... wenn nichts bleibt, wie es war

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

3. Die merkwürdige Geschichte der »Gegenwart«

Die Gegenwart ist uns seit einiger Zeit doppelt entzogen: Als etwas, das uns drängend und distanzlos umgibt, war sie es schon immer. Als gegenwärtige Gegenwart aber ist sie es doppelt. Denn eine der merkwürdigeren Irritationen beim Blick auf die Gegenwart ist, dass es offenbar eine Geschichte des Bewusstwerdens der eigenen Zeit gibt. Die Gegenwart war offenbar nicht immer in jener Weise gegenwärtig, wie es uns heute selbstverständlich ist. Die Art des Gegebenseins der Gegenwart ist selber ein kulturelles Phänomen. Es gibt eine »Geschichte der Gegenwart«. In ein Schema gebracht: In vor-neuzeitlichen Zeiten, also vor der europäischen Expansion des 16. Jahrhunderts, war die Gegenwart die Verlängerung der Vergangenheit und sie wollte auch nichts anderes sein; in der Moderne, also bis vor kurzem, war die Gegenwart die Vorgeschichte einer erhofften, erstrebten besseren Zukunft; heute, in einer unsicher und vorsichtig gewordenen späten Moderne, ist sie vor allem eines: die Chiffre für die Unsicherheit darüber, was sie eigentlich ist.

Vor dem Epochenbruch zur Neuzeit waren Gegenwart und Zukunft die Fortsetzung der Vergangenheit. Wie es war und vor allem wie es sein sollte, das dachte man sich als die Fortsetzung eines legitimierenden Ursprungs. Herrschaft etwa, weltliche und religiöse, begründete sich vor allem durch die »Herkunft von alters her«, am besten von göttlichem, also ewigem Alter her. Gegenwart war Nachfolge.

Die Moderne wurde dann jene Zeit, in der man die Zukunft als Projekt der Gegenwart dachte: Man sah sich nicht mehr primär der Vergangenheit verpflichtet, sondern die Zukunft wurde zur normativen Zeitebene, eine »bessere« Zukunft natürlich. Es sollte nicht mehr wie früher, sondern ganz anders werden, die Zukunft wurde modellierbar und gestaltbar, wurde zur Aufgabe. Der Weg dorthin nannte sich recht emphatisch »Fortschritt«.

Die Moderne bricht mit einer vergangenheitsorientierten Logik des Ursprungs und etabliert stattdessen eine zukunftsorientierte Logik des Projekts. Das befreit die Vergangenheit von der Aufgabe, die Gegenwart zu bestimmen, ermöglicht dieser vielmehr umgekehrt, die Vergangenheit nun plötzlich als offenen Raum der Erforschung zu entdecken. Hier drehen sich die Herrschaftsverhältnisse um: Nicht mehr die Vergangenheit herrscht über die Gegenwart, sondern die Gegenwart über die Vergangenheit. Diese Gegenwart selber aber steht unter der Macht der Zukunft.

Während die Gegenwart in vormodernen Zeiten also die Zukunft der Vergangenheit war, so in modernen Zeiten die Vergangenheit der Zukunft. Dieser Zukunft war man sich dabei relativ sicher. Die klassische Moderne, die Zeit also, die sich ihres regulierenden theologischen Rahmens irgendwann im 18. Jahrhundert in ihren Eliten und im 19. Jahrhundert dann gesellschaftsweit entledigte, war noch das Projekt einer nach-metaphysisch legitimierten Gesellschaft mit quasi-metaphysischer Sicherheit, das Projekt einer nicht-religiös begründeten Gesellschaft mit fast noch religiöser Selbstsicherheit.

