Die moderne Erlebnispädagogik

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Dewey übte und übt einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Pädagogik in den USA aus. Seine Ideen bzw. sein pragmatischer Ansatz hatten darüber hinaus auch maßgeblichen Einfluss auf die Ausformung der Erlebnispädagogik in Nordamerika. Wie später noch gezeigt wird, ist der Beginn der Kurzschulen bzw. der Outward Bound Schulen und damit der Beginn der „modernen Erlebnispädagogik“ in Großbritannien zu verorten. Von dort ausgehend expandierte vor allem die „Outward Bound Bewegung“ in die USA und verband sich mit der „amerikanischen Pädagogik“. Eine Vielzahl der heutigen Bezeichnungen und Methoden haben hier ihren Ursprung und wurden schließlich über die intensive Rezeption dieser „amerikanischen“, von Dewey stark beeinflussten Erlebnispädagogik, in den 80er und 90er Jahren nach Deutschland „reimportiert“ bzw. bestand schon ab den 70er Jahren ein weltweites Netzwerk von „Outward Bound“, in dem natürlich auch inhaltlich diskutiert wurde. Deweys Ansätze übten damit zeitversetzt einen weiteren großen Einfluss auf die europäische moderne Erlebnispädagogik aus. Dies bedeutet, viele Begriffe der modernen Erlebnispädagogik gelangten über die Vereinigten Staaten (wieder) in die in den 90er Jahren einsetzende wissenschaftliche Diskussion. Die pädagogische Praxis, und damit die Begrifflichkeit, in der nordamerikanischen Erlebnispädagogik ist aber oft von einer behavioristischen Tradition geprägt. Als Beispiel sei hier auf den Begriff des „Outdoortrainings“ hingewiesen (siehe

Abschnitt 7.5

 und

Abschnitt 9.2.3

).



Die „moderne Erlebnispädagogik“ ist sehr massiv von Deweys Ansatz beeinflusst, worauf der Terminus „Handlungsorientierter Ansatz“ hinweist. Mit dieser Bezeichnung erfolgt eine begriffliche und inhaltliche Ausweitung: während die Begriffe Erlebnistherapie und Erlebnispädagogik definitorisch durch den Leitbegriff „Erlebnis“ eingeschränkt sind oder zumindest begrifflich determiniert sind, eröffnet der Handlungsbegriff ein ungleich größeres

Handlungsfeld

. Sarkastisch kann man sagen, schon allein das TUN im pädagogischen Feld reicht, um dieses Tun als pädagogisch zu bezeichnen. Noch größer ist diese Ausweitung mit dem Zusatz „orientiert“. Es muss also nicht einmal gehandelt werden, es reicht die „Orientierung“ dahin. Dies ist natürlich eine sarkastische Betrachtungsweise, aber spiegelt durchaus das „uneinheitliche“ Bild der „modernen Erlebnispädagogik“.

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 Im Gegensatz zum Begriff „handlungsorientierter Ansatz“ scheint der Begriff „Erlebnispädagogik“ für die „moderne Erlebnispädagogik“ zu einschränkend. Erst mit dem Überbegriff „Handlungspädagogik“ lassen sich die heterogenen Ansätze der modernen Erlebnispädagogik zumindest annähernd beschreiben. Dementsprechend verwundert es nicht, dass die wichtigste Fachzeitschrift im deutschsprachigen Raum den Untertitel „Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen“ trägt.

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Dewey ist also mit seinem „handlungs- und erfahrungsorientierten“ Ansatz ein wesentlicher „Theoretiker“ der modernen Erlebnispädagogik. Damit kann man aber die moderne Erlebnispädagogik in die Nähe des so genannten „Pragmatismus“ rücken:

101



Pragmatismus: (griech. pragma Handeln, Tatsache, Wirklichkeit; engl. pragmatism). Von dem amerikanischen Philosophen und Mathematiker C.S. Peirce am Ende des 19. Jahrhunderts begründete, handlungstheoretische Auffassung von Wissenschaft, die danach fragt, was wissenschaftliche Theorien für praktische, sachbezogene, soziale und sprachliche Handlungsprozesse in konkreten geschichtlichen Erfahrungsfeldern bedeuten. Darauf begründete J. Dewey in Amerika seine Pädagogik des Pragmatismus, die von der Bedeutung des Handelns und der Erfahrung ausgeht. Demokratie ist für Dewey gemeinschaftliches Leben und Schule soll als Modell den Grund dafür legen. Erziehung und Unterricht bewirken seiner Ansicht nach in den Interaktionsprozessen und in der handelnden Auseinandersetzung mit Natur, Gesellschaft und Kultur beim Schüler einen kontinuierlichen Erfahrungsaufbau, der im Verlauf der Erziehungsprozesse zur Ich-Identität hinführt. Die Theorie des Projektunterrichts von J. Dewey und W.H. Patrick zeigt die pädagogische Umsetzung der Philosophie des Pragmatismus

.

