Wir haben alle mal klein angefangen

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Fast auch eine Bettgeschichte

Aufregende nächtliche Erlebnisse im Studentenwohnheim waren allerdings nicht nur meinem Freund Kalle vorbehalten, so etwas widerfuhr auch anderen. Besonders Strebern und Miesepetern, die so wie ich nachts – aus welchen Gründen auch immer – schlafen wollten, statt bei einer spontan organisierten Hausparty fröhlich mitzufeiern, wurde schon das eine oder andere Mal übel mitgespielt:

So wurde in einem besonders bemerkenswerten Fall während einer solch feucht-fröhlichen Studentenparty im damals erst wenige Jahre alten Göttinger „Studentendorf“ einfach das Doppel-Null-Schild von der Gemeinschaftstoilette abmontiert und an die gegenüber liegende Zimmertür gepappt, hinter der eine besonders renitente Spaß-Bremse im Bett lag und den Schlaf des Gerechten schlief, ohne auch nur im Entferntesten zu ahnen, welches Ungemach da auf sie zukam.

Nun kann sich ein jeder wohl so ungefähr ausmalen, was wenig später geschah: Im Zimmer des schlafenden Party-Muffels ging mitten in der Nacht urplötzlich das Licht an, und vor seinem Bett stand ein schon ziemlich angeheiterter, ihm vollkommen unbekannter Student mit halb heruntergelassener Hose, voller Blase und einem offen heraushängenden Gemächt, der vergeblich nach der hinter der Tür vermuteten Kloschüssel suchte. Wer bei diesem unerwarteten Zusammentreffen wohl überraschter war: der aus dem Tiefschlaf hochgeschreckte oder der sein Geschäft im falschen Zimmer verrichten wollende Student?

Allein unter Frauen

Unfreiwillige nächtliche Gesellschaft hatte ich selbst sogar schon vor dem Studium, allerdings von deutlich angenehmerer Natur. Es geschah auf meiner ersten Auslandsreise gleich nach dem bestandenen Abitur. Mein Reiseziel war Südwest-England, genauer gesagt das ausgesprochen charmante Seebad „Weston-Super-Mare“ an der schönen Severn-Mündung nahe Bristol. Dort, wo meine elf Jahre ältere Schwester nach ihrer Heirat mit Robert Stark, einem waschechten Engländer, ihre neue Heimat gefunden hatte.

Die Reise fand zu einer Zeit statt, als Großbritannien noch das absolute Mekka der Popmusik war, für junge Leute wie mich also ein absolut hippes Reiseziel. Mein unfreiwilliges Abenteuer im Bett ereignete sich aber schon auf dem Weg dorthin an Bord der Autofähre „Prinz Hamlet“. Dieses seinerzeit hochmoderne Fährschiff pendelte mehrmals wöchentlich zwischen Bremerhaven und der südost-englischen Hafenstadt Harwich hin und her und wurde von einer schwedischen Reederei betrieben. Die ganze Überfahrt von Deutschland nach England dauerte etwa einen halben Tag und die ganze, darauf folgende Nacht.

Als armer Schulabgänger hatte ich natürlich die billigste von allen möglichen Schiffspassagen gebucht und fand mich so in einer extrem kleinen, fensterlosen Innenkabine wieder. Es gab noch nicht einmal eine Nasszelle, sondern nur ein Waschbecken und zwei Etagen-Doppelbetten. Meine Mitbewohner waren alles Frauen.

Das war für mich in keiner Weise ein Grund zur Besorgnis, denn erstens war ich noch vollkommen grün hinter den Ohren und zweitens hatte ich mir zuhause mein Zimmer immer mit meiner älteren Schwester teilen müssen, bevor sie mich schnöde verließ und ohne mich in die große, weite Welt ging.

