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2 Die Gemeindeleitungsproblematik im Kontext neuer Formen religiöser Vergesellschaftung

Das Christentum hatte sich seit der Spätantike als spezifisches Machtgebilde aufgefasst und entworfen, hat die Relevanz der eigenen Botschaft in eindrucksvolle, machtdichte Sozialformen seiner selbst umgesetzt. Das Christentum hat mit der „Pastoralmacht“302, so Foucault, eine völlig neue Form religiöser Organisation und mit ihr eine ganz neue Machtform entwickelt.

Mit dem Auseinanderbrechen der mittelalterlichen „christianitas“ in der Reformation begann nach dem Konzil von Trient für die katholische Kirche schließlich jener neuzeitliche Weg, der für sie geradezu charakteristisch wurde und zu einer massiven reaktiven Verdichtung der sozialen Organisationsform kirchlicher Pastoralmacht führte: Die Schübe kirchlichen Reichweitenverlusts wurden seitdem durch Verdichtung der verbliebenen Sozialräume kompensiert, Exklusion und Integration also miteinander verschränkt.303

Das Theorem der „societas perfecta“ formuliert dabei theologisch, was sich sozialgeschichtlich als der neuzeitliche Zwang zur „Organisation“ beschreiben lässt. Die Pianische Epoche der jüngeren katholischen Kirchengeschichte von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts kann als Höhepunktphase dieser Form nun vor allem innerkirchlicher Pastoralmacht verstanden werden.304 Mit der allmählichen Liquidierung des „katholischen Milieus“ in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts und mit der Freigabe zur religiösen Selbstbestimmung auch für Katholiken und Katholikinnen, als mithin die schon länger wirksame strukturelle Säkularisierung der bürgerlichen Gesellschaften auch in die kulturelle Realität der Katholiken und Katholikinnen einwanderte, geriet nun aber die kirchliche Pastoralmacht in ihre aktuelle Krise.

Im gewissen Sinne findet gegenwärtig nichts weniger als die Verflüssigung der Kirche als eines sozialen Herrschaftssystems statt.305 Religiöse Praktiken werden im Zuge der globalen Durchsetzung eines liberalen, kapitalistischen Gesellschaftssystems in die Freiheit des Einzelnen gegeben306 und folgen damit im Übrigen nur vielen anderen, ehemals der Entscheidungsfreiheit des Individuums entzogenen Praktiken, etwa der Orts-, Berufs- oder Partnerwahl.

Auch in europäischen Gesellschaften mit starken, rechtlich wie finanziell privilegierten Kirchen und selbst für Katholikinnen und Katholiken gilt nun immer mehr, was etwa in der US-amerikanischen Gesellschaft auf Grund der ganz anderen religionspolitischen Vorgeschichte schon immer galt: Die Machtverhältnisse zwischen Individuum und den ehemals mächtigen Verwaltern der Religion haben sich umgedreht. Nicht mehr das Individuum richtet sein Leben nach den mehr oder weniger selbstverständlich übernommenen religiösen Vorgaben, sondern die aktuellen religiösen Praktiken werden nach den individuellen biografischen und existentiellen Bedürfnissen gewählt, und das stets ohne Rücksicht darauf, was die ehemals diskurs- und biografiedominierenden Instanzen der Religion als kohärent, notwendig und geltend erachten. Dieser Machtwechsel aber schreibt sich beiden, Individuen und Kirchen, unmittelbar ein.

