Der Sound Gottes

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Das Wort ist durch seine Druckbarkeit und durch die liturgischen Slots produktförmig geworden. Dadurch kann es rasch und massenhaft zu den Empfängern gelangen. Der Empfänger sind viele, und sie sind durch die Produktförmigkeit erst einmal alle gleichgesetzt. Das stimmt insofern, als alle gleichermaßen Menschen sind und gleichermaßen vom Erkenntniszweifel geplagt. Es stimmt insofern nicht, als jeder Mensch und jeder Zweifel individuell ist. Die Individualität muss adressiert werden. Wie immer in der Psychologie des Massenprodukts geschieht das durch das Design, das die emotionale und die motorische Aktivität des Empfängers aktiviert. Diese Aktivität lässt ihn das Produkt als das individuell für ihn gemachte Ding erscheinen. So kaschiert das Produkt seine Produktförmigkeit. Hier wird deutlich, was das „Transportmittel“ Musik, wie wir es genannt hatten, in Wahrheit ist: Es ist das Design des vorliegenden Wortes Gottes, das die Vorlage beim Empfänger ins Performative überführt und in ihm die Individualisierung bewirkt, die für die Überwindung des Erkenntniszweifels so dringend erforderlich ist.

1.5 Lieder, Lieder, nichts als Lieder

Die Musikstreaming-Portale bieten Songs an, nichts als Songs. Was im Detail sich auch immer hinter den Millionen Tracks an Musik verbirgt, drei Strophen Ännchen von Tharau gesungen vom Männerchor Remptendorf 1843 e.V., ein zwölfminütiges Instrumentalstück von Pink Floyd, ein halbstündiger Satz einer Brucknersymphonie, Regenplätschern zum Einschlafen im Auto repeat oder Luthers Aus tiefer Not schrei ich zu dir, alles firmiert als Song.

Songs sind eine überschaubare musikalische Einheit. Die Timeline markiert einen Anfang und ein Ende mit dem Gegenwartspunkt, der vom linken zum rechten Ende läuft. So sind Lieder. Sie haben einen Anfang und ein Ende, dazwischen drei, fünf, zwölf oder dreißig Minuten Musik. Die uniformierende Frechheit, alle Audios einer Datenbank einfach als Song zu labeln, bringt es an den Tag: Wenn eine Audiodatei startet, durchläuft und nach plus/ minus drei Minuten vorbei ist, dann wird es ein Lied gewesen sein.

Gegenproben: Vom Gottesreich wird der Schleier weggezogen und der Gesang der Engel hörbar (wie in Jesaja 6,3 oder Lukas 2,14, den zwei klassischen Bibelstellen der Engelsmusik) – fangen die Engel dort etwa erst nach Dirigenteneinsatz oder Mausklick an zu singen? Und ist die Timeline nach drei Minuten durchlaufen? Was für eine groteske Vorstellung. Sie haben schon immer und ewig gesungen und wir dürfen jetzt mal kurz reinhören. Bedauerlicherweise gibt der historisch-kritische Wortlaut das Singen ohne Unterlass an den beiden Stellen nicht ausdrücklich her, aber die kirchliche Tradition behauptet es durchweg und wird hier doch ausnahmsweise einmal recht haben. Die Sphärenharmonie – trällert sie, wenn sie denn laut den Pythagoreern wirklich Sound absondern sollte, ein Liedchen? Lächerlich. Als wäre der Weltenlauf in knapp fünf Minuten vorüber. Die Orakelpriesterin in Delphi oder Cumae – hat sie geweissagt, indem sie ein Lied sang? So ein Orakel hätte niemand ernst genommen. Die Priesterin war schon im Modus des Orakelns, bevor der Sterbliche die Grotte betrat, und sie blieb es noch, als er wieder draußen war.

Wieder einmal Luther hat es uns eingebrockt, dass die Gottesdienste musikalisch vollgestellt sind mit Liedern. Erst das Eingangslied, dann das Glorialied, dann das Wochenlied, dann ein Predigtlied, dann Lieder während des Abendmahls. Obendrein spielen der Posaunenchor und die Jugendband – Songs. Das Gesangbuch: nichts als Lieder, Hunderte davon. Strophe, Strophe, Refrain, Strophe, Refrain, Strophe, der Text bedarfsgerecht abgefüllt in Packungsgrößen von vier bis acht Zeilen, symmetrisch sortiert nach Reim und Metrum, so handlich ist die Urgewalt des Evangeliums bei Luther geworden.

