Forschungsmethoden der Psychologie

Laborexperiment

Quasiexperiment

Feldforschung

 

Test und Rating

Beobachtung

Befragung (Interview)

Textanalyse

Simulationsstudie (Computersimulationen)

3.8 Forschungsablauf


3.1 |Wissenschaftlichkeit

Wissenschaftliches Handeln sollte sich an logisch begründeten, explizit formulierten und verbindlichen Kriterien orientieren. Nach Wohlgenannt (1969) sowie Konegen und Sondergeld (1985) sind dies folgende:

ŸŸ• Es sollen nur Aussagen über Sachverhalte gemacht werden, die wirklich vorhanden sind (Beobachtbarkeit bzw. Erlebbarkeit).

ŸŸ• Die Aussagen sollen ein System bilden und nach expliziten (wissenschaftsspezifischen) Regeln zustande kommen.

Merksatz

Wissenschaftliches Vorgehen will für Tatsachen (Fakten) ein möglichst widerspruchsfreies System von mehr oder weniger abstrakten, logisch verknüpften und intersubjektiv prüfbaren Aussagen bilden.

ŸŸ• Es müssen Regeln zur Definition von Fachausdrücken (Termini) vorhanden sein.

ŸŸ• Für das gegebene System von Aussagen müssen Ableitungsregeln gelten („induktive“ und „deduktive“ Schlussregeln).

ŸŸ• Das Aussagensystem muss widerspruchsfrei sein.

ŸŸ• Aussagensysteme mit empirischem Bezug (faktische Aussagen) dürfen sich nicht auf die Aufzählung von Fakten beschränken, sondern müssen auch Verallgemeinerungen enthalten.

ŸŸ• Faktische Aussagen müssen intersubjektiv prüfbar sein.

In ähnlicher Weise charakterisieren Bortz und Döring (1995, 7) aus Sicht der Psychologie wissenschaftliche Aussagen: „Wissenschaftliche Hypothesen sind Annahmen über reale Sachverhalte (empirischer Gehalt, empirische Untersuchbarkeit) in Form von Konditionalsätzen. Sie weisen über den Einzelfall hinaus (Generalisierbarkeit, Allgemeinheitsgrad) und sind durch Erfahrungsdaten widerlegbar (Falsifizierbarkeit).“


3.2 |

Merksatz

Die Methoden einer wissenschaftlichen Disziplin sollen die korrekte und zweckmäßige „Abbildung“ eines empirischen (konkreten) Systems in einem theoretischen (abstrakten) System erlauben.

Die Human- und Sozialwissenschaft Psychologie unterscheidet sich insofern grundlegend von den Naturwissenschaften, als hier die wissenschaftlichen Phänomene nicht direkt zugänglich sind, sondern oft indirekt erschlossen werden müssen. So sind etwa Persönlichkeit, Intelligenz oder Einstellungen theoretische Begriffe, die nur über Verhaltenstendenzen, Fertigkeiten oder Gefühlsreaktionen erfasst werden können. Der Weg von der Empirie zur Theorie ist daher in der Psychologie oft weit und erfordert viele Zwischenschritte. In der psychologischen Methodenlehre unterscheidet man zumeist ein empirisches System, das die Forschungsdaten liefert, und ein theoretisches System, das die Gesetze und Erklärungen zu formulieren gestattet, und bezeichnet die Vorgangsweisen, Methoden und Instrumente, die zwischen beiden eine Verbindung herstellen, als Korrespondenzsystem.

| Abb 3.1


Die theoretische Beschreibung der Realität kann als deren abstrakte Abbildung in einem Symbolsystem (Sprache, Vorstellung, Programme …) aufgefasst werden. Dabei wird ein vermittelndes, transformierendes Korrespondenzsystem benötigt, wodurch wissenschaftscharakteristische Vorschriften zur Gewinnung, Beschreibung, Erklärung und Interpretation der jeweiligen Systemelemente zur Verfügung gestellt werden.