Die katholische Kirche muss in unseren Breiten mit nichts weniger als dem Zusammenbruch ihrer altbewährten machtgestützten Formation zurechtkommen. Religiöse Praktiken werden unter ein individuelles Nutzenkalkül gestellt. Das gilt seit einiger Zeit auch für Katholiken und Katholikinnen.307 Ein „großer Teil des religiösen Pluralismus“, so Karl Gabriel, „spielt sich … unter dem Dach der großen Kirchen ab.“308

Das Nutzungsmuster von Kirche hat sich damit grundsätzlich gewandelt. Alle kirchlichen Handlungsorte geraten heute unter den permanenten Zustimmungsvorbehalt ihrer eigenen Mitglieder.309 Die Mehrheit der KatholikInnen nutzt die Kirche als „Kasualienfromme“310, fragt aktiv nur Ritualbegleitung an den Lebenswenden ab.311 Zudem wächst der Anteil jener, der nicht einmal dies mehr tut. Eine einschlägige Studie zum Themenfeld, der MDG-Trendmonitor 2010 „Religiöse Kommunikation“312, offenbart einmal mehr die mittlerweile breit dokumentierten Befunde einer grundsätzlichen Umstellung in der Kirchenbindungsstruktur und akzentuiert dies noch einmal generationenspezifisch, insofern er verdeutlicht, dass sich bei den jungen Kirchenmitgliedern keineswegs ein Gegentrend abzeichnet – im Gegenteil.

Wie nun zeigt sich der c. 571 § 2 in diesem Kontext? Im Lichte des epochalen Machtwechsels im Verhältnis von Individuum und religiösen Institutionen erscheint der c. 571 § 2 in einer merkwürdigen Doppelgestalt. Einerseits wirkt er als von diesem Machtwechsel scheinbar gänzlich unberührte, dekontextualisierte innerkirchliche Angelegenheit, die eine komplexe Ausnahmeregelung im Priester-Laien-Verhältnis vornimmt, dabei aber ein entscheidendes Merkmal religiöser Partizipation heute, ihre strikte Freiwilligkeit, außen vor lässt und im gewissen Sinne so tut, als ob die Standesherrschaft der Priester über die Laien noch selbstverständlich wäre, weswegen es Notlagen und manche theologischen Umwegargumentationen braucht, um sie an gemeindlichem Ort zumindest ein wenig zu relativieren.

Dass solch ein dekontextualisierter Diskurs möglich ist, der Laien, im Sinne des religiösen Marktes also die potentiellen Kunden, ganz selbstverständlich in eine untergeordnete Position gegenüber Priestern bringt, kann nun seinerseits wieder vieles bedeuten, etwa, und am naheliegendsten, dass die neue, kundenabhängige Lage der Kirche noch nicht wirklich in deren reflexives Bewusstsein gedrungen ist und sie sich immer noch im Zustand selbstverständlicher Herrschaft über ihre Mitglieder glaubt, einem Zustand, der bestenfalls gnädige Ausnahmeregelungen ihnen gegenüber erlaubt. Oder, wahrscheinlicher, dass die (gesetzgeberisch) Verantwortlichen der katholischen Kirche diese neue Lage zwar realisiert haben, der katholischen Kirche aber keine angemessenen Reaktionsmechanismen zur Verfügung stehen, darauf kreativ zu reagieren. Oder der c. 517 § 2 ist vielleicht die verschämte, also mehr oder weniger verschwiegene und versteckte Reaktion auf die neue kirchliche Lage.

Der dekontextualisierte Diskurs zum c. 517 § 2 macht aber auch auf eine spezifische Verschiebung im Rahmen dieses Machtwechsels aufmerksam: Zwischen Hauptamtlichen aller Art und den übrigen Mitgliedern der römisch-katholischen Kirche verläuft, anders noch als zu Zeiten des katholischen Milieus, heute eine höchst relevante Grenze. Hauptamtliche sind die letzten Laien, für welche die Freiwilligkeit und Offenheit religiöser Partizipation nicht gilt und klerikale Anweisungsmacht zumindest in erheblichen Resten noch besteht. Alleine die hauptamtlichen Laien sind unter einer gewissen priesterlichen Aufsichtsmacht verblieben. In diesem spezifischen innerkirchlichen Kontext und gegenüber Laien-Hauptamtlichen erscheint dann der c. 517 § 2, wiewohl er ja Laien einen gewissen Anteil an priesterlichen Statusrechten gibt, durch den Ausnahme- und Defizitcharakter, den er stets mitkommuniziert, als spezifischer Ausläufer eben jenes klerikalen Herrschaftsanspruchs.