Gehen wir in die Worship-Szene, scheint es beim ersten Hinhören ein paar Freiheitsgrade mehr zu geben. Die Strophen sind amorpher, das Kreiseln zwischen Strophe und Refrain uferloser. Die Hook kommt öfter und flashartig. Von der Unendlichkeit der Sphärenharmonie aber sind auch diese Songs weit weg. Nach sechs, sieben Minuten spätestens ist der Track abgelaufen. Die Musik und die Bühnenscheinwerfer stellt er gleich mit aus, sie sind in die Playersoftware integriert. Und nüchtern auf dem Papier betrachtet sind es die drei oder vier immer gleichen Textbausteine, die in einem Worship-Song scheinbar endlos zusammengesteckt werden, bis dann der Pastor langsam aus dem Off auf die Bühne tritt und signalisiert, jetzt bin ich dran. Ein Worship-Song ist und bleibt ein Song, die mosaikartige Kleinteiligkeit mag Unendlichkeit suggerieren, wie sie will.

Es wäre ungerecht zu behaupten, die Kirchenmusikgeschichte sei mit Liedern verstopft. Gewiss gibt es abendfüllende Oratorien, die nicht nur wiederum aus Songs bestehen wie die abendfüllenden christlichen Musicals. Aber sie sind an den sozialen und räumlichen Rand der Kirche gedrängt und stehen mit einem Bein im Verein und im Konzertsaal. Es gibt gewiss ausufernde Orgelfantasien, die mit einem Lied formal nichts zu tun haben, sofern sie nicht in der Fantastik doch einen cantus firmus verstecken. Aber auch sie stehen am Rand des Gottesdiensts. Mit einem Bein vor dem Gottesdienstbeginn und mit dem anderen nach dem Gottesdienstende bevölkern sie den Transitbereich zwischen Kirche und Außenwelt. Mittendrin stehen die Lieder. Fakt ist, in der Herzkammer der evangelischen Frömmigkeit gibt es Lieder, Lieder, nichts als Lieder.

Wieder einmal Luther also hat uns das eingebrockt, als er an die Stelle der Stücke der katholischen Messliturgie Lieder setzte. Bereits in der Formula missae et communionis von 1523 empfiehlt er, liturgische Stücke wie das Graduale, das Sanctus und das Agnus dei durch ein deutsches Lied mindestens zu ergänzen. Gesucht seien fähige Poeten, die entsprechende deutsche Texte liefern könnten. Dass neue Texte liedförmig sein und nichts mehr mit der Prosa der katholischen Liturgie zu tun haben würden, muss er nicht eigens dazusagen. Seine eigenen Gesänge, die er in der Deutschen Messe von 1526 dann vorschlägt, sind, wenig überraschend: Lieder.

Wir haben klar ins Auge zu fassen, welcher Paradigmenwechsel in der Performanz des Wortes Gottes hier stattfindet. Die katholische Liturgie der Messe und der Stundengebete war immer schon portioniert in Stücke, die eine ähnliche Länge haben wie ein Lied. Aber es gibt zwei fundamentale Unterschiede: Sie hat erstens keine Form, die die poetische Gesamtstruktur eines Stücks regeln würde analog zur poetischen Struktur einer Liedstrophe. Ihre Form ergibt sich nicht aus einem poetischen Text; die textliche Materialität ist die mehr oder weniger naturbelassene Bibelprosa. Aber auch eine poetische Textgestaltung hätte auf die relevanten performativen Formmerkmale des liturgischen Stücks keinen Einfluss. Sie ergibt sich aus einem geregelten Wechsel von Sprechern und der Sprechhaltungen. Und zweitens lässt sie dem Liturgen keine Wahlfreiheit, ob heute dieses oder jenes Stück besser passt. Anders als das protestantische Bausteinverfahren hat sie aus Prinzip keinerlei Neigung, auf die Situation vor Ort einzugehen. Sie sieht für einen bestimmten Termin im Kirchenjahr ein bestimmtes Stückchen göttliche Offenbarung vor, die ohne Anpassung an die Situation vor Ort zur Erscheinung gebracht wird. Man kann darin eine kuriose und konsequente Art sehen, den Vorhang vom Gottesreich zu lüften.