Die beiden jüngeren, in meinen Augen gar nicht so unflotten England-Touristinnen, mit denen ich die kleine Mehrbett-Kabine teilen durfte, fanden die ganze Angelegenheit auch einigermaßen lustig. Nur die dritte, etwas ältere Einzelreisende in unserer gemeinsamen Schlafstatt war absolut „not amused“. Ziemlich genervt sprach sie mich an: Da wäre doch bestimmt eine Verwechslung passiert, ich solle bitte sofort zur Rezeption gehen, um die Fehlbelegung zu korrigieren! Sie sagte das in einen ziemlich unfreundlichen, für mich einigermaßen ungewohnten Befehlston.

Irgendwie verstand ich die ganze Aufregung nicht. Wieso sollte ich eine Fehlbelegung sein? Auf die naheliegende Idee, dass die schwedische Schiffsbesatzung, die wohl eher Englisch als Deutsch verstand, meinen Vornamen irrtümlicherweise für weiblich gehalten und mich nur deshalb (versehentlich!) in diese Frauenkabine gesteckt haben könnte, kam ich nicht.

Da man in dieser kleinen Kabine sowieso nichts anderes anstellen konnte, hatte ich mich schon halb ausgezogen und ins warme Bett gekuschelt. Obwohl oder gerade weil ich so unfreundlich angeraunzt wurde, verspürte ich überhaupt keine Lust, noch einmal aufzustehen und nach draußen auf die ungemütlichen und feucht-kalten Schiffskorridore zu gehen: Wenn die gute Frau ein Problem mir hatte, warum ging sie dann nicht selber zur Rezeption?

Irgendwie musste sie meine Gedanken erraten haben, denn sie verschwand für längere Zeit aus unserer Mehrbettkabine. Wahrscheinlich hatte sie die Hoffnung, dass ich nicht mehr da sein würde, wenn sie zurückkam.

Ich war aber tatsächlich noch da, als sie zurückkam, wurde wieder wach und wunderte mich sehr, warum die gute Frau sich bei halboffener Tür im Dunkeln aus- und umzog. Auch aus ihrer Sicht gesehen kamen mir ihre gymnastischen Übungen fast ganz ohne Licht doch ziemlich unbequem vor. Schließlich gab es in unserem Zimmer eine durchaus einwandfrei funktionierende, ausreichend helle Deckenbeleuchtung.

Wieder kam ich nicht auf die Idee, dass ich der Grund für das heimliche Gemunkel im Dunkeln sein könnte. Dabei lag ich ganz tief im untersten Etagenbett und hatte deshalb natürlich einen ausgesprochen exquisiten Ausblick auf alles, was um mich herum und über mir passierte.

Wenn die arme Frau, die meinte, sich im Dunkel umziehen zu müssen, nur gewusst hätte! Ich war an dem, was sie da vor meinem Bett für Verrenkungen anstellte, herzlich wenig interessiert. Nach der anstrengenden und umständlichen Bahnreise von meiner Heimatstadt „Heide in Holstein“ über Hamburg und Cuxhaven nach Bremerhaven wollte ich mich eigentlich nur ausschlafen. Ihr unter den BH oder gar unter das knappe Höschen zu schauen, war für den Moment absolut ohne jedes Interesse für mich. Denn gut und geschmackvoll angezogene Frauen habe ich Zeit meines Lebens immer für deutlich attraktiver gehalten als die nackten, langweilig zart-rosanen Tatsachen. Und, wie schon erwähnt, ich war damals in jeder Hinsicht noch Jungfrau und deshalb absolut rein im Geiste.

Irgendwann war das Gehampel vor meinem Bett endlich vorbei, und in der kleinen Kabine leuchtete nur noch die Notbeleuchtung. Nach einer kurzen Nacht sah ich meine Widersacherin am anderen Morgen nur noch von hinten: Ihre Sachen packen und raus aus der Kabine waren eins.

Mir konnte es egal sein, denn die anderen beiden Mädels hatten mich dafür umso mehr in ihr Herz geschlossen und begleiteten mich in der Bahn noch bis London, wo sich unsere Wege dann leider für immer voneinander trennten.

