Homo sapiens movere ~ geschehen

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Schnellstens.

Nur leider sagte mir mein gesunder Menschenverstand auch, dass es keine Monster gab. Doch genau die hatte ich heute zuhauf gesehen. Ausreichend für ein ganzes Leben. Also trottete ich ihr hinterher ins Haus. Gefolgt von Roy, der nicht mein Freund war.

Diese Kleinigkeit konnte ich später immer noch korrigieren.

Tja, meine Familie war augenscheinlich größer als eigentlich angenommen: Eine neue Tante, ein neuer Onkel und deren Kinder. Dafür musste mir erst die Welt um die Ohren fliegen. Gleichzeitig erfuhr ich, dass sie seit 33 Jahren von meiner Existenz wussten. Also seit etwa einem Jahr nach meiner Geburt. Meine Eltern wussten nichts davon, dass ein Teil der Familie meines leiblichen Vaters mich im Auge behielt. Die gesamte Zeit über, obwohl es – laut deren Aussage – nicht immer leicht gewesen war.

Rick Fraser, mein leiblicher Vater, der nur einen Monat nach meiner Geburt tödlich verunglückt war, hatte zum Zeitpunkt meiner Zeugung und Geburt kaum bis keinen Kontakt zu seiner Familie gehabt. Kein Wunder also, dass meine Mutter niemals jemanden erwähnt hatte. Zumindest konnte ich mich nicht erinnern.

Doch das war noch nicht mal der Brüller der Enthüllungen.

Nein!

Der Wolf, der uns hierher geführt hatte, war – tadaaa – der Mann meiner Tante. Und deren Kinder hatten ebenfalls alle einen Wolf in sich. Die jüngste war 17. Der Älteste – Achtung festhalten – 49! Dabei sah er aus wie Mitte 20. Von jedem war ich herzlichst umarmt und beinah erdrückt worden. Sie lebten alle hier.

Unter einem Dach.

Ich wäre längst durchgedreht.

Still nahm ich die Erklärungen in mich auf. Ich war viel zu viel von allem, um irgendwelche Fragen zu stellen. Sprachlos. Entsetzt. Enttäuscht. Verwirrt. Und… ja, auch ein bisschen wütend. Erst nach einer heißen Dusche und in frischen Klamotten war mein Gehirn wieder in der Lage Fragen aufzuwerfen. Dutzende. Allen voran, warum sie nie zuvor Kontakt mit mir aufgenommen hatten. Meine Eltern hätten sicher nichts dagegen gehabt.

„Unser Alpha hat es nicht gestattet.“ Alpha? Beta, Gamma, Delta? Ich erfuhr, dass ein Alpha der Anführer eines Rudels war. Derjenige, der das Sagen hatte. Rudel… meine Güte. Sie waren doch Menschen! Also, irgendwie jedenfalls. Oder zumindest meine Tante. Mein neuer Onkel klärte mich auf. Einigermaßen. Wahrscheinlich gerade so viel, dass ich es verstand. Ich schnappte nach Luft als ich sein Alter erfuhr. Er lachte kehlig. Meine Tante schmunzelte. Auch sie war älter als sie aussah. Und dank der Rudelmagie würde sie weiterhin nur langsam altern. Somit war sie in der Lage länger zu leben als jeder andere Mensch.

Sobald ich einigermaßen zur Ruhe käme, würde ich sicher neidisch sein. Im Moment war ich zu aufgewühlt. „Wo ist Roy?“

„Mit den Jungs das Motorrad holen.“ Den Jungs. Also… Werwölfen. „Die uns vorhin verfolgt haben, gehören zu eurem Rudel?“ Eric bejahte. „Unser Alpha hat den Angriff nicht untersagt. Aber keine Sorge, ihr seid sicher. Ihr gehört zur Familie.“

Ich beschloss vorerst nicht zu erwähnen, dass Roy und ich uns kaum kannten. Glücklich machte mich die Aussage bei Weitem nicht. Wie konnte eine Respektperson nur solche Gewalt zulassen? Oder gar anordnen? Dumme Frage. Machten wir Menschen nicht dasselbe? „Und die zwei vorhin im Wald? Waren das wirklich Vampire?“

„Sie waren etwas mehr als das. Es wundert mich, dass sie überhaupt unterwegs waren.“ Wunderte mich auch. Eric schien meine Gedanken zu erraten. „Nicht, weil es noch hell war. Sondern weil sie sich eher selten unters Volk mischen und dabei gesehen werden.“

Also… äh… zu meiner Beruhigung trug das nicht bei.