Die Schritte vom empirischen zum theoretischen System (Abb. 3.1) lassen sich wie folgt charakterisieren: Vorerst werden aus einer Vielzahl von Strukturen und Abläufen in der psychischen oder sozialen Realität – der sogenannten Empirie – jene Phänomene identifiziert, die Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchungen werden sollen. Die jeweils zu erforschenden Phänomene (z.B. Denkprozesse, Lernformen, Stressverarbeitung) müssen exakt beschrieben werden, was sich in verbalen, bildlichen oder symbolischen Datenmengen bzw. Protokollen niederschlägt. Insbesondere in der quantitativen Forschung versucht man die Datenmenge auf jene Informationseinheiten zu begrenzen, die zur Beschreibung der Gesetzmäßigkeiten der Phänomene relevant erscheinen. Die Gesamtheit aller Ausprägungen von Indikatoren (zu einem untersuchten Phänomen) zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort sind jene einzelnen Tatsachen, die der empirischen Forschung als Grundeinheiten zur Gewinnung oder Überprüfung von (statistischen) Hypothesen zur Verfügung stehen.

Merksatz

Im empirischen System werden Phänomene menschlicher Erfahrung ausgewählt und in ihren konkreten Erscheinungsweisen (Tatsachen) verbal oder symbolisch (über Indikatoren) protokolliert.

Merksatz

Im theoretischen System werden anhand von Fällen Relationen zwischen Variablen gesucht, funktional zusammenhängende Relationen zu Modellen zusammengefasst und thematisch verwandte Modelle zu einer Theorie integriert.

Zu einem Fall des theoretischen Systems wird eine Tatsache dann, wenn die erfassten Eigenschaften der Indikatoren in Ausprägungen von Variablen umgewandelt werden. Ein Fall ist somit durch eine bestimmte Konfiguration von (empirischen) Variablen, genauer durch deren jeweilige Ausprägungen, definiert. Mittels statistischer Auswertungsverfahren werden auf Basis der zur Verfügung stehenden Fälle zwischen den Variablen entweder hypothetische Relationen (Funktionen, Beziehungen etc.) geprüft oder unbekannte Relationen gesucht. Hypothesen sind Annahmen über Relationen zwischen mindestens zwei (empirischen) Variablen. Wenn eine hypothetische Relation zufriedenstellend oft in verschiedenen, wissenschaftlich seriösen Untersuchungen empirisch bestätigt wurde, spricht man von einem Gesetz. Mehrere Gesetze (oder Hypothesen), die ein logisch konsistentes Erklärungsgerüst für ein bestimmtes Phänomen darstellen, werden zusammenfassend als Modell bezeichnet (z.B. Wahrnehmungs-, Lern-, Gedächtnis- und Handlungsmodelle). Der Übergang von Modellen zu Theorien ist fließend. Eine Theorie ist ein System von zusammenhängenden Gesetzen, die maximal abstrakt formuliert sind.

Merksatz

Konstrukte sind speziell definierte, nicht direkt beobachtbare Begriffe einer psychologischen Theorie (z.B. Intelligenz, Motivation, Aggression), für die Operationalisierungen vorhanden sind oder entwickelt werden müssen.

Um die Realität in Form von Gesetzen oder Theorien abbilden zu können, müssen Begriffe (Konzepte) zur Klassifikation empirischer Phänomene entweder vorhanden sein (Alltagsbegriffe) oder neu entwickelt werden (Fachbegriffe bzw. Termini). Diese Konzeptionalisierung („Konzeptspezifikation“; Schnell, Hill & Esser, 1993) der Wahrnehmungs- oder Erlebenswelt darf weder zu fein noch zu grob ausfallen, damit ein adäquater Auflösungsgrad für die untersuchten Phänomene gegeben ist. Für neu eingeführte theoretische Fachbegriffe, sogenannte Konstrukte (d.h. theoretische Konstruktionen), ist die konkrete Bedeutung in der Welt unserer Erfahrungen mittels Operationalisierungen klarzulegen. Als solche Interpretationshilfen für theoretische Fachbegriffe können spezielle Beobachtungen, Testverfahren, Teile von Fragebögen oder sonstige Datenerfassungsverfahren herangezogen