Lieder sind diesem liturgischen Denken fremd. Die ganze historische Wahrheit ist zwar ein bisschen komplizierter, aber eben nur ein bisschen, und am Ende werden wir wieder bei der Sentenz landen: Die Lieder des evangelischen Gottesdiensts sind keine göttliche Offenbarung. Sie stehen grundsätzlich auf der anderen Seite, der menschlichen. Und das nicht nur aus katholischer Sicht, sondern in einer viel grundlegenderen Perspektive.

Zur historischen Wahrheit gehört, dass die katholische Kirche seit je Lieder in den Gottesdienst aufnahm. In jedem Stundengebet wird ein Hymnus gesungen. Die Antiphonen, die den Psalmversen entgegengestellt werden, haben manchmal eine liedartige Poetik. Je deutlicher aber die Liedhaftigkeit ist, desto tiefer wird die Bipolarität von Vers und Antiphon unterminiert und die Antiphon zu einem selbstständigen Stück, so bei den Marianischen Antiphonen, die letztlich Lieder sind. Weiter, jedem liturgischen Stück kann ein Lied folgen. Das singt dann allerdings die Gemeinde. Es ist eine Antwort des Christenmenschen, während die Psalmverse und ihre Gegenverse nie humane Antwort sind, sondern göttliche Sage, die der Antwort immer schon vorausgeht. Daher sind Lieder stets Einlagen, die aus der Sicht der katholischen Liturgie spontane kollektive Exklamationen darstellen und nicht im Formular auftauchen.

Es sind diese bislang fakultativen Liedeinlagen, die Luther an die obligatorischen Stellen der Liturgie rückt. Er rückt die humane Antwort an die Stelle der göttlichen Sage. Selbst die Psalmen wandelt er um in Psalmlieder. Die lutherischen Psalmlieder sind der Gipfel der evangelischen Verkehrung der Liturgie ins Liedhafte. Am liebsten hätte Luther aus dem gesamten biblischen Psalter ein Liederbuch in deutschem Reim und Metrum gemacht, hätte er die Dichter an der Hand, wie er in einem Brief beklagt. All das liegt freilich in der Konsequenz der lutherischen Wort-Gottes-Theologie. Spätere Protestanten wie Johann Wilhelm Petersen, deren lutherische Zuverlässigkeit nicht ohne Grund angezweifelt wurde, versuchen den lutherischen Liederwahn zu verwinden und sich wieder zum Psalm zu kehren, indem sie psalmartig dichten und alles Liedgemäße tunlich meiden. Man kann nicht sagen, dies hätte die Songification der protestantischen Frömmigkeit nennenswert aufgehalten.

Die katholische Perspektive ist nicht das Maß der Dinge. Erst recht nicht die lutherische, die in das kolossale Missverständnis verstrickt ist, mit einer ungeheuren Masse Liedern von der humanen Seite gegen die feste Burg Gottes anzurennen und immer neue Massen zu produzieren, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Kirchliches Maßnehmen müssen wir überhaupt zurückweisen, wenn es um Kirchenmusik geht. Wir involvierten sie sonst bloß in die jeweiligen Zeitgeister und Selffulfilling Prophecies der Kirche.

 

Das Maß der Dinge sind auch nicht Bibelstellen. Sie fordern uns zum Gottesdienst bald mit Liedern, bald mit einem neuen Lied, bald mit Pauken und Posaunen, bald mit Psalter und Harfe auf. Daraus ist keine musikalische und keine theologische Klarheit zu gewinnen. Zum Maß der Dinge dringen wir vor, wenn wir die Gattung Lied als solche befragen und eventuell weitere Gattungen zum Vergleich. Das heißt herauszufinden, wie sich Mensch und Erde zueinander verhalten, wenn der Mensch Lieder singt – oder im Vergleich, wenn er anders singt. Einen Weg dahin weisen uns die Griechen.

Die Griechen denken die Musik nicht von der Religion her. Schon gar nicht denken sie sie vom Menschen her. Sie denken vielmehr in ereignisförmigen Konstellationen von Erde, Mensch und Klang. Musik und Religion sind in ungeschiedener Einheit. Das meint nichts Statisches. Vielmehr ist gemeint, dass sie aus ein und demselben Ereignis hervorgehen. Das Ereignis kann unterschiedlich ablaufen, und je nachdem, wie es abläuft, gehen unterschiedliche Musiken und unterschiedliche religiöse Konstellationen – nicht Religionen – daraus hervor.