102



Für die deutschsprachige Rezeption sei allerdings darauf hingewiesen, dass dieser Einfluss von Dewey auf die moderne Erlebnispädagogik oft nicht explizit erwähnt oder erkannt wird, sondern sozusagen „mitschwingt“. So wird Hahn mit seiner „Erlebnistherapie“ definitiv (und aus meiner Sicht auf Grund seiner enormen organisatorischen Leistung auch zu Recht) als „Urvater“ der Erlebnispädagogik bezeichnet und Deweys Einfluss, vor allem auf die moderne Erlebnispädagogik, meist nicht genau gekennzeichnet:



Im deutschsprachigen Raum war Dewey bis heute kaum im pädagogischen Blickfeld, da sein pädagogischer Pragmatismus wenig Anknüpfungspunkte zur deutschen, traditionellen idealistischen Erziehungsauffassung fand, doch sein Theorem „Learning by doing“ erlangte Bekanntheitsgrad weit über Wissenschafts- oder Wirtschaftsgemeinschaften hinaus. Bedeutsame Spuren des Wirkens von Dewey finden sich heute aber noch in anderen Bereichen wieder, sind jedoch nicht immer so deutlich zu erkennen wie jene, die Deweys Überlegungen in der amerikanischen „Outdoor-Szene“ hinterlassen haben

.

103



Deweys pädagogischer Pragmatismus hatte in der deutschen, idealistisch geprägten Erziehungswissenschaft seit jeher einen schweren Stand. Schon 1915 polemisierte Eduard Spaner in einem Brief an Kerschensteiner über Deweys „Küchen- und Handwerksutilitarismus“. Der Münchener Stadtschulrat und spätere Universitätsprofessor Kerschensteiner schuf in dieser Zeit sein Modell der „Arbeitsschule“ und ließ sich als einer der wenigen deutschen Reformpädagogen von Dewey inspirieren (Anmerkung des Verf.: Kerscheinsteiner wiederum hatte Einfluss auf Hahn!)

.

104



Die große Bedeutung von Dewey für die moderne Erlebnispädagogik resultiert aus seinen Überlegungen zum „Erfahrungslernen“. Wie schon erwähnt, ergibt sich damit ein zweiter Argumentationsstrang in der erlebnispädagogischen Theorie. An Stelle des zentralen „Erlebnisbegriffs“ treten die Begriffe „Handlung“, „Erleben“ und „Erfahrung“. Deweys „Learning by doing“ ist als eine „Methode der denkenden Erfahrung“

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 zu verstehen. Das bezieht sich auf die doppelte Rolle von Erfahrung:





 zum einen erwirbt man Erfahrung um zu Handeln



 zum anderen erwirbt man Erfahrung durch Handlungen





Neben diesen zentralen gegenseitigen Verweischarakter der neuen Begriffe „Handlung“ und „Erfahrung“ treten als weitere wesentliche Leitbegriffe „Prozess“ und „Reflexion“. Dewey stellt dazu fest:



Durch Erfahrung lernen heißt, das was wir den Dingen tun, und das was wir von ihnen erleiden, nach rückwärts und vorwärts miteinander in Verbindung bringen

.

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Gerade dieses Vorwärts und Rückwärts drückt das Prozesshafte und Reflexive aus. Dies bedeutet:





 dass aus einer Handlung offenbar nur mit Hilfe einer bewussten, denkerischen Durchdringung eine Erfahrung gewonnen werden kann - durch Reflexion also.



 dass dieses Vorwärts und Rückwärts immer prozesshaft ist, d.h. Prozessdenken statt „Ereignis- oder Erfolgsfixierung“.