Willkommen in Europas „Dritter Welt“

Reisen sind anscheinend eine gute Gelegenheit für unfreiwillige sexuelle Abenteuer. Ein anderes Abenteuer dieser Art erlebte ich sechs Jahre später auf der schönen grünen Insel Irland:

Mit meiner Reisebegleitung Marion verband mich nichts weiter, als dass sie wie ich aus dem nicht nur im Sommer von Kohlköpfen aller Art bevölkerten Landkreis Dithmarschen stammte, in Göttingen Mathematik studierte und ich sie schon mehr als einmal mit meinem Nachthimmel-blauen VW-Käfer gegen eine bescheidene Benzinkosten-Beteiligung nachhause gefahren hatte. Ein, zwei Jahre später hatte ich dann die besondere Ehre, von ihr als ihr exklusiver persönlicher Begleiter auf eine selbstorganisierte Kreuzfahrt kreuz und quer durch ganz Irland eingeladen zu werden.

Gerade erst war sie stolze Besitzerin eines eigenen Vehikels geworden. Mit ihrem quietsch-grünen, nagelneuen Renault R4, der wesentlich geräumiger war als meine eigene, alte Schrottkiste, gingen wir zu zweit auf große Tour. Und trafen nach einer ziemlich langen Fahrt mit ihrem Auto per Schiff eines schönen Sommernachmittags anno 1976 im irischen Fährhafen Rosslare ein – ohne uns vorher über die genaue Route, über Übernachtungsmöglichkeiten oder über andere Notwendigkeiten einer derartigen Entdeckungsreise irgendwelche Gedanken gemacht zu haben.

Und so traten wir auch nicht gleich die Suche nach einer nächtlichen Bleibe an: Zu faszinierend war das, was vor uns lag. Gleich hinter dem Fähranleger bogen wir von der Hauptstraße ab und landeten sofort in der „Pampa“ – im wahrsten Sinn des Wortes. Schon England und der Süden Wales hatten auf uns zwei, vom stahl-kalten technischen Wohlstand der BRD verwöhnten Rotznasen nicht gerade den Eindruck absoluter Modernität gemacht, aber hier, so schien es, waren wir von jetzt auf gleich in einem Dritte-Welt-Land gelandet: Autos wie aus dem Museum, mickrig schmale Landstraßen und Häuser, die eher wie Notbehausungen aussahen, nach unseren hochfliegenden Maßstäben ziemlich primitiv aus grobem Naturstein zusammengehauen und danach bis auf das ebenfalls aus einfachsten Materialien bestehende Hausdach fast ausnahmslos weiß getüncht. Fast alle Häuser wurden bewacht von wolfsgroßen Hütehunden, deren größter Spaß es war, das halbe Dutzend motorisierter Fahrzeuge, das über den lieben langen Tag verteilt vorbei zu kommen geruhte, anzufallen, zu jagen und zu verbellen.

Das Ritual war immer dasselbe: Wir fuhren durch die fast leere grüne Landschaft auf ein Haus zu – außer ein paar Schafen, einer Handvoll Möwen und einigen stumpf wiederkäuenden Kühlen weit und breit keine lebende Seele zu sehen. Aber in demselben Moment, in dem wir das allein stehende Haus erreichten, brach die Hölle los: Mit ohrenbetäubendem Gebrüll schoss ein braunes, graues oder schwarzes haariges Monster aus seinem hinter einer Mauer gelegenen Versteck hervor und schmiss sich so vor unseren Kühler, dass wir kaum noch den Schwanz sehen konnten. Jeden Moment musste es zum Aufprall kommen! Aber nein, stattdessen tauchten plötzlich hässlich gelb-weiße, wütend gefletschte Zähne neben unserem Auto auf und spritzten einzelne Speichelfetzen an die Seitenscheiben. Wenige Sekunden später war der Spuk schon wieder vorbei, denn nach anfänglichen Irritationen zogen wir es vor, besser nicht zu bremsen, sondern einfach weiterzufahren. Und so gab sich das wütend bellende Monster für uns erst mit einiger Entfernung im Rückspiegel als ein immer kleiner werdendes Exemplar der Gattung „Hund“ zu erkennen.