Bei den Griechen sind episches und melisches Singen unterschieden. Es resultiert in zwei Arten von Werken, einmal dem gesungenen Erzählen, dem Epos, einmal dem gesungenen Lied, dem Melos. Sie fügen den Sänger, das Gesungene, die Erde und den Gott in unterschiedlicher Weise ineinander. Bei beiden sind die Götter im Spiel, nicht nur je nach Sujet, sondern konstitutiv. Der menschliche Sänger muss den Gott anrufen, um überhaupt Musik zugesungen zu bekommen. Das steht am Beginn des Epos und des Melos. Man betet nicht erst und fängt dann an zu singen. Im Singen selber wird der Gott angerufen. Der Götteranruf am, nicht vor Beginn des Gesangs blendet also zwei Vorgänge ineins, das Gebet an den Gott um Gabe des Gesangs und die Gebetserhörung der gewährten Gabe des Gesangs. Warum diese Überblendung funktioniert, ist eines der tiefsten Geheimnisse der Kirchenmusik und der Musik überhaupt. Weil die Überblendung funktioniert, ist die Unterscheidung in kirchliche und profane Musik eigentlich hinfällig.

Das Epos wie das Melos sind nur möglich durch das Erscheinen des Gottes. Das epische Singen aber bedarf der fortwährenden göttlichen Aktivität. Zeile für Zeile singt durch den Sänger der Gott. Auch ins Melos hat der Gott den Sänger initiiert. Er kann sich dann aber zurückziehen in die passive Rolle des Adressaten, an den der Sänger sein Lied richtet und dem er antwortet. Um ein Beispiel zu geben: In Sapphos Aphrodite-Lied ist Sappho die Autorin. Sie steht der Göttin gegenüber und zitiert sogar, was Aphrodite in einer früheren Notlage geantwortet hatte. Aphrodite wird damit im Lied oder vielmehr durch das Lied als gegenwärtig inaktiv dargestellt. Anders das Epos, das anfangs den Gott herbeizitiert nicht als Adressaten, sondern als fortgesetzten Autor des Gesangs.

Welcher der beiden archaischen Weisen des Singens entspricht wohl das Lied? Die Antwort ist simpel, dem Melos: Melos plus Odē (Lied) gleich Mel-Odie. Ursprünglich kommt das Wort nur im Plural melea vor und bezeichnet die Körperglieder. In dieser Bedeutung gebraucht es Homer, der keine Lieder hervorbringt, sondern Geschichten. Das steht im Hintergrund, wenn einige Jahrhunderte später Pindar das Wort in den Singular melos setzt und damit eine musikalische Melodie meint. Die konkrete Vorstellung hinter dieser Metapher ist also nicht das einzelne Körperglied, sondern die Fügung der Glieder zu einem Körper, der zur Erde eine bestimmte Stellung einnimmt. Daher hat jedes Melos sein charakteristisches Ethos: eine gelöste, gespannte, ängstliche, erwartende usw. Stimmung. Das lässt sich vom Singen des Epos nicht sagen. Es bleibt in einem dynamischen Sich-fügen und bildet nie eine abgeschlossene Stimmung aus. Das Lied ist die Fügung der melodischen und metrischen Glieder zu einem abgeschlossenen Gesamtgefüge. Dadurch ist es dem momentanen Ereignis nicht nur der Anrufung, sondern auch der Aktivität des Gottes enthoben. Es kristallisiert zu einem Typ, der verfügbar wird und überall realisierbar. In einer konsequenten Reihe wird das sich ereignende Fügen der melea weitergedacht zum ethisch gefügten Melos, dieses zur Mel-Odie, dieses zum Lied – und dieses zum Baustein, der dort eingesetzt wird, wo’s passt.

Nehmen wir das Kriterium des momentanen, gotterfüllten Ereignisses des Epos ernst, dann kann es von der Erzählung des Odysseus, der Sirenen, des Königs David oder Jesus von Nazareth nur eine einzige geben. Lieder über die Liebe und den Tod, über Gott und die Welt, über jedes erdenkliche Sujet aber kann es unbegrenzt viele geben, es muss nur der entsprechende Melostyp konkretisiert werden. Und just aus diesem Grund gibt es unzählige Lieder über die Heiligkeit Gottes (Sanctuslieder), über die Ehre Gottes (Glorialieder), über die Gnade Gottes (Kyrielieder), über die Dreieinigkeit Gottes (Credolieder), über die Jahreszeiten (Jahrkreislieder) und über die Lebenszeiten (Kasuallieder). Lieder, Lieder, nichts als Lieder.