In der postmodernen Gegenwart finden Geschichtstheologien des Fortschritts nicht mehr wirklich Glauben. Die Gegenwart ist damit eine Zeit, die sich ihrer selbst nicht mehr so gewiss ist, wie es die Vormoderne im Rahmen einer religiösen und die Moderne im Rahmen einer säkularen Geschichtstheologie war. Die spät- oder zumindest darin postmoderne Gegenwart ahnt die Brüchigkeit der modernen Logik der Projekte. Sie baut weiter an der Welt der Zukunft als Ergebnis ihres Willens, aber sie ahnt, dass es ganz anders kommen wird. Die Zukunft wird nicht das sein, was wir heute geplant haben. Was wir heute planen, wird die Zukunft mitbestimmen, aber wie, wissen wir nicht.

Der ganze Wissenschaftsbetrieb und teilweise auch die Kirche werden zwar gegenwärtig noch auf das Schema der Moderne umformatiert:9 ein Projekt zu entwickeln, es zäh und gegen widrige Winde und Menschen durchzusetzen und mit Erfolg abzuschließen. Wenn es aber eine postmoderne Erkenntnis gibt, dann jene, dass wir nicht die souveränen Herren der Zukunft sind, wie es die Moderne glauben machen wollte. Der Nationalsozialismus wollte die Weltherrschaft der Deutschen, er hat sie in ihr größtes moralisches und materielles Elend geführt. Der Kommunismus glaubte die Geschichte verstanden und die neue Zeit mit sich zu haben, hat sie aber seit 1989 hinter sich. Der liberale Westen glaubte, die Religion abgekühlt zu haben, aber er hat sie mit seiner kulturellen Globalisierung an verschiedenen Stellen wieder heiß gemacht. Der Irakkrieg sollte den islamischen Fundamentalismus beseitigen, er hat ihn aber gestärkt. Die moderne Verkehrstechnologie sollte die Erde verfügbar machen, ihr CO2-Ausstoß droht sie aber in Teilen unbewohnbar werden zu lassen. Die globalisierten Finanzmärkte sollten Wohlstand ermöglichen, ihre enge Vernetzung droht sie unbeherrschbar zu machen, der Euro sollte Europa endgültig einen und droht jetzt, zu seinem Sprengsatz zu werden.

Die katholische Kirche war immer fortschrittsskeptisch, aber aus einem eher zweifelhaften Grund. Sie glaubte, mit Hilfe ihres Zugangs zur Gottesmacht souveräne Herrin der Geschichte, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sein. Die klassische Moderne hat sie von diesem Thron gestoßen, das ist deren bleibendes Verdienst, aber viel besser wurde es dadurch lange nicht, eher im Gegenteil. Nie floss so viel Blut wie im vergangenen »Jahrhundert des Menschen«.

Die aktuelle Postmoderne glaubt daher auch nicht mehr an den Menschen, sondern an Technologien. Wir werden im entwickelten Westen nicht so sehr von politischen, also expliziten und offiziellen, sondern von technologischen, also klandestinen Umbauprozessen, die lange unterhalb der öffentlichen Bewusstseinsschwelle ablaufen, beeinflusst. Deren Konsequenzen und Verarbeitung sind den Einzelnen, ja ganzen Gesellschaften überlassen – mit individuell und gesellschaftlich ungewissem Ausgang. Das Neue an den neuen Zeiten ist also nicht, dass sie neu sind, das wäre trivial, sondern dass niemand so genau weiß, wie neu – und was dieses Neue bedeutet.

Wir leben in einer Gegenwart, die den Glauben an das Große und Ganze aufgegeben hat, und das nicht so sehr aus Unglauben, sondern aus Erfahrung, weil sich ihr Wahrheit eher in Splittern und Fragmenten, Überraschungen und neuen Unsicherheiten offenbart. Damit ist die Gegenwart vor allem eines: sich neu zur Entdeckung aufgegeben. Im gewissen Sinne wird unsere Gegenwart damit zum ersten Mal in eine radikale Präsenz, in einen radikalen Präsens gestellt. Sie wird sich selbst zur unbekannten Gegend. Ihre Entdeckung ist unsere erste Aufgabe im Umgang mit ihr.