 

Endstation Rumpelkammer

Ich weiß nicht mehr, ob es tatsächlich Rosslare oder nur eines der vielen namenlosen Dörfer war, die weit verstreut in der menschenleeren irischen Landschaft lagen, jedenfalls trafen wir nach kurzer Zeit auf eine größere Ansammlung gemauerter Behausungen, in der die Straßen nicht nur von Hunden, sondern auch von dem einen oder anderen Exemplar der Gattung Mensch bevölkert waren. Überraschend schnell fanden wir ein Haus mit einem einigermaßen anheimelnden Aussehen, in dessen Vorgarten neben einem hellblau gestrichenen Gartenzaun und ein paar Blumen das ersehnte Schild mit der Aufschrift „Bed and Breakfast“ stand.

Marion klopfte an die Haustür, und ohne jede Verzögerung wurde uns aufgetan. Anscheinend waren wir aus dem Haus schon einige Zeit neugierig beäugt worden. Das erste, was uns aus dem halbdunklen Hausinneren sofort ins Auge sprang, war ein großes Kruzifix, das direkt über dem Treppenaufgang hing. Da nicht anzunehmen war, dass man sich hier vor Vampiren fürchtete, war klar: Jetzt sind wir im erzkatholischen Herzen Irlands angekommen!

Die Hausherrin persönlich hatte uns die Tür geöffnet, also überließ ich Marion das Reden. Mit dem Ergebnis, dass wir nach einer kurzer Abstimmung über die Zimmermiete und die Frühstückszeit unser Zimmer beziehen konnten.

Das Zimmer, das uns als Schlafstelle für unsere erste Übernachtung in Irland zugedacht war, war selbst für unseren jugendlichen, von allzu hohen Erwartungen wenig getrübten Geschmack doch etwas zu klein und zu spartanisch eingerichtet. Zwar gab es ein Waschbecken, einen Schrank, einen kleinen Tisch und auch ein Bett, aber genau dieses Bett war das Problem, für Marion ebenso wie für mich: Doppelbett wäre geschmeichelt gewesen, das Bett hatte noch nicht einmal Queen-Size-Maße. Eigentlich war es nur ein Bett für eine einzige, mäßig große Person. Und für diese eine Person gab es auch nur eine einzige Bettdecke.

Marion schoss sofort wieder aus dem Zimmer, um das vermeintliche Missverständnis aufzuklären – vergeblich: Anscheinend überstieg es vollkommen den geistigen Horizont unserer katholisch-frommen Hauswirtin, dass ein Mann und eine Frau, die gemeinsam eine Reise taten, nicht in ein- und demselben Bett schlafen wollten. Meine leicht panisch werdende Bekannte versuchte daraufhin, der guten Frau in ihrem gebrochenem Schul-Englisch verständlich zu machen, dass wir genau das nicht waren, nämlich keineswegs Mann und Frau. Und zwar weder verheiratet, noch verlobt, ja noch nicht einmal eng befreundet. Bloße Reisegenossen also.

Allerdings hätte Marion unserer armen Gastgeberin genauso gut erzählen können, im Hof hinter ihrem Haus wären Außerirdische gelandet. Als fromme Irin verweigerte sich unsere Wirtin stocksteif der Annahme, ein Mann und eine Frau im heiratsfähigen Alter könnten gemeinsam unterwegs sein, ohne nicht wenigstens kirchlich getraut zu sein. Gut möglich, dass sie in unserem Auto noch eine mehrköpfige Kinderschar vermutete, die wir dort versteckt hatten, um sie im Schutze der anbrechenden Nacht heimlich ins Haus zu lassen. Dass wir nur deshalb um ein zweites Zimmer baten, um mit diesem Trick das Geld für die Übernachtung unserer Kinder zu sparen. Kurz und gut, es gab kein zweites Zimmer und kein zweites Bett. Und eine zweite Bettdecke gab es auch nicht.