Das liedhafte Gefüge aller dieser Lieder über die Liebe, über Gott, Jesus, den Frühling und den Tod besagt: Gott ist nicht da, Jesus und der Frühling sind nicht da, nicht einmal der Tod ist da. Man muss sich das alles vorstellen, so oft, bis es so gut wie wahr geworden sein wird.

1.6 Geschichten erzählen

Drei kleine Sachverhalte aus meinem Leben als Gymnasiast, sie datieren auf einen Abend in Stuttgart irgendwann in den Achtzigern: 1. Ich war im Konzert. 2. Neben mir im Publikum saß eine attraktive Klassenkameradin, die phantastisch Geige spielte. 3. Es wurde Beethovens Streichquartett Opus 18 Nummer 6 in B-Dur gespielt, und das haute mich einfach um: Mir stand der Himmel offen.

„Reicht das? Ist es genug, um meine Gotteserfahrung an diesem Abend zu bekunden?“ Es reicht, es ist sogar zu viel. Der zweite Satz kann weg. Er sagt zwar die reine Wahrheit. Attraktives Aussehen und phantastisches Geigespielen sind ästhetische Urteile, die naturgemäß im Auge und im Ohr des Betrachters liegen. Der war ich selber, und ich werde es ja wohl wissen. Aber er kann trotzdem weg, er hat nämlich mit dem dritten nichts zu tun.

Wo steckt der Fehler? Im Storytelling. In der Story werden die Dinge mit einem besonderen Kitt verbunden: mit dem Kitt mentaler Gehalte, mit dem also, was jemand im Kopf und auf dem Herzen hat, Hoffnungen, Wünsche, Ängste und so. Ohne diesen Gedankenkitt fügen sich Sachverhalte nicht zu einer Geschichte. Er fügt Vergangenheit und Zukunft, und zwar durch Akteure, die den Ist-Stand der Welt mit ihrem Handeln verändern, indem sie sich von ihren Gedanken leiten lassen. Die Gedanken sind zum einen Gründe, warum etwas zu tun ist, in der Regel mehrere zugleich; zum anderen sind es Intentionen, in welcher Weise das Handeln die Lage verändern soll. Der Grund damals in Stuttgart: Sehnsucht. Die Intention: sie zu stillen. Aber die Erfahrung aus Satz drei braucht die Gründe und Intentionen aus Satz zwei nicht. Satz drei hätte sich Bahn gebrochen, egal ob die Gründe und Intentionen aus Satz zwei gegeben waren oder nicht. Aber ohne Satz zwei lässt sich halt keine Story stricken.

Storytelling ist eine angesagte Methode, schwer vermittelbare Dinge an den Mann zu bringen. Hast du nackte Fakten wie Missbrauch, Flucht oder Krankheit – verpacke sie in eine Story. Hast du was zu verkaufen – langweile nicht mit den Produkteigenschaften, erzähle eine Geschichte. Willst du deinen Glauben bekunden – komm bloß nicht mit so was wie „Credo in unum deum“, erzähle deine Geschichte mit Gott. Willst du Gott im Lied verkünden – schlag dir die Idee von vorgestern aus dem Kopf, das Lied einfach zu singen, mach eine Liedgeschichte daraus.

Die christlichen Kirchen sind mit Anlauf in den Sumpf des Storytelling gesprungen. Dass sie dabei auch noch die Kirchenmusik mitreißen, macht es umso schlimmer.

Im unendlich großen Schatz des evangelischen Kirchenlieds soll es, folgt man einschlägigen Publikationen, einige sogenannte Erzähllieder geben. Etwa das Lutherlied Vom Himmel hoch da komm ich her. Dort ist von der guten neuen Mär die Rede, und die wird scheinbar in den ersten fünf Strophen gebracht. Nach einer Handlung darf man allerdings nicht groß suchen. Sie beschränkt sich darauf, dass in einem Stall ein Kind geboren wurde. Dafür braucht der vermeintliche Erzähler genau eine Zeile. Alle anderen Zeilen zählen theologische Eigenschaften auf, die das Kind hat, und fordern die Hörer auf, zu diesem sagenhaften Stall zu gehen und es sich selber anzuschauen. Der vermeintliche Erzähler ist der Engel aus der Weihnachtsgeschichte, der zu den Hirten redet. Auch im Lukasevangelium ist seine Rede selbst keine Erzählung. Sie ist wörtliche Rede innerhalb der Erzählung vom Stall in Bethlehem. Das merkte vermutlich auch der Pfarrer Valentin Triller, der 1555 vor Luthers erste Strophe eine dümmliche balladenhafte Einleitung pflanzte, die sich in den evangelischen Gesangbüchern zum Glück nicht durchsetzte: „Es kam ein Engel hell und klar / Von Gott aufs Feld zur Hirtenschar; / Der war gar sehr von Herzen froh / Und sprach zu ihnen fröhlich so:“. Es folgt Luthers Strophe 1 mit der Engelrede.