Das ist eine signifikante Verschiebung. Dass sich die Opfer nicht lohnen, weder jene für den Kommunismus noch gar jene für den Faschismus und Nationalsozialismus, aber eben auch jene nicht, die auf Wissenschaft und Technik hoffen und ihnen alles geben wollen, das zeigt sich immer deutlicher und setzt sich bei immer mehr Menschen fest. Die Aufgabe der Gegenwart ist es also, diese Gegenwart überhaupt erträglich zu halten, für viele überhaupt erst erträglich zu machen: trotz der Ungerechtigkeiten, trotz der kulturellen, religiösen, ökonomischen Konflikte, trotz der, vergleicht man die Menschheitsgeschichte, unvorstellbaren kulturellen Beschleunigung und Verdichtung. Dazu müsste man sie aber überhaupt erst einmal genauer kennen. Der 11. September 2001 und die Finanzkrisen aber signalisieren: Das Wichtigste unserer Gegenwart taucht offenkundig plötzlich auf, schlägt zu und niemand hat damit gerechnet.

Es ist nicht mehr einfachhin möglich, die Gegenwart von einer mythologischen Vergangenheit oder von einer utopischen Zukunft her zu verstehen, unser Handeln mit einem göttlichen Auftrag zu rechtfertigen, eine ewige Ordnung zu verwirklichen oder mit einem menschlichen Auftrag, das Paradies auf Erden oder wenigstens eine Schwundform davon hier und heute zu errichten. Es geht vielmehr erst einmal darum, diese Gegenwart erträglich zu machen und lebenswert, obwohl oder gerade weil in ihr Menschen leben, die genau darin sich unterscheiden, wie sie diese Gegenwart verstehen, gestalten wollen und überhaupt schon begreifen.

Die einen empfinden in ihr immer noch einen religiösen, ja theokratischen Auftrag, die Piusbrüder etwa oder evangelikale Fundamentalisten oder radikale Islamisten. Die anderen sehen in ihr immer noch den Ort eines politischen (oder wissenschaftlichen) Heilsprojekts, die Vorsichtigen aber sehen in ihr eine unbekannte Gegend mit merkwürdigen Bewohnern: uns selbst und damit zuerst eine riesige und notwendig unabgeschlossene Entdeckungsaufgabe.

Die Entdeckung der Gegenwart und ihre Gestaltung als möglichen Ort menschlicher Existenz ist unsere Aufgabe und dieser Aufgabe kann man weder in die Utopie des ganz Anderen noch in die Sehnsucht nach dem reinen und guten Ursprung entkommen. Man kann ihr auch nicht, und das ist die dritte und meistgenutzte Fluchtmöglichkeit, durch Rückzug in eigene Konventikel und mehr oder weniger geschlossene Plausibilitätsgemeinschaften entfliehen. Politik ist nicht das Verwalten und gelegentliche Umformatieren des Gewohnten. Auch aus diesem Schlaf des Unpolitischen haben der 11. September und die Finanzkrisen gerissen. Die Politik schlägt zurück in der einen Welt, in der wir sind und die uns nie und nimmer in Ruhe lässt.

Wenn dem aber so ist, wenn der Wandel schneller und anders geschieht, als unser Begreifen und Planen es sich denken wollte, wenn wir also tatsächlich in ziemlich neuen kulturellen Gegenden leben, dann hat das Konsequenzen für das Nachdenken über Lage und Aufgabe der Kirche heute und gar über ihre Zukunft. Denn »(d)amit driftet die Inkulturation des Evangeliums hierzulande aus ihren modernen Festkörpern hinaus aufs offene Meer: (…) Nicht die Dialektik von Kontinuität und Unterbrechung, sondern das Ereignis, der jeweils nächste Schritt in einem unsicheren Gelände, wird zum neuen Inkulturationsort des Evangeliums.«10