So hatte die arme Marion schon gleich zu Beginn unserer zweiwöchigen Irland-Rundreise in der ersten Herbergsmutter ihren Meister gefunden und bekam deshalb während dieser ersten gemeinsamen Nacht am Ziel unserer gemeinsamen Abenteuerreise kein Auge zu. Ruhelos wälzte sie sich, meistens allein unter der schmalen Bettdecke liegend, ihren eigenen, vom (Angst-)Schweiß nassen Rücken gegen meinen ebenfalls leicht feuchten, weil ebenfalls schwitzenden Rücken gepresst, die ganze Nacht von einer auf die andere Seite hin- und her. Ich hingegen schlief wenigstens ab und zu den Schlaf totaler Erschöpfung. Und zwar immer dann, wenn ich den die ganze Nacht andauernden Kampf um die schmale Bettdecke, die in etwa die Ausmaße eines in der Wäsche eingelaufenen Badehandtuchs hatte, für ein paar Minuten für mich entscheiden konnte.

Am anderen Morgen saß ich einigermaßen ausgeschlafen am Frühstückstisch und wunderte mich nicht das erste und auch nicht das letzte Mal in meinem Leben, wie Frauen aus einem bei Lichte besehen absolut nichtigen Anlass tatsächlich den Saft für einen ganzen Tag schlechte Laune ziehen können. Vollkommen zu Unrecht musste ich in unserem nächsten Quartier irgendwo in einer anderen trostlos öden Pampa zwischen Rosslare und Cork die Nacht wortwörtlich in einer Rumpelkammer schlafen, damit Marion ihr eigenes Zimmer hatte, das sie ganz für sich allein beziehen konnte.

Nun, ich habe auch diese zwiespältige Erfahrung bei einigermaßen guter körperlicher und seelischer Gesundheit überlebt, obwohl mitten in der Nacht die unverschlossene Haustür synchron mit meiner eigenen Kammertür aufsprang und eine eiskalte Windböe mit lautem Geheul zur Tür herein und durch den offenen Kamin meiner kleinen Kammer wieder hinaus zog. Zähneklappernd saß ich senkrecht im Bett und brauchte danach einigermaßen lange, um wieder zurück in einen halbwegs ruhigen Schlaf zu finden.

Aber wie heißt es doch so schön: Kleine Sünden straft der liebe Gott sofort! Aber warum nun ausgerechtet ich die alleinige Schuld an unserer ersten, schlaflosen Nacht auf der Insel zugewiesen bekam und dafür büßen musste, darüber bin ich mir bis heute immer noch nicht wirklich im Klaren!

Die fröhliche Tramperin

Die Reise durch die irische Republik war in jeder Hinsicht ein Abenteuer: Jedes Quartier war anders – ein Dachzimmer war so niedrig, dass ich beim Auszug mit meinem Kopf einfach die Lampe von der Decke fegte. Der Wirt lachte nur. Überhaupt waren die Iren ein fröhliches Volk: Erlaubt war, was gefällt. „Halbe Pizza mit Pommes Frites” war das Top-Angebot einer irischen Gaststätte. Mir drehte sich schon beim Anblick dieses handgeschriebenen Reklameschildes im Fenster des Gasthauses der Magen um.

Den Gipfel der Fröhlichkeit erlebten wir dann wenige Tage später, als wir eine hutzlige Alte, ganz in Schwarz gekleidet, am Straßenrand stehen sahen, den Arm heraus und den Daumen in die Höhe gestreckt. Facebook war damals noch nicht erfunden, also war das kein Like-it-Zeichen, sondern nur der zarte Hinweis, dass diese alte Dame als Tramperin von freundlichen Autofahrern mitgenommen werden wollte.