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In seiner „Theory of Inquiry“ lassen sich fünf Phasen festhalten:








Somit treten vier neue Begriffe an die Stelle des Leitbegriffs „Erlebnis“:





 Handlung



 Erfahrung



 Prozess



 Reflexion





Den Zusammenhang beschreibt Dewey wie folgt:



Er ging von der Annahme aus, dass Handeln die erste und ursprüngliche Form der Erfahrungsbildung darstellt und das durch Handeln gewonnene Wissen das erste und ursprüngliche Wissen des Menschen ausmacht. (…) Das Wiederentdecken von Denken, Erfahrung und Handlung kann als zentrales Kennzeichen der Pädagogik Deweys gelten. Neben Rousseau kann somit auch Deweys Ansatz als erziehungstheoretische Grundlage für erfahrungsorientiertes Lernen und das Lernen durch Erlebnisse herangezogen werden

.

108



2.2.1 Erlebnispädagogischer und handlungsorientierter Ansatz



Mit Hahn und Dewey bzw. mit dem Begriff „Erlebnis“ auf der einen Seite und den Begriffen „Erfahrung“ und „Handlung“ auf der anderen Seite sind die zwei unterschiedlichen Argumentationsstränge der erlebnispädagogischen Theorie eingeführt. Im (wissenschaftlichen) Diskurs der modernen Erlebnispädagogik werden allerdings oft beide „miteinander“ diskutiert. Ebenso werden die Begriffe „Erlebnis“ und „Erleben“ synonym verwendet, was dementsprechend zu argumentativen Verwirrungen führt, denn im Prinzip handelt es sich um zwei unterschiedliche Ansätze mit unterschiedlichen Traditionen und Leitbegriffen:





 Der „erlebnispädagogische Ansatz“ mit dem zentralen Leitbegriff des „Erlebnisses“, auf Hahn, Neubert und Dilthey beruhend.

 



 „der handlungs- und erfahrungsorientierte“ Ansatz mit den Leitbegriffen „Handlung“, „Erfahrung“ bzw. „Erleben“, beruhend auf Dewey und die Pragmatiker.





Zur Differenzierung dieser beiden Ansätze verweise ich noch einmal auf die in

Abschnitt 2.1.5

 vorgenommene Unterscheidung von „Erleben“ und „Erlebnis“. Werden diese beiden Begriffe, wie schon oft erwähnt, häufig synonym verwendet, handelt es sich doch, wie Schott eindrucksvoll dargestellt hat, um zwei in ihrem Wesen unterschiedliche Begriffe:



Erleben





Das Erleben ist Bedingung dafür, dass Gefühle kultiviert und Prinzipien in Handlungen umgesetzt werden können. Es ermöglicht ein „Learning by doing“





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Erleben ist das subjektive Innewerden von Vorgängen, die als bedeutsam empfunden werden. Die Erfahrung stellt dann die Summe von Erlebnisanteilen dar, Erfahrung ist das durch das eigene Erleben und eigene Anschauung erworbene Wissen. Und aus Erfahrungen erwachsen schließlich Erkenntnisse, aus diesen können möglicherweise Einsichten resultieren, die als die höchste Stufe menschlicher Weisheit zu bezeichnen sind. Erlebnis, Erfahrung, Erkenntnis und Einsichten sind also wichtige Begriffe in der und für die Erlebnispädagogik





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Erlebnis





Das Erlebnis hingegen zeichnet sich gegenüber „dem Erleben“ dadurch aus, dass







 Leidenschaft und Lust mit Überlegung und Einsicht einhergehen



 sich strukturelle Grenzen aufheben (Zeit vergeht wie im Flug)



 es einen verstärkten Drang zu Ausdruck und Handlung zeigt



 es durch den gesteigerten Manifestationsdrang eine höhere „Auseinandersetzungswahrscheinlichkeit“ gibt



 Grenzen der Kommunikation schwinden (z. B. Ohmacht und Allmacht zugleich)



 es Resultatscharakter aufweist (Einheit von Denken-Fühlen-Wollen)



 es ein autokinetisches System darstellt; es ist nicht erzeugbar und nicht erzwingbar

111





Aus meiner Sicht handelt es sich hierbei

um eine sehr wichtige Unterscheidung

, um Programme der Erlebnispädagogik genauer untersuchen zu können. So sind eben die „heilsamen Erinnerungsbilder“