 

Wenn

– die »post-modernen« Denker im Gefolge Nietzsches darin übereinkommen, auf der Basis ihres nüchternen Blicks auf die sich selbst zum Problem und illusionslos gewordene Moderne eines jedenfalls nicht mehr zu liefern, nämlich Stärke, Sicherheit und Ordnung,

– wenn immer plausibler wird, dass wir nicht die souveränen Herren der Zukunft sind, wie die Moderne es uns versprechen wollte,

– wenn wirklich gilt, dass die anti-dynamischen Nachfolgekonzeptionen der Vormoderne ebenso obsolet geworden sind wie die dynamisch-utopischen Fortschrittskonzeptionen der Moderne,

– wenn die eigentliche Aufgabe der Gegenwart nicht darin besteht, neue Kontinente zu entdecken, sondern zu entdecken, wo wir eigentlich gelandet sind,

– wenn also die heutigen Zeiten so neu sind, dass wir noch gar nicht begriffen haben, wie neu sie sind, und ebendieses Nichtbegreifen, genauer: die Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Nichtbegreifens das Neue darstellt,

dann muss eine dieser und nicht einer abstrakten Gegenwart verpflichtete Kirche vor allem eines sein: neugierig, aufmerksam und sensibel. Denn sonst weiß sie weder, an wen sie sich wendet, noch, wo sie überhaupt ist, noch, was das, was sie ihr zu sagen hat, für diese Gegenwart wirklich bedeutet.11

II. Die Vertreibung von der Macht

»Der Problemhorizont religiösen Erlebens ist die individuelle Lebensführung«.

Armin Nassehi1

1. Drei Thesen zur Erklärung der Lage der Religion

Dafür, wie man es mit der Religion in unseren Breiten hält, stehen gegenwärtig im Wesentlichen drei Erklärungsversuche zur Verfügung: die schon etwas ältere Säkularisierungsthese, die auch nicht mehr ganz junge Individualisierungsthese und die 2001 von Jürgen Habermas in Umlauf gebrachte »Postsäkularitätsthese«. Für alle drei Erklärungsansätze spricht einiges.

Die Säkularisierungsthese2 behauptet, dass Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung einen letztlich negativen Einfluss auf die Stabilität und Vitalität von Religionsgemeinschaften, religiösen Praktiken und Überzeugungen ausüben. Dafür gibt es einige Belege, vor allem wenn man, etwas enger, unter »Säkularisierung« das unbestreitbare gesellschaftsstrukturelle Phänomen versteht, dass religiöse Gehalte und Geltungsansprüche in den Privatbereich ausgelagert und im öffentlichen Bereich weitgehend neutralisiert werden.

Unter dieser Rücksicht sind westeuropäische Gesellschaften tatsächlich mehr oder weniger strukturell säkularisiert. Das muss man auch überhaupt nicht bedauern. Im Gegenteil: Der heiße historische Kern des europäischen Säkularisierungsprozesses sind schließlich die vielen Toten, welche die Religionskriege der frühen Neuzeit kosteten. Kein Wunder, dass danach die Gesellschaft begann, immer mehr ihrer Handlungssektoren religionsunabhängig zu machen. Das schafft Freiheit, auch den Mächtigen der Religion gegenüber: Alles andere nennen wir seit einiger Zeit im Übrigen Fundamentalismus.