„Wisst ihr, was da draußen vor sich geht?“ Bang wartete ich auf die Antwort. Thea sprach zuerst. „Krieg, meine Liebe. Revolution. Nenn es, wie du willst. Eine vollkommene Umwälzung. Dank des menschlichen Militärs und dessen radikalem Vorgehen haben sich die Andersweltler entschlossen aus der Deckung zu kommen. Mit einem riesigen Knall.“ Jepp. So konnte man es auch bezeichnen. „Warum jetzt? Warum mit Gewalt? Die meisten, die getötet werden sind Unschuldige.“ Eric antwortete, dass dies der Preis der Freiheit sei. „Wir haben lang genug im Verborgenen gelebt. Du weißt, wie das Militär reagiert. Wie die meisten Menschen reagieren. Sieh dir nur den Mist mit den movere an. Die löschen ganze Familien aus. Schlimmer noch, Leute die denen im Weg sind. Wir haben genug Selbstvertrauen, um uns zu wehren. Die movere hingegen kaum. Die meisten von ihnen haben Angst zu Mördern zu werden. Wir nicht. Allerdings ist es bedenklich, wie viele von uns und den Vampiren die absolute Macht wollen. Die Menschen können sich auf eine radikale Änderung ihres Lebens gefasst machen.“

„Das Militär hat keine Chance, oder?

„Nein. Dafür sind wir zu viele. Es sind nicht nur wir Werwesen und die Vampire, die sich outen, Chantalle.“ Ich schluckte. Mein Gesicht verriet meine Panik. „Ich muss meinen Bruder finden. Mom, Paps, meine Schwester. Wir haben einen Treffpunkt.“ Eric und Thea sahen sich an. „Das Sommerhaus?“ Wow, die waren wirklich gut informiert. „Lang wird der Umbruch nicht dauern. Eine Woche; maximal. Dann könnt ihr aufbrechen. Im Moment jedoch seid ihr bei uns am sichersten.“ Theas Worte klangen sanft. Deren Inhalt jedoch alles andere als das.

Umbruch? Ich schluckte unsicher. Was da draußen passierte, war eine Katastrophe!

Noch nie hatte ich so viel Gewalt erlebt. So viele Tote gesehen.

Im Grunde war ich nie nah am Wasser gebaut. Doch jetzt brachen der Kummer, die Angst und die Ungewissheit mit einem wahren Sturzbach an Tränen aus mir heraus.

Eric ließ uns allein.

Thea zog mich in ihre Arme, rieb mir sacht mit den Händen über den Rücken und ließ mich weinen. Nach einigen Minuten verebbten meine Tränen. Zurück blieben ein paar verhaltene Schluchzer. „Komm. Du bist sicher hungrig. Roy kann später mit den Jungs essen.“ Ich nickte, auch wenn mir kein bisschen nach Essen war. Allerdings war mein knurrender Magen anderer Meinung. Umso überraschter war ich über die Torte, die Kerzen, die Blumen und ein kleines Geschenkpaket. Mit offenem Mund blieb ich an der Küchentür stehen. „Happy Birthday, Chantalle.“ Sie hatten es gewusst! Hatten gehofft mich zu finden; in Sicherheit zu bringen. Erneut wollten meine Tränendrüsen ihre Arbeit aufnehmen. Ich zwang sie zurück. „Danke. Ich weiß gar nicht, was ich sagen…“ Thea winkte ab. „Nicht nötig. Es ist dein Geburtstag, auch wenn draußen gerade alles irgendwie den Bach runtergeht. Oh…“, sie räusperte sich, „… Sag Eric bloß nicht, dass ich das gesagt habe.“ Ich nickte, ein kleines Lächeln auf dem Gesicht. „Komm. Ein Stück Torte? Du kannst auch gern was Herzhaftes bekommen. Ist ja eigentlich fast Abendbrotzeit.“

„Ein Stück Torte klingt hervorragend.“ Thea nickte, schnitt die Torte an und legte uns beiden je ein Stück auf einen Teller. „Mom, ich nehm auch eins.“, vernahm ich die Stimme der Jüngsten. „Oh, ich auch.“, folgte sofort die meiner anderen Cousine. Leise lachend schnitt Thea auch denen je ein Stück ab, legte sie auf Teller und stellte diese auf den Tisch. „Will irgendjemand Kaffee?“ Ein dreistimmiges Ja hallte durch die Küche. Alsbald standen vier dampfende Tassen auf dem Tisch. Das Geklapper der Kuchengabeln wurde von kurzweiligem Plaudern übertönt. Ich fühlte mich behaglich. Fast wie… nun ja, zu hause. Trotz der alles andere als glücklichen Umstände, die mich hierher geführt hatten.