Merksatz

Bedeutungsinterpretierende Zuordnung beobachtbarer Sachverhalte zu einem theoretischen Begriff bezeichnet man als dessen Operationalisierung.

werden. Mögliche Operationalisierungen von „Angst“ sind etwa bei einem Versuchstier der körperliche Zustand in Erwartung elektrischer Schläge, die gemessene Herzfrequenz oder die motorische Unruhe. „Intelligenz“ kann durch die Leistungen in einem bestimmten Intelligenztest, und „Glück“ durch die Beantwortung von Fragen in einem Befindlichkeitstest operationalisiert werden. Das Korrespondenzsystem mit einschlägigen Konzeptualisierungen und Operationalisierungen ist Bestandteil des jeweiligen wissenschaftlichen Paradigmas (s. auch Maderthaner, 2003).


Fälle und Variablen| 3.3

Als empirische Einheiten kommen in der Psychologie beliebige statische oder dynamische Systeme infrage (z.B. Personen, Gruppen, Situationen, Abläufe), in denen sich psychische Gesetzmäßigkeiten äußern. Wie bereits erwähnt, wird die Beschreibung (Protokoll) eines Phänomens auf gesetzesrelevante Merkmale (Indikatoren) reduziert, sodass zuletzt nur mehr ein sogenannter „Fall“ mit phänomencharakteristischen Variablen übrig bleibt. Fälle sind also die – im Sinne einer wissenschaftlichen Fragestellung – maximal informationsreduzierten empirischen Einheiten, anhand derer Gesetze verifiziert oder falsifiziert werden sollen.

Merksatz

In sozialwissenschaftlichen Untersuchungen werden anhand von Fällen (Stichprobe) Gesetze gewonnen, welche auf ähnliche Sachverhalte (Population, Geltungsbereich der Gesetze) hin verallgemeinert werden.

Da es in der Psychologie nur selten möglich ist, die gesamte Population bzw. Grundgesamtheit empirischer Einheiten zu erfassen, für die ein Gesetz gelten soll, beschränkt man sich in der Forschung auf eine Stichprobe (engl. sample), deren Zusammensetzung in den gesetzesrelevanten Eigenschaften jener der Population möglichst ähnlich sein sollte, damit die auf Basis der Stichprobe gewonnenen Erkenntnisse berechtigt verallgemeinert werden können. Der Schluss von der Stichprobe auf die Population ist am ehesten dann gerechtfertigt, wenn die Stichprobe nach dem Zufallsprinzip aus der Grundgesamtheit ausgewählt wird (Randomisierung) und die Stichprobe entsprechend groß ist (s. auch Schnell et al., 1993).

| Abb 3.2


Ein Beispiel für eine einfache, aber prägnante Charakterisierung von Personen (Fällen) ist jene nach Persönlichkeitsfaktoren (Variablen). Das Profil in der Abbildung kennzeichnet eine Person in den sogenannten „Big-Five-Faktoren“ („NEO Five-Factor Inventory“ von Costa & McGrae, 1992; Becker, 2004).

Wenn die Ausprägungen relevanter Untersuchungsvariablen in einer Stichprobe mit jenen der Population annähernd übereinstimmen, darf von Repräsentativität der Stichprobe gesprochen werden. Im Forschungsalltag ist Repräsentativität aufgrund verschiedenster Forschungshemmnisse nur selten vollständig erreichbar (Kostenbegrenzung, Unerreichbarkeit von Personen, Teilnahmeverweigerung etc.), sodass häufig nur Gelegenheitsstichproben (z.B. Studierendensamples) zur Verfügung stehen oder die Stichprobenselektion eher mittels Quotaverfahren (Vergleichbarkeit der Stichprobe mit der Population hinsichtlich der Verteilung einiger wichtiger Merkmale wie Geschlecht, Bildung, Beruf usw.), mittels Schneeballverfahren (Probandinnen und Probanden vermitteln selbst wieder weitere Probandinnen und Probanden) oder mittels Klumpenverfahren erfolgt („cluster sampling“: Cluster von Fällen, z.B. Unternehmen, Organisationen, Branchen, werden zufällig ausgewählt und hierin alle Mitglieder untersucht). Leider erhöhen die letztgenannten Auswahlverfahren die Fehleranfälligkeit und mindern den Grad an Verallgemeinerbarkeit.