112

 von Kurt Hahn nur durch ihre verdichtete Intensität und dementsprechende Wirkmächtigkeit, also durch die Kategorie des Erlebnisses erklärbar. Auf der anderen Seite ist das „Erfahrungslernen“ ohne den Begriff des „Erlebens“ und der daraus resultierenden Erfahrung nicht zu erklären. Diese Unterscheidung ist vor allem auf praktischer, konzeptioneller Seite von Bedeutung, erfordert sie doch eine vollkommen andere Vorgangsweise. Im Ansatz der „Erlebnispädagogik“ mit dem zentralen Augenmerk auf den Begriff des Erlebnisses ist von zentraler Bedeutung, eben solche Erlebnisse durch Settings/Medien etc. möglich zu machen. Auf der Seite des „Erfahrungslernens“ liegt der Fokus mehr auf der Prozessebene, auf der Reflexion des Handelns und dementsprechend auf der „Umsetzung“ der Handlung in (nutzbare) Erfahrung. Dabei bedarf es natürlich einer gewissen „Qualität des Erlebens“, um die Handlung als solche sozusagen für das Individuum erkennbar zu machen (siehe oben), allerdings in weit geringerer Intensität. Daher ist in der Praxis des handlungsorientierten Ansatzes die Reflexion von so zentraler Bedeutung, da das Erlebte von sich aus nicht wirkmächtig ist und dementsprechend (meist) erst über den Umweg der reflexiven Aufarbeitung des Erlebten von (Lern)Erfahrungen gesprochen werden kann. Dabei handelt es sich um einen bedeutsamen Unterschied (vgl.

Abschnitt 9.3

). Dilthey, Neubert und Hahn haben, da sie sich jeweils in ihrem Wissenschaftskonstrukt bewegten, keine strengen Abgrenzungen zu jeweils anderen Konstrukten vorgenommen (was diesen Pionieren wohl auch schwer gefallen wäre). Dementsprechend überschneiden sich die Ansätze in ihren Argumentationen. Diese Unterscheidung ist auch hinsichtlich des „Erfahrungslernens“ nicht unbedingt notwendig, denn natürlich kann man die „Wirksamkeit“ von Erlebnissen auch aus der Sicht des „Erfahrungslernen“ erklären:





Etwas sehr Ähnliches wie Dewey hat 1906 auch Wilhelm Dilthey in Bezug auf die Erlebnispädagogische Kernmetapher, das Erlebnis, deutlich gemacht: „Da Erlebnisse völlig individuelle und daher auch nicht manipulierbare, irrationale, emotionale Ereignisse sind, ein inneres Bewegt- und Ergriffensein, genau deshalb benötigen Erlebnisse ihrer rationalen Durchdringung, wenn eine Einheit von Denken und Fühlen, von Erlebnis und Erfahrung hergestellt werden soll.“





113







Interessanterweise wird Dilthey dementsprechend auch als Vertreter „der Psychologie des ERLEBENS“ eingeordnet.

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 Auch Erlebnisse müssen also „rational durchdrungen“ (Dilthey) werden. Der wesentliche Unterschied liegt in der Argumentation der „Wirksamkeit“ und der daraus folgenden didaktischen Umsetzung.



Für die „moderne Erlebnispädagogik“ ist, wie schon oben erwähnt, sicher der Ansatz von Dewey spürbarer und relevanter als der von Dilthey und auch, auf Seite der Theorie, von Hahn. Dies mag einerseits auf den starken Einfluss von Dewey und Thoreau auf die amerikanische Pädagogik und damit auf die „amerikanische Outward Bound Schools“ zurückzuführen sein, andererseits aber sicher auch auf den breiteren Ansatz von Dewey, der praktisch-methodisch-didaktisch leichter umsetzbar, eben pragmatisch, erscheint. Denn im Gegensatz zur aufwändigen, unsicheren Erzeugung wirkmächtiger Erlebnisse scheint bei einer didaktischen Gestaltung im Sinne von Dewey schon die Berücksichtigung der „Reflexion von Handlungen“ in der Planung ausreichend. Dementsprechend ist der handlungsorientierte Ansatz vor allem im Bereich der konzeptionellen Planung von Trainingsund Entwicklungskonzepten anzutreffen. John Dewey wird auch oft als „Begründer“ der Organisationsentwicklung bezeichnet. Gerade in der Personalentwicklung, in der Organisationsentwicklung und in der modernen Teamentwicklung wird oft in so genanten „Outdoortrainings“ auf erlebnispädagogische Methoden zurückgegriffen:



Gairing hat darauf hingewiesen, dass Deweys rigoroses Entwicklungsparadigma die Plattform für die moderne Organisationsentwicklung geschaffen hat. Ob bei Caritas, Jugendherbergs werk oder der Deutschen Bank: Die aktuellen OE-Prozesse sind ohne Dewey kaum zu denken. Auch die in den meisten Unternehmen vollzogene Kehrtwende in der Erstausbildung antizipierte Dewey schon 1916: die einzige Form der Ausbildung für den Beruf ist durch den Beruf. (…) Deweys Ansatz ist verblüffend radikal, indem er die Erfahrung als den „Lernort“ seiner Pädagogik positioniert

.

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Daneben erscheint „Learning by doing“ als Schlagwort auf den ersten Blick als leicht einzulösendes Konzept und übte sicher zusätzlich einen starken Reiz auf Praktiker / -innen aus. Hier zeigt sich die auch heute in der modernen erlebnispädagogischen Literatur oft angesprochene Diskrepanz zwischen Theoretikern / -innen und Praktikern / -innen:



Deweys Pragmatismus wirkte auf den ersten Blick technokratisch und theoriefeindlich: Ein Gramm Erfahrung ist besser als eine Tonne Theorie, einfach deswegen, weil jede Theorie nur in der Erfahrung lebendige und in der Nachprüfung zugängliche Bedeutung hat

.

116



Dieser Theorie Praxis Gap ist sozusagen ein Urproblem der Pädagogik als Wissenschaft.



2.2.2 Exkurs: Dewey, Hahn und Thoreau: Veränderung durch Erziehung



Während Dewey durch die Projektmethode und die reflexive Ausrichtung in Form des Erfahrungslernens einen großen Einfluss auf die didaktische Gestaltung des Schulunterrichts ausübte

117

, steht ein zweiter nordamerikanischer „Pädagoge“, Thoreau, der ebenfalls zu den „Urvätern“ der Erlebnispädagogik gezählt wird, für das „Prinzip der Unmittelbarkeit“:



Während eine europäische Erziehungsgeschichte ohne Rousseau, eine amerikanische Philosophiegeschichte ohne Thoreau unvollständig bleibt, ist das Thoreausche Gedankengut im europäischen Kulturraum einer seltsamen Vergessenheit preisgegeben. Nur gelegentlich leuchtet die Persönlichkeit dieses Propheten und Poeten, Philosophen und Pädagogen im Pantheon der Unsterblichen auf. So vor 25 Jahren, als Thoreau als Prophet der 68er Generation herhalten musste, oder als bekannt wurde, dass Mahatma Ghandi Thoreaus Buch „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ fast immer im Reisegepäck hatte. (…) Die Natur ist die große Erzieherin und Lehrmeisterin. Während Rousseau im „Emile“ die Erziehung durch die Natur, die Dinge und den Menschen sozusagen am Reißbrett entwirft, liefert Thoreau ein praktisches Beispiel der Lebenskunst. Am 4. Juli 1845, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, zieht er in eine selbst gebaute Hütte am Walden-See in der Nähe seiner Heimatstadt Concord. Das Evangelium der Einfachheit und Einsamkeit ist aber kein romantischer Rückzug in die Natur, sondern baut auf einem durchaus komplexen Gedankengebäude auf, das zu einem nicht geringen Teil durch die besondere historische und persönliche Situation von Thoreau zu erklären ist. Zweieinhalb Jahre später beendet Thoreau sein Walden-Experiment und verdingt sich als Hilfskraft im Hause des Philosophen Ralph Waldo Emerson

.

118



Thoreau, Dewey und Hahn strebten alle drei eine gesellschaftliche Veränderung durch die Erziehung an: Dewey durch die Erziehung zur Demokratie, Hahn durch die Erziehung zur Verantwortung und Thoreau durch die Erziehung zur „Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“.