Natürlich machte ich mir Sorgen um meine Familie. Doch so nett, wie ich hier aufgenommen wurde, konnte ich das für ein paar Augenblicke vergessen. Oder zumindest in den Hintergrund drängen.

Plötzlich drehten die jungen Frauen alarmiert den Kopf zur Seite und sprangen auf. Ich sah Thea an, die wohl ebenso wenig hörte wie ich. Allerdings wesentlich schneller reagierte. Bei ihrem Ton zuckte sogar ich zusammen. „Audrey Teresa Lucia Weißhaupt, du bleibst hier!“

„Moooom!“

„Nichts da. Du bist noch keine 18. Punkt und aus. Und du…“, Thea wandt sich ihrer anderen Tochter zu, „…sei vorsichtig!“

Schmollend und mit rollenden Augen plumpste Audrey wieder auf ihren Stuhl. Marlene, die ältere meiner Großcousinen, raste aus der Küche. „Papa kommt doch auch mit.“ Thea presste fest die Lippen zusammen. „Dein Vater, die Jungs und deine große Schwester sind erfahrener als du. Ich weiß, das hörst du nicht gern. Aber wie wirst du dich fühlen, wenn einer von ihnen verletzt wird, weil sie dich schützen?“ Ich sah, wie der Teenager die Hände zu Fäusten ballte. Allerdings nickte sie. Offensichtlich gefiel ihr diese Vorstellung noch weniger. „Was ist da draußen los?“ Nach wie vor hörte ich nichts. Thea seufzte, Audrey antwortete. „Ärger.“ Sie schien immer noch wütend zu sein. Immerhin war sie zur Tatenlosigkeit verdonnert. „Ich bin froh, dass du hier bist.“, sagte ich deshalb diplomatisch. „Du bist quasi unsere letzte Verteidigungslinie. Deine Mutter und ich könnten natürlich auch mit Pfannen und Tiegeln um uns schlagen. Aber ich bezweifle, dass das ernsthaften Schaden anrichtet.“ Audrey lachte leise. „Sähe bestimmt lustig aus.“ Theas Lippen zuckten verräterisch. „Na gut. Du kannst vor die Tür gehen, wenn dir das lieber ist. Aber bleib bitte in der Nähe.“ Audrey nickte. Wie ein Blitz eilte sie hinaus. Thea atmete geräuschvoll aus. Ihr Gesicht voller Sorgen. „Es ist schwer, anders zu sein. Meistens stört es mich nicht. In solchen Situationen jedoch…“ Sie schluckte.

Trotz der fühlbaren Anspannung ließ ich mir die Torte schmecken. Ich war hungrig. Außerdem war mein Geburtstag!

„Welche Art Ärger meinst du, ist da draußen?“ Thea zuckte mit den Achseln und schob sich ein Stück Torte in den Mund. „Keine Ahnung. Sicher ein paar vom Rudel, die noch nicht wissen, dass Roy und du zur Familie gehören.“ Jetzt war ich diejenige, die zusammenzuckte. „Das spricht sich wohl nicht so schnell rum, hm?“ Thea lächelte. „Theoretisch schon. Aber es gibt immer ein paar Klugscheißer. Kennst du doch. Teenager vermutlich.“ Ah ja… eine Gang. Sowas kam also auch bei Werwölfen vor? Wenig beruhigend. Gleichsam kam mir ein anderer verstörender Gedanke. „Wenn Roy sich verteidigt und einer aus dem Rudel stirbt, was dann?“ Meine Tante runzelte die Stirn. „Nimm’s mir nicht übel, Chantalle. Aber ein Mensch gegen Werwölfe? Da muss er schon sehr viel Glück haben. Die sind verflixt schnell. Ganz zu schweigen von deren Kraft.“

 