Europäische Gesellschaften sind mit wenigen Ausnahmen3 freilich alles andere als säkularisiert, wenn man unter »Säkularisierung« die generelle Neutralisierung religiöser Gehalte, ihr grundsätzliches Verschwinden oder ihre generelle Entplausibilisierung in der Bevölkerung auf der Ebene der Einzelpersonen versteht. Schaut man sich die entsprechenden Daten an,4 dann gilt: Die christlichen Kirchen und zunehmend auch andere Religionsgemeinschaften bleiben wichtige Quellen individueller Lebensorientierung und Daseinsbewältigung, freilich unter der situativen Vorbedingung der Freiheitslogik der Einzelnen. Oder anders gesagt: Jeder hat die »säkulare Option« (Hans Joas). Die primäre Auseinandersetzungsebene um die Religion in europäischen Gesellschaften liegt im Übrigen weder auf der Ebene der strukturellen Säkularisierung noch auf jener der individuellen Freiheitslogik des Religiösen. Die Konflikte um die Religion vollziehen sich vielmehr zumeist im kulturellen Bereich der Werte, Normen und sozialen Objektivationen.

Die Individualisierungsthese, spätestens seit der Schweizer Studie »Jeder ein Sonderfall« aus dem Jahre 19935 religionssoziologisch sehr präsent, geht davon aus, dass »nicht ein Verlust von Religion – wie die Entwicklung von den Kirchen gerne wahrgenommen wird – stattfindet«, man vielmehr von einer »Neustrukturierung des Religionssystems und eine(r) Änderung der Äußerungsformen von Religion«6 ausgehen müsse. Diese aktuelle Umstrukturierung des Religionssystems vollziehe sich dabei offenkundig »am Leitfaden des Ichs«. Religion verschwinde also nicht in der späten Moderne, sie transformiere sich, sie werde vielmehr zum individuellen Projekt, das man je nach Lebenswegstrecke neu zusammenstellt.

Auch für diese These spricht einiges. Schließlich produzieren die erzwungenen Wahlbiografien der Gegenwart einen hohen Kontingenzbewältigungsbedarf. Wer viel entscheiden kann, muss viel entscheiden, riskiert viel und muss sich seine Entscheidungen auch noch anrechnen lassen. Wir leben tatsächlich emotional und sozial ziemlich absturzgefährdete Risikoexistenzen, zumindest wird das subjektiv so wahrgenommen. Wenn die Biografie immer mehr zum letzten Ort wird, an dem die disparaten Teile der Gesellschaft noch verbunden werden können und müssen, dann ist die Individualisierung von Religion nicht die Folge egozentrierten Hochmuts, wie das innerkirchlich bisweilen kommuniziert wird, vielmehr die unmittelbare Konsequenz der gesellschaftlichen Situation, in der wir leben.

Bleibt die These von der »Postsäkularität«, prominent vorgelegt von Jürgen Habermas in seiner Friedenspreisrede 2001.7 Es formuliert sich hier die Erkenntnis, dass die Religion »Ressourcen« für die individuelle Lebensführung, aber auch für Legitimation und Stabilität des demokratischen Verfassungsstaates bereithält, die ohne Religion nicht so einfach zur Verfügung stehen, oder, anders gesagt, dass religiöse Sprache nicht verlustfrei in nicht-religiöse Sprache übersetzt werden kann.

Das Europa der globalisierten Ära wird zudem mit Phänomenen der public religions8 konfrontiert, also einer neuen und neuartigen Sichtbarkeit des Religiösen im öffentlichen Raum. Moderne Gesellschaften sind ökonomisch und medial globalisiert, haben das Christentum als gesellschaftliche wie individuelle Herrschaftsreligion entmachtet und vertreten gleichzeitig die aktive Religionsfreiheit: Unter diesen Bedingungen kann man den öffentlichen Zeichen und Praktiken der Religionen nicht ausweichen.

Alle drei Ansätze zur Erklärung der religiösen Lage unserer Gesellschaft beschreiben reale Phänomene. Sie sind auch trotz ihrer diskursiven Alternativstellung durchaus harmonisierbar. Der zentrale Befund im Feld des Religiösen dürfte sein, dass sich Religion offenbar zunehmend nach jenem Muster vergesellschaftet, nach dem in dieser Gesellschaft immer mehr Lebensbereiche organisiert werden: nach den Mustern und Regeln des Marktes.