119

 Diese Entwürfe zur gesellschaftlichen Veränderung sind in der „modernen Erlebnispädagogik“ nur mehr sehr rudimentär nachzuspüren, während der „methodischtechnische“ Anteil stark zugenommen hat. Allerdings ist das Fehlen solcher Entwürfe einZeichen der heutigen „postmodernen Gesellschaft“, in der der Entwurf einer „einheitlichen (Gesellschafts-)Theorie“ nicht so richtig gelingen mag (man denke da nur an die Wertediskussionen zum Thema Familie). Vielleicht macht ja gerade dies den Reiz einer Methode oder Teildisziplin einer Wissenschaft aus, in der das Schlagwort der „Ganzheitlichkeit“ von großer Bedeutung ist.



Alle drei Personen und der Pragmatiker William James stellen wesentliche Protagonisten für die Ideengeschichte der Erlebnispädagogik dar:



Letzten Endes bleiben vier Männer übrig, die mit ihren Wegen, Werken und Gedanken die geistigen Grundlagen der modernen Erlebnispädagogik wesentlich beinflusst haben: Kurt Hahn, Henry D. Thoreau, William James und John Dewey. Besonders der Letzte zählt als bedeutender Vertreter der Philosophie des Pragmatismus zu den geistigen Vordenkern einer handlungsorientierten Pädagogik, mit dessen Intentionen sich die meisten Outdoor-Pädagogen identifizieren können. (…) Nach Dewey hat Philosophie ihren Ursprung nicht in intellektuellem, sondern in sozialem und emotionalem Material. Er bezieht sich auf den Nonkonformisten William James, der auch zu Hahns geistigen Vätern gehört, dass „Philosophie Vision“ sei und ihre Hauptaufgaben darin bestehen, den menschlichen Geist von Voreingenommenheit und Vorurteil zu befreien. Dies ist der Schnittpunkt, in dem sich James, Hahn und Dewey treffen und der Outward Bound-Bewegung, der Erlebnispädagogik (Experiental Education) und der handlungsorientierten Pädagogik ihre philosophische Grundlage geben – wo sich das „Visionäre“ mit dem „Social Engineering“ verbindet

.

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42

 Allison (1999), S. 99.



43

 dtv – Wörterbuch Pädagogik (2004), S. 544.



44

 Müller (2000), S. 25.



45

 vgl. dazu Ziegenspeck (2000), S. 239 – 242. Hier wird das Konzept von Hahn überblicksartig vorgestellt.

 



46

 vgl. Definition nach Müller, Wolfgang.



47

 vgl. Schwarz (1968), S. 38.



48

 Schwarz (1968), S. 44.



49

 Zur Krankheitsmetapher siehe

Abschnitt 3.1.1

.



50

 Dieses Axiom über die Wirkung des Erlebnisses geht auf den „Pragmatiker“ William James zurück.



51

 Hahn zitiert nach Bauer (2001), S. 31.



52

 Dabei muss allerdings erwähnt werden, dass gerade in den USA die Behavioristische Psychologie sehr stark präsent ist und dementsprechend die Grenze zwischen „Erziehung“ und „Therapie“ wieder etwas verwischt. Vgl. dazu auch z. B. die therapeutischen Ansätze des Adventure Based Councelling, entstanden aus Project Adventure, dargestellt z.B. in Nasser (1993).



53

 Eckern, Schad (1998), S. 180.



54

 Schlich (1994), S. 14.



55

 Bonarius (1992), S. 32.



56

 Heckmair, Michl (2002), S. 79.



57

 dtv – Wörterbuch Pädagogik (2004), S. 446.



58

 Cohn zitiert nach Hufenus, Kreszmeier (2000), S. 13.



59

 Cohn zitiert nach Bauer (1989), S. 29.



60

 vgl. Warzecha (1994), S. 7.



61

 Moreno zitiert nach Hufenus und Kreszmeier (2000), S. 13.



62

 vgl. Hufenus, Kreszmeier (2000), S. 13.



63

 vgl. Warzecha (1994), S. 8.



64

 Schlich (1994), S. 14.



65

 dtv - Wörterbuch Pädagogik (2004), S. 446.



66

 Warzecha (1994), S. 7.



67

 dtv - Wörterbuch Pädagogik (2004), S. 446.



68

 vgl. dazu Definition XIII und Amesberger (2003).



69

 Leibner (2004), S. 67.