„Abgesehen von Kraft und Geschwindigkeit… äh… sind sie feuerfest? Immun gegen Eiseskälte? Und ich meine solche Kälte, die Metall brüchig macht.“ Thea lächelte verschmitzt. „Roy ist ein movere? Nun, dann könnte er tatsächlich Glück haben. Es ist Notwehr. Die gilt auch im Rudel als solche. Beantwortet das deine Frage?“ Hm. Immerhin eine gute Nachricht. Dennoch machte ich mir Sorgen um Roy. Den Exfreund meiner Freundin. Mit dem mich sonst überhaupt nichts verband. Thea mochte meine Tante sein. Doch inwiefern konnte ich ihr diesbezüglich trauen? Was, wenn Roys Schutz aufgehoben wurde, weil wir zwei nicht liiert waren? Ich entschied mich darüber Stillschweigen zu bewahren. Schadete keinem.

Umso perplexer war ich, als sie meine Zweifel aussprach. „Wir sind ganz gut über dich informiert, Chantalle. Bis vorgestern hattest du keinen Freund. Allerdings scheinst du ihn zu kennen.“ Ich atmete hörbar aus. So schnell war die Katze aus dem Sack. Schön. Also konnte ich Thea ebenso gut aufklären. „Magst du ihn?“ Ihn mögen? Dafür kannte ich ihn zu wenig. Obendrein war er ein movere. Möglicherweise – nein – ganz bestimmt gefährlich. Aber auch für mich? „Äh… mögen… naja, er ist der Freund“, ich korrigierte mich, „Exfreund meiner Freundin.“ Thea nickte. „Und? Gefällt er dir oder nicht?“ Das war eine verzwickte Frage. Eine, mit der ich mich im Moment nicht auseiander setzen wollte. Also zuckte ich nur mit den Achseln. Thea starrte mich an. Um eine Antwort kam ich wohl nicht herum. „Geht so.“, sagte ich leise, was sie glucksend lachen ließ. Warum kam ich mir wie ein ertappter Teenager vor? Als steckte hinter Theas Frage etwas anderes als das allgemein Ersichtliche.

Ein lautes Krachen der Haustür vertrieb dieses Gefühl. Unmittelbar vor dem Küchentisch kam ein riesiger Wolf zum Stehen. Mein Herz klopfte in meinen Ohren. Aus reinem Reflex sprang ich auf und versuchte mich in Sicherheit zu bringen. Erst da bemerkte ich, dass um den Wolf ein wahrer Funkenregen ausbrach. Wunderschön. Ehrfurchtgebietend. Mystisch.

Und dann stand dort meine Cousine.

Nackt.

Thea warf mir einen kurzen Blick zu, der besagte, dass ich mich daran gewöhnen würde. Ich bezweifelte das. Im selben Augenblick sah sie jedoch irritiert zu Audrey, die uns mit leiser Stimme sagte, das besprochene Notfallszenario wäre eingetroffen. Thea und auch ihre Tochter schienen erstaunlich ruhig. Ich jedoch hatte Hummeln im Hintern und stand kurz vor einem Herzkasper.

Worüber auch immer sie jetzt sprachen, ich verstand gar nichts. Vor allem erinnerte ich mich an kein besprochenes Szenario. Gleich recht keins mit dem nervenaufreibenden Zusatz ‚Notfall‘. „Glücklicherweise haben wir eine Frau hier, die hervorragend mit Waffen umgehen kann.“ Thea sah wissend in meine Richtung. Ich blinzelte. Nickte. Kam es mir nur so vor oder war die Luft im Haus plötzlich dünner. „Ruhig, Chantalle. Atmen. Wir passen schon auf dich auf.“ Es behagte mir gar nicht, dass ich mich außen vor fühlte. Ich musste mich schleunigst zusammenreißen. Herr Gott nochmal, ich war 34! „Von welchem Notfall sprecht ihr?“ Thea und Marlene wechselten einen stummen Blick. Dann sprach meine Nichte. „Genau weiß ich es nicht. Aber Papa hat das Rudel gerufen.“ Funktionierten denn hier draußen Handys?

Oder gar das Telefon?

Thea musste meine Überlegungen bemerkt haben. „Als Wölfe kommunizieren sie anders.“ Ich schluckte. Wenn Eric Verstärkung rief, waren er, drei weitere Wölfe und Roy in Bedrängnis. Richtig? Aber welcher Art? „Was könnte der schlimmste Fall sein?“ Thea holte tief Luft. „Alle denkbaren Möglichkeiten sind kein Zuckerschlecken: Das Militär. Andere Raubwesen. Wobei wir das Militär hören müssten.“ Falls sie nah genug dran waren. „Hörst du etwas?“ Thea sah ihre Tochter fragend an. Die neigte den Kopf, schloss die Augen. „Nein. Aber ich habe deutlich Papas Warnung gehört und seinen Ruf nach dem Rudel.“ So musste man sich im Krieg fühlen.