Freilich, es gibt in diesem Zusammenhang noch einen ganz anderen, geradezu gegenteiligen Aspekt der neuen Lage der Kirche und er betrifft nun nicht das professionelle Innen, sondern eher das interessierte Außen. In postmodernen religiösen Kontexten und also auf dem religiösen Markt, der ja weniger dauerhafte Mitgliedschaft als situative, temporäre und intensitätsorientierte Partizipation kennt, besitzen profilierte, eigenwillige, sozusagen merk-würdige Angebote durchaus spezifische Marktchancen. Priesterliche Monopolismen, die den Priester gar sazerdotal im Gestus eines „heiligen, unberührbaren Mannes“ aufladen, entwickeln gerade in einer ansonsten strukturell säkularisierten und kirchlicher, ja religiöser Autorität entwöhnten Gesellschaft in gewissen, eng umschriebenen, aber nicht bedeutungslosen Kreisen durchaus eine gewisse Attraktivität.313

In dieser Perspektive erscheint dann der c. 517 § 2, wie überhaupt schon die Anstellung und liturgische Aufgabenbetrauung von theologisch qualifizierten LaienmitarbeiterInnen, als Aufweichung der doch so eindrucksvoll unzeitgemäßen priesterlich-sazerdotalen, nicht ins Belieben des Volkes und damit jedermanns, sondern in die Heiligkeit eines ewigen göttlichen Willens gestellte Verfasstheit der katholischen Kirche.

3 Die Gemeindeleitungsproblematik im Kontext der professionellen Struktur der deutschen Kirche

Wie nun zeigen sich die Gemeindeleitungsproblematik und speziell der c. 517 § 2 im Kontext der klassisch pastoraltheologischen Frage nach Konzeptionen und Realität – beides ist bekanntlich alles andere als identisch – der kirchlichen basisnahen Organisationsformen in den letzten Jahrzehnten?

Das dominierende pastoralkonzeptionelle Modell für die Basisorganisation der katholischen Kirche der letzten Jahrzehnte war das Konzept der „lebendigen Gemeinde“. Die Ende des 19. Jahrhunderts zuerst im evangelischen Bereich entstehende Gemeindetheologie314 wollte intensive interne Kommunikation und Fürsorge sicherstellen. „Organisatorisch bedeutet dies eine Unterteilung der Gemeinde in immer kleinere Bezirke – denn zum einen sollte jedes Mitglied erfasst, gekannt und betreut werden“, zum anderen wollte man „eine auf persönlicher Kenntnis beruhende Gemeinschaft der Gemeindemitglieder untereinander.“315

Es hat gedauert, bis die quasi familiär verbundene Gemeinde zur Basis katholischen Organisationsdenkens wurde, letztlich geschah das erst Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Beispielhaft hierfür steht Ferdinand Klostermanns Parole „Unsere Pfarreien müssen zu Gemeinden werden“316 aus der offiziösen Handreichung „Gemeinde“ für den pastoralen Dienst aus dem Jahre 1970. „Gemeinde“, das war hier konzipiert als Nachfolgestruktur der als anonym, bindungs- und entscheidungsschwach wahrgenommenen volkskirchlichen Pfarrstruktur.317

 

Was real geschah, war freilich etwas ganz anderes. Zwar wurde die alte volkskirchliche und rein kirchenrechtlich definierte Territorialpfarrei mit gemeindetheologischen Kategorien aufgeladen, andererseits kam es ganz gegenläufig zu einem realen Funktionsverlust der Gemeinden im Zuge der pastoralen Professionalisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse der 1970er und 1980er Jahre.