In der Mathematik sind Variablen („Platzhalter“, „Leerstellen“) jene Zeichen in Formeln, die für einzelne Elemente aus einer Menge möglicher Zahlen oder Symbole stehen. Die verschiedenen Belegungen von Variablen nennt man ihre Ausprägungen- oder – wenn diese aus Zahlen bestehen – ihre Werte. Als Wertebereich einer Variablen bezeichnet man alle Zahlen vom Minimalbis zum Maximalwert. Variablen charakterisieren Fälle hinsichtlich ihrer untersuchungsrelevanten Merkmale. In psychologischen Untersuchungen können diese äußerst vielfältig sein und schließen Beschreibungsmerkmale, Testergebnisse, Prozentschätzungen, physiologische Messwerte und andere Aspekte mit ein (Abb. 3.2).

Während in der Mathematik Zahlen definitionsgemäß eine quantitative Bedeutung haben, das heißt, dass bestimmte Rechenoperationen mit ihnen durchgeführt werden können (Addition, Multiplikation, Potenzierung etc.), kann dies bei Variablenwerten der psychologischen Empirie nicht vorausgesetzt werden. Hier können Zahlen zum Beispiel für Benennungen herangezogen werden (z.B. Abzählung von Personen in einer Gruppe), sie können eine Rangordnung symbolisieren (z.B. der 1., 2. oder 3. in einem Wettkampf) oder sie können ein Vielfaches von Grundeinheiten darstellen (z.B. Häufigkeiten). Aus diesem Grund werden die Ausprägungen von Variablen in der Psychologie hinsichtlich ihrer sogenannten Skalenqualität unterschieden, wovon insbesondere die Anwendbarkeit statistischer Auswertungsverfahren abhängt.

 

Merksatz

Hypothetische Ursachen werden in empirischen Untersuchungen mittels unabhängiger Variablen charakterisiert und hypothetische Wirkungen mittels abhängiger Variablen.

Faktoren, denen innerhalb von Phänomenen ein Einfluss zugeschrieben wird, heißen in den empirischen Sozialwissenschaften (so wie in der Mathematik bei Funktionsgleichungen) unabhängige Variablen (UV), während jene Faktoren, welche die Auswirkungen des Einflusses symbolisieren, als abhängige Variablen (AV) bezeichnet werden. In einer wissenschaftlichen Kausalhypothese (s. 3.4) stellt der Wenn-Teil die Ausprägungen der unabhängigen Variablen und der Dann-Teil die vorhergesagten Ausprägungen der abhängigen Variablen dar (Box 3.1). Auf diese Unterscheidung verzichtet man, wenn die Einflussrichtung zwischen den Variablen nicht spezifiziert ist oder als wechselseitig angenommen wird (z.B. bei Korrelationsstudien).

Von den eigentlichen Wirkvariablen unterscheidet man sogenannte Moderatorvariablen, denen ein modifizierender Einfluss auf die funktionalen Beziehungen zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen zugeschrieben wird (Box 3.1).

lat. confundere: zusammengießen, vermischen, vermengen, verwirren

Da selbst bei bestens geplanten und genau kontrollierten Experimenten Einflüsse wirksam werden, die nicht erwünscht sind, existieren in allen empirischen Untersuchungen auch Störvariablen. Je mehr Störeinflüsse in einer Untersuchung vorhanden sind, desto vager und unschärfer werden die wissenschaftlichen Resultate. Von Konfundierung spricht man, wenn unabhängige Variablen mit dem Effekt anderer Variablen vermischt sind. Gebräuchliche Maßnahmen gegen eine Verfälschung durch konfundierende Variablen oder Störvariablen sind deren