Waren wir im Krieg?

Eric hatte es vorhin angedeutet. Ich wollte ihm nicht glauben. Die Ungewissheit nagte an mir. Und da war noch etwas anderes, was mir Sorgen bereitete: Raubwesen. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was Audrey damit meinte. Um ehrlich zu sein legte ich auch keinen gesteigerten Wert darauf es leibhaftig zu erfahren. „Und jetzt? Bleiben wir hier sitzen oder gehen wir in den Keller?“

„Wir haben keinen Keller.“

„Bunker?“

„Auch nicht.“ Scheiße! „ Wie ist euer Plan?“ Audrey war bereits aufgesprungen und mit unglaublicher Geschwindigkeit aus der Küche gerast. Innerhalb weniger Sekunden war sie wieder da. In den Händen mehrere Handfeuerwaffen sowie zwei Gewehre. Das eine sah aus wie das eines Scharfschützen. Wer sowas nicht kannte, glaubte vermutlich der Schütze hätte vergessen das Visier zu öffnen. Dabei war lediglich ein kleiner Schlitz darin zu finden. Wer von den beiden Frauen war dazu in der Lage einen Scharfschützen abzugeben? Audrey befand ich dafür als zu jung. Allerdings hatte ich Thea bisher nur die Rolle der Mutter und Hausfrau zugetraut. Oder wussten sie, dass ich dazu in der Lage war?

Natürlich!

Darum hatte Thea diese Äußerung von sich gegeben. Wie war es ihnen nur gelungen das herauszufinden? Paps hatte mich inoffiziell an der Waffe ausgebildet. Noch inoffizieller war nur, dass ich die Position eines Snipers einnehmen konnte. Im Gegensatz zu einer professionellen Ausbildung, in der auch das psychologische Profil eine entscheidende Rolle spielte, hatte ich allerdings nur gelernt, wie ich mein Ziel traf. Mir blieb keine Zeit darüber nachzudenken, wie sie das herausgefunden hatten.

Keine Minute später war Audrey das zweite Mal zurück. Beladen mit Munition. „Ok, Mädels, zuhören!“ Thea klatschte in die Hände. „Audrey, du kennst das theoretische Prozedere. Trotzdem zuhören. Chantalle?“ Ich nickte, Thea sprach weiter. „Bewaffnetes, angriffsbereites Militär handlungsunfähig machen. Notfalls ausschalten. Ein anderes Rudel – für dich und mich wird es schwierig. Für dich jedoch noch schwieriger als für mich. Du kennst die Wölfe nicht. Vampire – dann sind wir im Arsch. Die sind noch einen Tick schneller, können sich außerdem teleportieren. Dämonen – hoffen wir, dass es keine sind. Dann würde uns selbst ein Flammenwerfer nichts nützen.“ Flammenwerfer klang ausgezeichnet. „Habt ihr einen?“ Audrey unterdrückte ein Kichern. Thea rollte mit den Augen. „Sollte man meinen, nicht? So mitten im Wald.“ Ach ja, Bäume… und Feuer… vertrug sich schlecht.

Es war eine Weile her, seit ich das letzte Mal eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Zumindest, um damit zu schießen.

Beinah acht Jahre, um genau zu sein.

Mehr als dass ich danebenschoss, konnte also nicht passieren. Naja, und dass ich den Löffel abgab.

„Beeilt euch!“, drängte Audrey, die ihren Kopf leicht schräg legte. Was immer sie hörte, musste sie ängstigen. Falls ich ihren Gesichtsausdruck richtig deutete. Thea zog sich rasch an. Ich ebenfalls. Als ich jedoch meinen Rucksack holen wollte, schüttelte sie den Kopf. Packte mich am Ärmel. „Keine Zeit mehr. Los!“ Na toll. Schon wieder rennen!