Die Gemeindetheologie der 1960er Jahre zeigt sich als Versuch, in Zeiten der beginnenden Freisetzung zu religiöser Selbstbestimmung auch von Katholikinnen und Katholiken die katholische Kirche von einer amtszentrierten Heilsinstitution zu einer quasi-familiären Lebensgemeinschaft umzuformatieren. Durch Aufbau, Ausbau und theologische Unterfütterung einer spezifischen Sozialform von Kirche sollten die freiheitsbedingten Erosionsprozesse kirchlicher Konstitution gestoppt werden.

Das offenkundige Scheitern dieser Konzeption318 wird gegenwärtig vor allem im Zusammenhang mit der Bildung immer größerer pastoraler Räume diskutiert. Es stimmt ja tatsächlich: Alle aktuellen pastoralplanerischen Initiativen lösen das klassische „Normalbild“ einer um den Pfarrpriester gescharten, überschaubaren, lokal umschriebenen, kommunikativ verdichteten Glaubens- und Lebensgemeinschaft auf.

Unter den gegenwärtigen kirchenrechtlichen Bedingungen können die Pastoralämter gar nicht anders. Denn wenn man immer weniger zur Leitung privilegiertes Personal in einer hierarchischen Organisation hat, dann muss man es logischerweise auf einer höheren Organisationsebene ansiedeln. Wie man dann diese Ebene nennt, das ist demgegenüber relativ gleichgültig. Wichtiger scheint schon, wie man die Beziehung dieser ersten priesterlichen Ebene zur zunehmend entklerikalisierten und zudem zunehmend von professionell ausgebildeten pastoralen Laien dominierten Basis dann organisiert und konzipiert. In diesem Kontext wird ja dann auch der c. 517 § 2 relevant.

Für die Kirchenleitungen ergibt sich daraus jenes „Gemeindeleitungsdilemma“, entweder die Zulassungsbedingungen zum Priesteramt unverändert zu lassen, dann aber den Umbau der gewohnten priesterlichen Rolle zu akzeptieren, oder aber die Zulassungsbedingungen zum Weihepriestertum zu ändern, was zwar wohl ermöglichen würde, die gegenwärtige pastorale Struktur aufrechtzuerhalten, aber natürlich ein massiver Wandel in der bisherigen Tradition und vor allem der Selbst- und Fremdwahrnehmung der katholischen Kirche wäre, ein Wandel, der vor allem in seinen sozialpsychologischen Konsequenzen nicht zu unterschätzen wäre. Wofür sich die Kirchenleitung gegenwärtig entscheidet, trotz vieler Appelle, doch die Zulassungsbedingungen zum Weihepriestertum zu ändern, etwa von pastoraltheologischen319 und systematisch-theologischen Kollegen,320 Gemeindemitgliedern,321 Priestern322 und sogar Bischöfen,323 ist offenkundig.

Die Zulassungsbedingungen zum Weihepriestertum werden der katholischen Kirche ohne Zweifel noch viele Probleme bereiten, zumindest dann, wenn sie Wert darauf legt, weiterhin in den Gesellschaften des Westens inkulturiert zu bleiben. Die Gemeindetheologie wäre aber auch ohne die Verknappung der Priesterzahlen gescheitert, zuletzt vor allem an ihrem Charakter als halbierte, ja selbstwidersprüchliche Modernisierung und auch schon an ihrer systemwidrigen Verbindung mit der eigentlich volkskirchlichen und gerade nicht Partizipationsintensität voraussetzenden Territorialstruktur.324