70

 Gilsdorf (2004)



71

 Als kurze Einführung Eckern, Schad (1998) und weiters die schon zitierten Warzecha (1994) und Schlich (1994). Beide und noch weitere Beiträge zu diesem Thema, in erleben und lernen, Zeitschrift für handlungsorientierte Pädagogik 6/94.



72

 dtv - Wörterbuch Pädagogik (2004), S. 418 – 421.



73

 dtv - Wörterbuch Pädagogik (2004), S. 189.



74

 Zum Thema der Zielgruppe für Erziehungsprozesse und des „lebenslangen Lernens“ siehe Kapitel 11.



75

 Neubert (1990), S. 77. verfasst 1925, publiziert 1930.



76

 Bibliographische Details zum Nachweis des Begriffs: Kneisel, 1926 (Schott S. 227 – 230); Fischer, 1926 (Schott S. 230 – 238); Lehmann, 1927 (Schott S. 238 – 243) und schließlich Nohl, 1933 (Schott S. 243 – 246); entnommen aus Schott (2003), S. 248.



77

 vgl. Neubert (1990), S. 30 – 38; Kapitel: Das Eindringen des Erlebnisses in die Didaktik der Ausdrucksfächer.



78

 Neubert (1990), S. 77.



79

 vgl. Schott (2003), S. 225.



80

 Neubert (1990), S. 70 – 78.



81

 Fischer, Ziegenspeck (2000), S. 233.



82

 Heckmair, Michl (2002), S. 18. Vgl. dazu auch Fischer, Ziegenspeck (2000), S. 19.



83

 Oelkers ist einer der pointiertesten und genauesten Kritiker; vgl. dazu Oelkers (1995) und Oelkers (1998).



84

 vgl. Oelkers (1995) und Oelkers (1998).



85

 vgl. dazu z.B. die Theorien der Risikogesellschaft (Beck) und der Erlebnisgesellschaft (Schulze)



86

 Ziegenspeck (1990), S. 81.



87

 entnommen aus Fischer, Ziegenspeck (2000), S. 235 – 236.



88

 Stichwort „realistische Wende“ und „kritische Pädagogik“. Vgl. dazu Kron (1999) und Kron (2001), zum Überblick Gudjons (2003).



89

 Müller (2002), S. 25.



90

 siehe dazu auch Schenz 2006.



91

 Schott (2003), S. 125 - 157.



92

 vgl. dazu vor allem Hufenus, Kreszmeier (2000).



93

 Wörterbuch der Pädagogik (2005), S. 272.



94

 Pädagogische Grundbegriffe (2004), S. 705.



95

 Heckmair, Michl (2002), S. 31.



96

 Heckmair, Michl (2002), S. 32. Das oft auch in Zusammenhang mit Dewey rezipierte „Trial and error Prinzip“ gehört allerdings in den Bereich der Lerntheorien (Thorndike). Aber trotzdem wird es in der erlebnispädagogischen Literatur oft im Zusammenhang mit dem „handlungsorientierten Ansatz“ erwähnt.



97

 Dabei gibt es unterschiedliche Ansichten, ob die Projektmethode tatsächlich von Dewey begründet wurde. Prinzipiell wird er gemeinsam mit William H. Kilpatrick genannt, wobei Dewey wohl als „philosophischer Urvater“ zu werten ist und Kilpatrick als praktischer Umsetzer. Vgl. dazu ausführlicher Schreiner (1991), S. 14 – 15.



98

 Bauer, Nickolai (1989), S. 17.



99

 Zum Vergleich sei ein Blick in die Tagungsbände des Internationalen Kongresses „erleben und lernen“ empfohlen. Hier gewinnt man jeweils einen guten Eindruck über die Vielfalt der Projekte, die sich alle unter dem Begriff des „handlungsorientierten Ansatzes“ versammeln. Vgl. dazu zum Beispiel Ferstl, Scholz und Thiesen (Hrsg.) (2006).



100

 „erleben und lernen“, abgekürzt e&l, ist eine der zwei deutschsprachigen Fachzeitschriften und wohl „die“ Fachzeitschrift der „professionellen Erlebnispädagogik“. Im Untertitel führt sie die Bezeichnung „Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen“. Aus diesem Umfeld werden auch die regelmäßig stattfindenden Fachkongresse organisiert und in Form von Tagungsbänden veröffentlicht. Diese Kongresse zählen zu den wichtigsten Treffen der deutschsprachigen, „erlebnispädagogischen Commu

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