ŸŸ• „Elimination“ (d.h. Versuch ihrer Ausschaltung),

ŸŸ• „Matching“ (d.h. Gleichhaltung ihres Effektes bei den Ausprägungen der unabhängigen und abhängigen Variablen) sowie

ŸŸ• Randomisierung (d.h. zufällige Aufteilung ihrer Quellen, wie etwa der Auswahl der Probandinnen und Probanden).

probabilistisch: wahrscheinlichkeitstheoretisch berechnet

Insbesondere bei modernen statistischen Modellen findet man häufig die Unterscheidung in manifeste - und latente Variablen. Als manifest gelten alle durch direkte Erhebung (als Ergebnis der empirischen Datenerhebung) zustande gekommenen Variablen, während latente Variablen theoretisch begründet sind und zur Erklärung der empirischen Resultate herangezogen werden. So etwa kann das Konstrukt Intelligenz durch eine latente Variable beschrieben werden, wenn diese als Summe aller gelösten Intelligenzaufgaben definiert wird. Die Ausprägungen latenter Variablen werden in der Forschungspraxis mittels mehr oder weniger komplexer mathematischer Prozeduren (z.B. über Mittelwertsbildungen, lineare Funktionen, probabilistische Schätzungen) aus den ihnen über die Operationalisierung zugeordneten manifesten Variablen errechnet.

Beispiel für eine Variablentypisierung | Box 3.1

Wenn etwa in einem Experiment der Einfluss des Alkoholkonsums auf die Fahrleistung in einem Fahrsimulator untersucht werden soll, dann könnte die Hypothese lauten: Wenn Verkehrsteilnehmer Alkohol trinken, dann begehen sie überdurchschnittlich viele Fehler im Simulator. Als unabhängige Variable fungiert der Alkoholgehalt des Blutes, welcher zumindest in zwei Ausprägungen vorliegen muss (z.B. 0,0 Promille Blutalkoholgehalt – 0,5 Promille Blutalkoholgehalt). Als abhängige Variable könnte in einer normierten Fahrleistungsprüfung die Anzahl an Fahrfehlern herangezogen werden. Als Moderatorvariablen, welche die Beziehung zwischen Alkoholisierungsgrad und Fahrleistung verändern könnten, wären die Fahrpraxis, die Alkoholtoleranz oder die Trinkgeschwindigkeit der Versuchspersonen einzubeziehen. Als Störvariablen können Messfehler bei der Blutalkoholbestimmung, Konzentrationsschwankungen der Probandinnen und Probanden oder Ablenkungen in der Versuchssituation angenommen werden.


Kausalität und Wahrscheinlichkeit| 3.4

Die Annahme, dass Ereignisse der Realität einander gesetzmäßig beeinflussen, d.h. in einem Kausalzusammenhang zueinander stehen, wird implizit in jeder Wissenschaft vorausgesetzt. Würde die Welt nicht deterministischen oder zumindest probabilistischen Gesetzen (wie z.B. in der Quantenphysik) unterliegen, hätte das Betreiben von Wissenschaft keinen Sinn. Das Kausal(itäts)prinzip, nämlich die Annahme, dass jedes Ereignis eine oder mehrere Ursachen hat, ist eine grundsätzlich unbeweisbare These, die aber sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft dazu motiviert, immer wieder nach Ursachen und Wirkungen zu fragen. Im Vergleich zur oft trivial vereinfachten Kausalanalyse des täglichen Lebens (z.B.: Wer ist schuld an einer Scheidung? Was ist die Ursache eines Unfalls?) unterscheidet man in der Wissenschaft mehrere Arten von Kausalbeziehungen.