Religion individualisiert sich dabei auf der Nachfrageseite – jeder und jede kann sich seine/ihre persönliche Religion selbst zusammenstellen und tut dies auch –, aber auch auf der Anbieterseite: Einige ihrer Merkmale, etwa die Rhythmisierung des Alltags, die Bewältigung der Unberechenbarkeiten des Lebens, die ethische Normierung und die Bildung von »Glaubensgemeinschaften« wandern aus in andere kulturelle Handlungsfelder, so zum Beispiel in die Medien, in den »Kapitalismus als Religion« (Walter Benjamin) oder auch in eine neue (trivial-)ästhetisierende Kunstreligion um Museen und Pop-Events. Hans-Joachim Höhns »Theorie religiöser Dispersion« zeigt plausibel, inwiefern sich der »postsäkulare Fortbestand des Religiösen als ein mehrfacher Transformationsprozess vollzieht, der die Vermittlungsbedingungen religiöser Traditionen, die Sozialformen und öffentliche Präsenz gelebter Religion sowie die Verwendung ihrer semantischen und ästhetischen Ausdrucksformen außerhalb religiöser Kontexte umfasst.«9

Die Säkularisierungsthese hält dann die schlichte Wahrheit fest, dass sich niemand auf spezifische Märkte begeben muss und dass sich tatsächlich viele – in unterschiedlichen Ländern sehr unterschiedlich – gar nicht erst auf den religiösen Markt begeben. Die Säkularisierungsthese formuliert mithin die Freiheit gegenüber dem religiösen Markt. Die Individualisierungsthese hält dann die Freiheit im Markt fest. Auch wer sich auf den religiösen Markt begibt, behält seine Freiheit, wie es eben Kunden zusteht. Er behält sie diachron, denn er kann den Anbieter wechseln, und er behält sie synchron, denn er kann manches von verschiedenen Anbietern kombinieren, wie wir es in anderen Marktsektoren ja auch tun. Und er behält die Freiheit zu wechselnder Intensität, auch das entspricht normalem Kundenverhalten: Die These der »Postsäkularität« hält dann aber fest, dass es diesen Markt überhaupt noch gibt, dass er ziemlich stabil zu sein scheint und dass mit ihm weiter zu rechnen ist, wenn auch in Europa in durchaus unterschiedlicher Virulenz.

2. Konsequenzen für die Kirche

Das alles bedeutet nun, dass die katholische Kirche in unseren Breiten mit manifesten, nicht länger verdrängbaren Abstiegserfahrungen umgehen muss. Religion wird zunehmend weniger im kirchlichen Dispositiv vergesellschaftet, das Religion in Konzepten von Mitgliedschaft, Gefolgschaft und Macht organisierte und zudem davon ausging, dass sich die je individuelle Religiosität und die gemeinschaftlich gelebte, verfasste Religion, also Persönlichstes und Öffentlichstes, Intimstes und kirchliche Obrigkeit, wenn irgend möglich decken. Im Zuge der globalen Durchsetzung eines liberalen, kapitalistischen Gesellschaftssystems werden religiöse Praktiken in die Freiheit des Einzelnen gegeben und folgen damit vielen anderen, ehemals der Entscheidungsfreiheit des Individuums entzogenen Praktiken, etwa der Orts-, Kleidungs-, Berufsoder Partnerwahl.

Für die kirchliche Pastoralmacht markiert dies den definitiven Endpunkt eines einzigen Verlustwegs. Dieser führte vom Kosmos zur Kommunität und schließlich zum Körper. Die kosmisch codierte Interpretationsmacht des Christentums wird zuerst in Frage gestellt von Männern wie Galilei, Kopernikus und Kepler, der kirchliche Zugriff auf die (nicht-kirchliche) Kommunität ging mit dem bürgerlichen Gesellschaftsprojekt und somit im 19. Jahrhundert verloren, nachdem schon der Absolutismus des 18. Jahrhunderts sich zunehmend von kirchlichen Bestimmungshorizonten frei gemacht hatte. Zuletzt aber versuchte gerade die katholische Kirche, etwa über ihre Moralverkündigung, noch Einfluss auf den Körper zu nehmen, auf seine Praktiken und Techniken.10