Wenigstens wird das Lied so zu einem wirklichen Erzähllied. Pfarrer Triller strickt um die wörtliche Rede herum eine tatsächliche Story – und tappt prompt in den Emosumpf. Denn woher weiß er eigentlich, dass der Engel fröhlich und froh im Herzen war? Da ist die Beweislage dünn. Im Lukasevangelium, das die Engelszene unikat überliefert, steht davon nichts. Triller hat die Emotion einfach dazuerfunden. Wenn wir ihm das herausstreichen – was weg kann, muss auch weg –, dann fällt die ganze Story zusammen. Es würde dann nur gesagt, dass der Engel etwas sagt, aber nicht, warum er etwas sagt. Die Engelrede geschähe dann einfach. Und man hörte ihr einfach zu, Wort für Wort, Laut für Laut, anstatt eine Geschichte serviert zu bekommen, die man nur deshalb für glaubwürdig hält, weil es eine Geschichte ist.

Alle weiteren Strophen des Lutherschen Vom Himmel hoch ab der sechsten sind Reflexionen eines lyrischen Ich und Aufforderungen zum Handeln – nicht Handlungen. Das Ende der wörtlichen Engelrede nach der 5. Strophe haben Triller wie auch neuere Interpreten überlesen. (Damit das Missverständnis nicht wieder vorkommt und zumindest bis dahin wirklich eine Ballade daraus wird, schlage ich zwischen Strophe 5 und 6 noch folgenden Vierzeiler vor: „Also sprach froh das Engelein / Den Hirten tief ins Herz hinein. / Ihr Christen, dankt ihm ewiglich / Und merket, jetzt red’ wieder ich.“)

Um den Unsinn des Erzählens mit oder gar von Liedern durchsichtig zu machen, ist es angebracht, sich an eine Unterscheidung aus dem vorigen Kapitel zu erinnern. Das Epos ist die gesungene Geschichte. Das Melos ist das gesungene Lied. Es zeigte sich als Gefüge eines Menschenleibs und einer Menschenseele angesichts einer übermenschlichen Realität. Die geschichtliche und geschichtenhafte Bewegung von Akteuren, angetrieben von ihren Bedürfnissen, Emotionen und Einschätzungen der Lage, ist zu einem vorläufigen Ende gekommen. Dann und erst dann setzt das Melos ein. Es verdichtet das Resultat einer Geschichte, ohne sie zu erzählen.

Diese Beschreibung des Melos hat große Ähnlichkeit mit der typischen Lage eines Christen. Er müht sich ab, mal obsiegt er, mal scheitert er, dann greift Gott ein und setzt dem menschlichen Streben ein theologisches Ende. Die Konfrontation mit Gott reißt den Menschen aus seinen sozialen und persönlichen Zusammenhängen heraus. Sie fordert ihm in allen Lebensbereichen eine Umorientierung ab. Er lebt natürlich in den gegebenen Zusammenhängen weiter. Aber sie haben keine geschichtsstiftende Kraft mehr, denn bei allen Gründen und Absichten, die der Mensch aus ihnen für sein Handeln bezieht, gibt es eine radikal andersartige Perspektive: Was würde Jesus dazu sagen?

Eine Handlungsentscheidung dieses Christenmenschen lässt sich hier nicht mehr im gewöhnlichen Sinn erzählen. Menschliche Gründe und Absichten fallen in sich zusammen. Der Kitt fürs Geschichtenstricken zerbröselt. Deshalb sollten wir mit den Geschichten aufhören, theologisch wie pädagogisch. Tun wir es doch, sind die kleinen fiesen Lügen vorprogrammiert, die die zeitlich und örtlich unfassbare Realität zusammenfügen, in der sich Gott in der Welt manifestiert. Dabei kann kaum etwas anderes herauskommen als Verniedlichungen, Trivialitäten und Emokitsch.