3.4.1 |Multikausalität und bedingte Kausalität

Eine wichtige Grundunterscheidung betrifft das direkte oder indirekte Zustandekommen von Effekten. Bei direkten Kausalbeziehungen können selbst wieder vier Arten unterschieden werden (Nowak, 1976; Abb. 3.3):

1. Die einfachste Variante, dass eine Ursache sowohl hinreichend (allein ausreichend) als auch notwendig ist (ohne diese Ursache käme es zu keiner Wirkung), stellt einen Kausaltyp dar, den wir in dieser Reinform in der Psychologie kaum vorfinden, am ehesten noch dann, wenn Gegebenheiten miteinander in Wechselwirkung stehen, wie etwa im Falle der gegenseitigen Anziehung zweier Menschen oder bei der symmetrischen Aufschaukelung der Aggression zweier Personen, sodass die Ursachen zugleich als Wirkungen gesehen werden können.

Abb 3.3 |


Typisierung möglicher direkter Kausalbeziehungen nach Nowak (1976) unter Berücksichtigung bedingter Kausalität und Multikausalität. Die Pfeile symbolisieren die Wirkungsrichtung, die aussagenlogischen Formelzeichen ∧, ∨, → und ↔ bedeuten „und“, „oder“, „wenn – dann“ sowie „wenn – dann und umgekehrt“.

2. Die weiteren Kausaltypen sind komplexer. So ist zum Beispiel Stoffkenntnis für eine Prüfungsleistung eine hinreichende Ursache, sie ist aber nicht notwendig, weil auch noch andere Gründe (z.B. Schummeln) für eine gute Leistung verantwortlich sein können.

3. Ursachen lösen oft nur unter bestimmten Bedingungen Effekte aus, indem etwa ein Stressor nur bei schwacher Stressresistenz zu psychischen und somatischen Störungen führt oder selbst die besten Argumente dann nicht einstellungsverändernd wirken, wenn sie aus Mangel an Aufmerksamkeit nicht gehört oder aufgrund zu geringen Vorwissens nicht verstanden werden. Die Ursache ist in diesen Fällen notwendig (d.h. ohne sie kein Effekt), aber nicht hinreichend.

4. Der vierte Typ von Kausalbeziehung ist schließlich jener, bei dem eine Ursache nur unter bestimmten Bedingungen wirksam wird, aber auch andere Ursachen die gleiche Wirkung hervorrufen. So lässt sich eine bestimmte Verhaltensweise eines Kindes durch Versprechen von Belohnung hervorrufen, dies aber nur dann, wenn beim Kind auch ein Bedürfnis nach der versprochenen Gratifikation vorhanden ist. Die gleiche Verhaltensweise kann aber auch durch körperliche Gewalt, durch Bestrafungsandrohung oder andere Faktoren provoziert werden. Da viele psychische Phänomene sowohl multikausal verursacht als auch nur unter bestimmten Voraussetzungen auslösbar sind, ist diese letzte (weder hinreichende noch notwendige) Kausalbeziehung in der Psychologie wohl am häufigsten anzutreffen.

Multikausale - und multieffektive Beziehungen zwischen psychischen, sozialen oder physischen Ereignissen sind also eher die Regel als die Ausnahme. Als ein weiterer diesbezüglicher Ansatz für eine solcherart komplexe, den realen Gegebenheiten entsprechende wissenschaftliche Ursachenanalyse wurde die INUS-Methode vorgeschlagen (s. Westermann, 2000). Das INUS-Schema postuliert, dass eine Ursache oft weiterer Bedingungen für die Auslösung einer Wirkung bedarf (insufficient), dass die Bedingungen allein ohne die Ursache jedoch nicht wirksam sind (necessary), dass auch noch andere Ursachen die gleiche Wirkung auslösen können (unnecessary) und dass die Ursache gemeinsam mit den Begleitumständen hinreichend ist (sufficient).

Box 3.2 | Beispiel für eine INUS-Analyse

Ein psychologisches Gutachten kommt zum Schluss: Die wiederholte Neigung eines Jugendlichen zu Gewalttaten (Wirkung) in bestimmten Situationen (Bedingung) sei auf seinen langjährigen Heimaufenthalt (Ursache) als Kleinkind zurückzuführen.

Weitere Bücher von diesem Autor