Die Gemeindetheologie steht in der neuzeitlichen Tradition katholischer Kirchenbildung: Sie denkt Kirche über eine spezifische Sozialform, also von ihrem institutionellen Pol her, nicht aber über pastorale Inhalte, also von ihrem Handlungs- und Aufgabenpol her. Dieser wird in ihr immer noch mit einer gewissen Selbstverständlichkeitsaura umgeben. Es hat gute Gründe, dass gerade zu den Hochzeiten der Gemeindetheologie die nicht-gemeindlichen, nicht-familiaristisch vergemeinschafteten Handlungssektoren der Kirche, also etwa Diakonie, Kategorialpastoral, so massiv ausgebaut wurden. Offenkundig war schon damals klar, dass der Slogan „Kirche ist Gemeinde“ schlicht nicht funktioniert und, würde man ihn konsequent realisieren, zu einer massiven Reichweitenbegrenzung kirchlichen Handelns führen würde. Wie stark diese im gemeindlichen Bereich ausfällt, das wurde spätestens seit der Sinus-Milieustudie und ihrem Befund der kirchlichen, genauer: gemeindlichen „Milieuverengung“ (Ebertz)325 deutlich.

In der Perspektive der bis vor kurzem gültigen gemeindetheologischen Ideale und im Rahmen des durch die Zulassungsbedingungen zum Weihepriestertum verursachten Gemeindeleitungsdilemmas erscheint der c. 517 § 2 nun aber als etwas verschämter Ausweg, die gemeindetheologischen Ideale aufrecht zu erhalten, ohne die Zulassungsbedingungen zum Weihepriestertum ändern zu müssen. In dieser Perspektive ist der c. 517 § 2, wie etwa Johannes Panhofer schreibt, „ ‚heilsamer Unsinn‘ “ als „Not- und Übergangslösung zu einer neuen Gestalt von Gemeinde“.326 Panhofer geht gar so weit, dem Kirchenrecht hier die „Rolle einer Geburtshelferin“ zuzugestehen, die es ermögliche, „in einem geregelten Rahmen etwas Neues (also Ungeregeltes) entstehen“327 zu lassen.

Nicht zu übersehen ist zudem, dass der c. 517 § 2 im gemeindlichen Bereich in reduzierter Form nachvollzieht, was an anderen pastoralen Orten, etwa der Caritas, dem Bildungsbereich oder selbst der Kategorialpastoral, schon seit längerem passiert ist: den Prozess der Entklerikalisierung, meist auch der Professionalisierung pastoraler Berufe in einer ressourcenreichen Ortskirche. Während dieser Prozess etwa im Schulbereich oder bei der Caritas relativ friktionsfrei lief, wachsen jetzt, bei der Gemeindeleitung, bei der letzten verbleibenden Bastion priesterlichen Berufsmonopols auf Basisebene, die Sorgen um die priesterliche Identiät, fürchtet man „Ersatzpfarrer“.328 Das dürfte, wenn nicht alles täuscht, auch der Hauptgrund sein, warum im deutschsprachigen Bereich die Experimente mit dem c. 517 § 2 seitens der Kirchenleitungen trotz zunehmenden Priestermangels zugunsten der Bildung größerer pastoraler Räume zurückgefahren wurden.

Dass alle Laien abwertenden Initiativen zur priesterlichen Identitätssicherung organisationspsychologisch eher fatal wirken, insofern sie eine höchst ambivalente Doppelbotschaft senden, sei hier nur am Rande vermerkt. Denn wer so gestärkt werden muss, wird als schwach identifizierbar. Überhaupt gilt ja: Wer Identitätsprobleme als zu lösende Anormalität behandelt, macht sie unter postmodernen, also fluiden Bedingungen unlösbar.

4 Die Gemeindeleitungsproblematik im Kontext der konziliaren Neudefinition von Kirche

Wie aber zeigt sich der c. 517 § 2 im Kontext der Ekklesiologie des II. Vatikanums? Nun gibt es Kirchenrechtler, die der Ansicht sind, „der CIC sei das letzte Buch des Konzils, vom Papst promulgiert und deshalb der hermeneutische Schlüssel zur Auslegung der Konzilstexte“329. Manche systematische Theologen wiederum sprechen von einer zwiespältigen Ekklesiologie des Konzils330 und es gibt auch Anstrengungen, unter dem grundsätzlich bedenkenswerten Stichwort einer „Hermeneutik der Kontinuität“ – schließlich knüpft das Konzil bekanntlich an biblische und patristische Traditionen an – dieses in seiner Eigenständigkeit zu minimieren, sein innovatives Potential zu schmälern331 und seinen „dogmatischen Fortschritt“332 zu leugnen.