 

Auch Musik kann nicht erzählt werden. Und Musik erzählt nichts.

Um Vom Himmel hoch rankt sich die Geschichte, dass Luther das Lied an Weihnachten 1524 seinen Kindern unter den Christbaum legte. Die Geschichte ist vermutlich falsch, was nichts daran ändert (oder vielleicht sogar die Bedingung ist), dass es eine Geschichte ist. Sie erfüllt die obigen Kriterien bis aufs Jota: Es gibt jemanden, der aus bestimmten Gründen und mit bestimmten Absichten etwas tut. Über das Lied selber sagt die Geschichte nichts aus. Wäre sie wahr, könnte man aus ihr ableiten, dass es eine der Intentionen des Akteurs gewesen sein muss, etwas Kindgemäßes zu dichten. Das können wir aber auch aus dem Text selber erkennen. Wäre sie wahr, könnte man sich ferner denken, dass Luther den Liedzettel hübsch in Papier und Schleifchen verpackte. Was aber das ist, das da verpackt wurde, gibt sich nie aus der Verpackung zu erkennen. Der Bruch mit der Geschichte, und zwar mit jeder Geschichte, die man auch immer um das Lied herum erzählen mag, kommt unweigerlich in dem Moment, in dem die Zeilen „Vom Himmel hoch da komm ich her … davon ich sing’n und sagen will … Euch ist ein Kindlein heut gebor’n“ gesungen und geglaubt werden. Das Singen und das Glauben hat nichts mit der Geschichte vom Weihnachtsgeschenk zu tun. Es unterbricht sie, denn die Botschaft, die aus ihr tönt, macht den Akteur, seine Gründe und seine Absichten radikal irrelevant. Man könnte sich alle x-beliebigen menschlichen Gründe und Absichten ausdenken, warum jemand das Lied in die Hände bekommen hat – sobald das Lied gesungen und geglaubt wird, sind sie durchgestrichen.

Ich picke eine andere Liedergeschichte heraus, die oft erzählt wird. Sie handelt von Paul Gerhardts Geh aus, mein Herz, und suche Freud. Schauplatz ist das Städtchen Mittenwalde im Brandenburgischen, kurz vor 1653, dem Datum der Veröffentlichung des Lieds. Akteur: Paul Gerhardt, Pfarrer daselbst. Grund (einer von vielen): sein beklagenswerter seelischer Zustand und besonders der seiner Frau angesichts des Kriegs und des Tods der eigenen Kinder. Intention (wieder eine von vielen): Stimmungsaufhellung durch Sommerspaziergang. Daraus lässt sich die Geschichte stricken, dass Gerhardt das Lied für seine depressive Frau schrieb, die zu einem Gang durch die sommerliche Natur animiert wurde und Linderung ihres Leidens erfuhr. Die Geschichte ist nachweislich falsch. Gerhardt heiratete nämlich erst 1655, das erste Kind, das tatsächlich nach wenigen Monaten starb, wurde 1656 geboren. Die Fakten sind leicht zu recherchieren. Viele Interpreten kennen sie auch und erzählen die Geschichte trotzdem, im Konjunktiv: Wir wissen, dass es so nicht war, die Chronologie war umgekehrt, aber egal, stellen wir uns einfach vor, es sei so gewesen, dann … dann wäre das ein Kontext, der das Lied verständlich machen würde.

Selbst wenn die Deprigeschichte wahr wäre: Nein! Die Botschaft des Lieds ist vielmehr, dass ein Sommerspaziergang durch Gottes herrliche Natur uns aus allen Gemütslagen herausreißt, aus den depressiven wie den frohgemuten, auch aus den neutralen. Baum, Erde, Narzissen, Tulpen, Lerchen, Tauben, Nachtigallen, Hühner, Störche, Schwalben, Hirsche, Bäche, Wiesen, Weizen, Bienen werden nicht in den menschlichen Emotionshaushalt eingespeist, sondern in die Göttlichkeit der Welt. Das Ereignis des Herausgerissenwerdens tritt ein, egal ob das Lied in einer Therapiegeschichte, in einer anderen Geschichte oder in überhaupt keiner Geschichte vorkommt. Selbst wenn das Ereignis Ähnlichkeit hat mit dem, was ein Akteur mit dem Lied beabsichtigte, ist es nicht das Resultat seines Handelns.