Natürlich ließen wir uns diese günstige Gelegenheit, mit der lokalen Bevölkerung intensiver ins Gespräch zu kommen, nicht entgehen. Marion trat auf die Bremse, und ich hielt der guten Frau galant die Tür auf. Sie stieg auch ohne einen Moment zu zögern bereitwilligst zu uns ins Auto. Sicher hatte sie noch nie einen dieser heute so beliebten Splatterfilme gesehen, in denen mordlustige junge Pärchen reihenweise einsame und ahnungslose Tramperinnen dahinmeucheln. Andererseits war unsere neue Beifahrerin auch schon in einem Alter, wo das lustvolle Meucheln selbst für den abgebrühtesten Gewohnheitsmörder etwas an Reiz verliert.

Sei dem, wie es war, ich drehte meinen Kopf nach hinten in Richtung Rücksitzbank, wo unsere neue, einheimische Bekanntschaft saß und uns beide mit großem Interesse beäugte. Was es denn so für neue Nachrichten gäbe, fragte ich jovial und erwartete den üblichen Klatsch und Tratsch über Hochzeiten in der Nachbarschaft oder vielleicht die überraschende Auflösung eines äußerst mysteriösen Falles wiederholten Milchkannen-Diebstahls in dem County, durch das wir gerade fuhren.

Doch ihre fröhliche Antwort, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde, lautete nur kurz und knapp:

„Today, they’ve blown the British ambassador to pieces!“ (Flöt, flöt…)

Ich glaubte, mich verhört zu haben, weil ihr diese unglaubliche Schreckensnachricht so blümchenartig unaufgeregt über die Lippen gekommen war:

„Sagten Sie gerade, die britische Botschaft sei in die Luft gesprengt worden?“, fragte ich ungläubig zurück.

„Nein, nein, den britischen Botschafter haben sie in die Luft gesprengt!“

Ihre gute Laune, mit der sie diese grandiose Neuigkeit gelassen aussprach, ließ sich kaum noch steigern.

Reich bebilderte Zeitungsberichte bestätigten gleich am anderen Tag die grausame Tat: Vom Botschafter, seinem Fahrer und dem großzügigst dimensionierten Diplomatengefährt (ein gepanzerter Bentley) waren nur noch ein vollkommen zertrümmertes Autowrack und ein großes und über einen Meter tiefes Loch in einer der unzähligen namen- und gesichtslosen irischen Landstraßen übrig.

Ob unsere Hutzelalte in Wirklichkeit ein verkleideter irischer Terrorist war, der sich von uns an den Ort seiner nächsten Schandtat fahren ließ? Nein, diese Annahme wäre dem Augenschein nach vollkommen abwegig gewesen: Sie sah mir eher nach einer ebenso frommen Kirchgängerin aus wie unsere erste irische Hausmutter mit dem unbequemen Einbettzimmer.

Es war wohl eher so, dass es all die frommen und grundehrlichen Einwohner der Republik Irland damals vollkommen okay fanden, ab und zu mal einen britischen Botschafter in die Luft zu sprengen. Und weil die Iren halbe Sachen verabscheuen, war später in Dublin – der Endstation unserer irischen Rundreise – die Straße mit der britischen Botschaft gesperrt, weil sie nach dem Botschafter auch gleich seinen Amtssitz ebenfalls mit einer ordentlichen Prise scharfen Sprengstoffs bedacht hatten.

Nur: Warum hassen die Iren die Engländer bloß so innig und abgrundtief? Umgekehrt ist es doch überhaupt nicht so! Ich glaube, der Hauptgrund ist die englische Polizeistunde: Im Pub schon nachts um Elf mit dem Trinken aufhören zu müssen, das bringt auch den friedliebendsten Iren irgendwann einmal auf die Palme. In der Provinzstadt Sligo erhoben sich alle Iren im Pub nach der „Last Order“ (der letzten Bestellung des Abends) wie ein Mann und schmetterten aus voller Brust und Überzeugung mit hoch erhobenen Biergläsern: „Off to Dublin in the Green!“ („Auf nach Dublin in den Kampf!“ )

Danach ging der Wirt zur Tür, schloss zu, damit kein Engländer mehr herein konnte, und wir alle feierten fröhlich weiter bis zum Morgengrauen...

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