Demgegenüber möchte ich meine Position hier klar markieren: Sie geht von der Priorität des Konzils vor dem Kirchenrecht, von der grundsätzlichen Konsistenz und Einheit seiner Ekklesiologie und von der Eigenständigkeit, dem innovativen Potential und dem dogmatischen Fortschritt seiner Positionen aus.

All dies betrifft unsere Fragestellung unmittelbar. Denn das Konzil etabliert in zentralen Bereichen unserer Fragestellung neue Zuordnungen. Ich möchte sie als dreifachen Horizontwechsel beschreiben. Diese Wechsel betreffen die Stellung der Kirche in der Welt, die Stellung des Priesters in der Kirche und die Stellung der Kirche zu ihrem Handeln.

Hinsichtlich der Stellung der Kirche in der Welt gilt: Die katholische Kirche definiert sich auf dem II. Vatikanum nicht mehr im Horizont der feindlichen Welt, sondern die Welt im Horizont des universalen kirchlichen Heilsauftrags. Sehr schön zugespitzt findet sich das in Gaudium et spes 44, wo es heißt: „Ja selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger, so gesteht die Kirche, war für sie sehr nützlich und wird es bleiben.“ Das feindliche moderne Außen ist also nicht der Ort, wo die Kirche sich verliert, sondern wo sie sich findet und zwar über die problem- und handlungsorientierte Entdeckung ihrer eigenen Botschaft. Dogmatische Basis hierfür ist die konziliare Lehre von der Berufung aller Menschen durch Gott in Christus, einer Berufung,333 welche die Kirche zu bezeugen hat, die ihr aber selbst vorgängig ist und der sie also zu dienen, die sie nicht zu verwalten hat.334

Hinsichtlich der Stellung des Priesters in der Kirche gilt: Die katholische Kirche definiert sich auf dem II. Vatikanum nicht mehr im Horizont des Weihepriestertums, sondern das Weihepriestertum im Horizont des priesterlichen Volkes Gottes. Oder um es knapp und präzise mit den Worten Elmar Klingers zu sagen: „Auf dem II. Vatikanum ist der Platz des Priesters in der Kirche nicht die Hierarchie, sondern das Volk Gottes.“335

Alle in der Kirche stehen auf der gemeinsamen Basis des einen Auftrags, dieses Volk Gottes zu sein. Die Kirche ist für das Konzil das in Christus versammelte Volk Gottes auf dem Weg zu Gott. „Der große Durchbruch des Zweiten Vatikanums, sein Sprung nach vorn, ist das zweite Kapitel der Konstitution Lumen gentium über das Volk Gottes. Das Konzil benennt mit dem Ausdruck die Kirche insgesamt. Er meint alle ihre Mitglieder – groß und klein, hoch und niedrig, alt und jung“336 – so Elmar Klinger.

Es gibt eine Einheit der ganzen Kirche vor allen hierarchischen Stufungen. Das amtliche Priestertum ist von seiner Zuordnung zur Gesamtkirche her zu sehen. Das Konzil hat denn auch in seinen Diskussionen den Klerikalismus als Standesherrschaft der Priester über die Laien immer zurückgewiesen.337