Wenn es jemandem psychisch besser geht, nachdem er einen Sommerspaziergang gemacht hat, dann wird eine Geschichte daraus, weil der Spaziergang in irgendeiner Weise kausal mit der Gemütsverfassung vorher und nachher zu tun hat. Die Veränderung vorher/nachher und die kausale Verspannung der beiden Zustände durch die Gründe und Absichten ist das, was die Geschichtlichkeit der Geschichte ausmacht.

Wenn es jemandem psychisch besser geht, nachdem er Geh aus, mein Herz, und suche Freud gesungen und anschließend einen Sommerspaziergang gemacht hat, kann das ursächlich durchaus etwas mit dem Lied zu tun haben. Aber zwei Dinge sind fundamental anders. Erstens hat es nichts mit den vorhergehenden Gründen und Absichten zu tun, das Lied zu singen. Diese Geschichte scheidet schon mal aus. Zweitens kann der Zustand nach dem Singen und dem Spaziergang auch ein völlig anderer sein als die „gesuchte Freud“, von der in der ersten Liedzeile die Rede ist. Er kann Entsetzen, Wut, Trauer sein, weil das Liedereignis eine Überzeugung erschüttert hat. Diese Resultate sind Kontraste zum vorhergehenden psychischen Zustand. Aber sie ergeben mit ihm zusammengenommen keine Geschichte, weil in der Mitte eine Lücke klafft. Das Lied hat nicht am alten Zustand etwas verändert, es hat ihn beendet, indem es einen völlig andersartigen Zustand an seine Stelle setzt.

Musik erzählt auch nichts. Warum? Wenn sie etwas zu erzählen hätte, müsste das eine Geschichte sein, die im Musikstück drin steckt. Natürlich nicht einfach eine, die im vertonten Text erwähnt wird, wie die „gute neue Mär“, wenn sie denn wirklich eine Geschichte wäre. Sondern eine Geschichte, die sich selbst erzählt, indem das Musikstück abläuft. Die Kriterien dafür, dass das eine Geschichte sei, sind immer dieselben: Es muss verschiedene Zustände geben, die sich relativ zueinander wie Vergangenheit und Zukunft verhalten; die Zustände sind verbunden über die Gedanken eines Menschen betreffend Gründe und Intentionen; es muss irgendeine Handlung geben, die einem Handelnden zugeschrieben werden kann und die die Realität verändert. Die Intuition sagt uns, dass all das in Musik nicht der Fall ist.

Sie liegt richtig. Musik ist eine zeitbasierte Kunst. Es gibt in ihr frühere und spätere Zustände. Ein Zustand trägt auch Spuren seiner musikalischen Vergangenheit an sich oder antizipiert Zukünftiges. Man spürt den Auf- und Abbau von Spannungen. Man weiß, wie weit ein Kulminationspunkt entfernt war, man ahnt, wann der nächste kommt. Darin liegt die innere Bewegtheit von Musik, die wir just in time mitvollziehen. Aber es sind eben nicht wir, die handeln, wir werden be-handelt in der Musik. Wir sind im musikalischen Vollzug drin, aber das, was wir darin erinnern, hat nie die gedankliche Qualität eines Handlungsgrunds, und das, was wir vorausahnen, hat nie die gedankliche Qualität einer Handlungsintention. Das Früher und Später in Musik, man kann es drehen und wenden wie man will, hat mit Vergangenheit und Zukunft nichts zu tun. Es ist etwas gänzlich Andersartiges.

Musik in ihrer Ereignishaftigkeit ist also ungeschichtlich. Für die Gattung Lied gilt das umso mehr. Erinnern wir uns an das Lied als Melos im Unterschied zum dahinströmenden Epos. Melea sind die Glieder, in einer bestimmten Weise zum melos stillgestellt. Ein „Tableau vivant“, das man rasch als Ganzes überblickt. Es gibt keine kürzere und gedrungenere Gattung als das Lied. Schon der Anfang lässt das Ende ahnen, das Ende ist spiralförmig auf den Anfang zurückgewendet. Es gibt Zeitstrukturen im Melos, zweifellos, aber sie gleichen dem Kreiseln eines Sekundenzeigers auf der Uhr. Keine Geschichte hat dieses zyklische Moment. Verfällt das Erzählen in einen kreisläufigen Modus, hört es augenblicklich auf, Erzählen zu sein, und rutscht ins Lyrische. Schon Musik und Erzählen passt schlecht zusammen. Lied und Erzählen, das passt besonders schlecht zusammen.

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