Es herrscht aber auch nicht mehr das aufklärerische Dispositiv11 des Religiösen, das die Konsistenz religiöser Praxis und Inhalte vor der Vernunft anstrebte und von dieser Konsistenz her Religion beurteilte, manchmal auch verurteilte. Was herrscht, kann man vielleicht am ehesten als »autologisches Dispositiv« bezeichnen, als Organisation und Praxis von individueller Religion nach dem – durchaus nicht beliebigen und trivialen – individuellen biografischen Bedürfnis.12 Das folgt einer eigenen Logik, der Logik der prekären Lebensbewältigung auch mit Hilfe von Religion. Religion und eben auch Kirche werden damit aber unter ein individuelles Nutzenkalkül gestellt – und das gilt auch für praktizierende Katholiken und Katholikinnen.

Das trifft die katholische Kirche an einem zentralen Punkt ihrer neuzeitlichen Geschichte: ihrer institutionellen Lebensform. Diese institutionelle Lebensform ist gerade im katholischen Bereich mächtig und eindrucksvoll. Gegenwärtig aber muss die Kirche damit umgehen, dass mit ihr umgegangen wird und dass auch ihre stolze Institutionalität dies nicht verhindert. Bisweilen gilt gar: ganz im Gegenteil. Kirchliche Institutionen geraten damit unter den permanenten Zustimmungsvorbehalt ihrer eigenen Mitglieder. Es ist so nicht ganz ohne Logik, wenn mittlerweile die pastoral folgenreichste empirische Studie der letzten Jahre, die Sinus-Milieustudie13, von einem Marktforschungsinstitut, Sociovision, erstellt wurde und das lieferte, was man von einer Marktforschungsgesellschaft erwarten kann: einen Marktlagebericht. Und es ist auch nicht erstaunlich, dass gerade auf diesen Marktlagebericht innerkirchlich so sensibel reagiert wurde.

 

Schließlich schaut diese Marktlage für die katholische Kirche nicht sehr erfreulich aus. Sie ist offenbar nur noch in drei der hier definierten zehn Lebensstilmilieus halbwegs stabil verwurzelt, stößt in den anderen Milieus zunehmend auf Desinteresse oder gar Ablehnung, da man dort in ihr nicht zu finden glaubt, was man an Religion eventuell nachfragt. Die drei kirchlich affinen Milieus (die »bürgerliche Mitte«, die »Traditionsverwurzelten« und die »Konservativen«) sind zudem nicht sehr innovationsfreudig und keine gesellschaftlichen Trendsetter.

Nun gelingt es sicher vielen nicht-gemeindlichen Handlungsfeldern der Kirche, auch in anderen Milieus zumindest situativ und punktuell Fuß zu fassen: der Caritas etwa oder der Kategorialpastoral in Krankenhaus und Gefängnis oder auch dem Bildungssektor mit einer immer noch recht hohen Breitenabdeckung durch den Religionsunterricht. Dennoch wirkte der Sinus-Marktlagebericht in einer unter dem staatskirchenrechtlichen Rettungsschirm noch immer sehr gut lebenden Kirche zu Recht ernüchternd. Denn er beschreibt realistisch die teils drohende, teils bereits eingetretene kirchliche Kundendistanz. Es spricht freilich nicht unbedingt für die innerkirchlichen Kommunikationsverhältnisse, dass diese Milieukenntnisse nicht schon längst innerkirchlich durch die professionellen Erfahrungen des eigenen Personals bekannt wurden. Zumal dieses nicht nur analytische, sondern auch pastorale Milieukompetenz besitzt – zumindest dort, wo es seine Aufgabe erfüllt.