Freilich ist zuzugeben, dass die konziliar kritisierte klerikale Monopolisierung kirchlichen Handelns nachkonziliar nach und nach wieder ein wirksameres Ordnungsmodell kirchlicher Realität zu werden begann338 und dies wohl nicht zuletzt auf der Basis des 1983 eingeführten neuen CIC. Immerhin hält Norbert Lüdecke über diesen fest: „Der CIC schafft mit dem Material des II. Vatikanischen Konzils eine kirchliche Ordnungsgestalt, welche die Ekklesiologie des Ersten unbehelligt lässt und zusätzlich abstützt.“339 Mag Lüdeckes Aussage auch eine zugespitzte Interpretation des Verhältnisses des CIC 1983 zum II. Vatikanischen Konzil sein,340 sie formuliert zumindest eine Kirchenrechtsinterpretation, die zunehmend an Einfluss gewinnt und dem Versuch einer faktischen Reklerikalisierung der kirchlichen Wirklichkeit Vorschub leistet, wie es auch diverse Instruktionen tun.341

Hinsichtlich der Stellung der Kirche zu ihrem Handeln aber gilt: Die katholische Kirche definiert ihre Pastoral nicht mehr im Horizont ihrer kirchlichen Institutionalität, sondern ihre Institutionalität im Horizont ihres pastoralen Grundauftrages. Das Konzil stellt der Kirche die Aufgabe, „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen gentium 1) und so das „allumfassende Sakrament des Heiles“ zu sein, „welches das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht“ (Gaudium et spes 45).

Die polare Einheit von „offenbaren“ und „verwirklichen“ formuliert nichts weniger denn eine „pastorale“ oder, philosophisch gesprochen, eine „pragmatische Wende“342 in der katholischen Ekklesiologie, also eine handlungsbezogene Reformulierung der kirchlichen Lehre von sich. Denn es heißt: Die Kirche offenbart diese Liebe, indem sie diese verwirklicht, in Wort und Tat, in Hingabe und Selbstlosigkeit. Allein schon dass man, bekanntlich nach langen Kämpfen und Auseinandersetzungen, eine „Pastoralkonstitution“ in die Quadriga der zentralen Konzilstexte aufnahm und damit den Pastoralbegriff mit dem Offenbarungs-, dem Kirchen- und dem Liturgiebegriff auf die gleiche Ebene stellte, belegt dies.

 

Das II. Vatikanum bedeutet eine echte Revolution im Pastoralbegriff der Kirche.343 Es überwindet nicht nur individualistische Engführung auf „Seelsorge und Seelenführung“ und die klerikale Engführung auf die Priester, vor allem überwindet es einen Begriff von Pastoral, der sie als sekundär gegenüber der Kirche und ihrer Lehre fasst.344

Operativer Zentralbegriff für diese pastorale Wende aber ist die Kategorie der „Zeichen der Zeit“ (Gaudium et spes 4),345 welche nicht irgendwelche mehr oder weniger zufälligen Kontextbedingungen kirchlichen Handelns meint, sondern die säkularen Herausforderungen, an denen sich das Evangelium zu bewähren hat, weil das Volk Gottes in ihnen Sinn, Bedeutung und Handlungskonsequenzen des Evangelium situativ neu entdecken muss.

Gegenüber der konziliaren Trias von Volk-Gottes-Theologie, gesamtheitlichem, existenzlegitimierendem Pastoralbegriff und pastoraler „Zeichen der Zeit“-Orientierung wirkt der c. 517 § 2 nun aber wie der ebenso ungeliebte wie ein wenig überraschende Versuch des Kirchenrechts, die de facto Vernachlässigung der Volk-Gottes-Theologie im CIC 1983 durch einen explizit nicht-theologischen, rein pragmatisch346 begründeten Öffnungsbeschluss an sensibler Stelle ein klein wenig zu relativieren.

Denn natürlich würde spätestens die offiziell nicht vorgesehene, hier und da aber versuchte347 relativ weiträumige Anwendung des c. 517 § 2 die Erlebnisrealität kirchlichen Handelns – zumindest in Europa348 – massiv verändern und einen Hauch von Volk-Gottes-Realität in den kirchlichen Innenbereich wehen lassen.

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