Aber wenn ich am Leben bleiben wollte, blieb mir keine andere Wahl. Ich folgte Thea. Hinter uns lief Audrey. Sicher konnte sie schneller laufen, aber wir mussten zusammen bleiben. Kurz vor einem dichten Gebüsch überholte sie uns, riss den linken Arm in die Höhe. Abrupt blieben Thea und ich stehen. „Sucht euch Deckung.“, flüsterte sie.

Dann reichte sie uns die Waffen und wurde zu einem Wolf. Dicht an ihre Mutter gedrängt, bugsierte sie diese hinter eine Hecke. Thea nickte. Legte sich flach auf den kalten Boden. Ich legte mich etwa zwei Meter neben sie. Thea hatte eine Pistole in der Hand. Eine andere als Ersatz neben sich liegen. Ich schnappte mir das Scharfschützengewehr, was mir ein aufmunterndes Lächeln meiner Tante einbrachte. Dann nickte sie. Ich ging in Stellung. Wir hatten genug Waffen – falls eine versagte. Plus ausreichend Munition, um ein Dorf zu vernichten. Das einzige, was mich hindern könnte zu treffen, war das zunehmend schwächer werdende Licht.

Dann hörten wir sie: Wölfe. Menschen. Schüsse. Schreie. Sie kamen näher.

Schnell.

Außerdem Hubschrauber. Panik überfiel mich, die ich rasch versuchte abzuschütteln. Einen Heli mit dem Scharfschützengewehr zu treffen, durch die Bäume hindurch war schlichtweg unmöglich. Vielleicht konnte ein im Dienst stehender das bewerkstelligen, ich jedoch nicht. Am liebsten waren mir unbewegliche Ziele. Oder zumindest solche, die die Flugbahn einer Kugel nicht allzu sehr ablenkten. Die Rotorblätter eines Helikopters waren für mich eine solche Ablenkung. Wirbelten die Luft durcheinander. Unmöglich für eine exakte Berechnung. Da bräuchte ich schon einen Raketenwerfer für zufriedenstellende Ergebnisse. Hier unten hingegen herrschte größtenteils Windstille. Es sei denn, der Hubschrauber würde anfangen über unseren Köpfen zu kreisen. Ich holte tief Luft, schloss die Augen, stieß die Luft wieder aus und schlug die Augen auf.

Die ersten brachen durch die Bäume. Anhand ihrer Tarnfarben waren sie gut als Militär auszumachen. Normalerweise müssten sie meine Verbündeten sein. Aber da sie meine neue Familie angriffen, deklarierte ich sie als Feinde. Das Gewehr war entsichert. Der erste Kopf in meinem Visier. Ich spannte den Abzug, drückte ab. Ein glatter Kopfschuss. Einer tot. Ich hatte gelernt, wie man Menschen am Effektivsten ausschaltete. Freilich hätte ich ihm auch nur ins Knie schießen können. Doch das hätte ihn eventuell weiterhin gefährlich für uns sein lassen.

Weitere rückten nach.

Dank der Wölfe, die ebenfalls zwischen den Bäumen hervor brachen, flog unsere Deckung vorerst nicht auf.

Und dann brach das richtige Chaos los. Wesen – so schön, dass sie unmöglich echt sein konnten – schlossen sich dem Kampf an. Manche als Verbündete, andere wiederum nicht. Verdammt! Da ich bei denen nicht unterscheiden konnte, wer Freund oder Feind war, hielt ich mich an die Uniformierten. Ausgestattet mit Nachtsichtgeräten waren die mir gegenüber im Vorteil. Aber noch war es hell genug. Vielleicht waren es keine Nachtsichtgeräte, sondern Wärmebildsensoren? Konnte gut möglich sein. Würde jedoch meine und Theas Deckung auffliegen lassen.

Die Wölfe waren riesig. Die meisten. Ein paar wenige schienen normalgroß zu sein. Junge? Ich hatte keine Zeit, um Übelkeit aufkommen zu lassen. Ich musste funktionieren. Feinde ausschalten. Denken und fühlen konnte ich später. Falls es ein Später gab.

Die Helikopter schlossen auf. Glücklicherweise hielt sich der Wind am Boden in Grenzen. Dennoch musste ich diese Veränderung beachten, wenn ich weiterhin exakte Treffer landen wollte. Hinter mir knackte es.

Oh Gott!

Ich spürte heißen Atem an meinem Nacken. Fell an meiner Wange. Eine raue Zunge, die darüber leckte. Ich schluckte. Unfähig mich zu bewegen. Thea machte ein Geräusch, das mich ein wenig beruhigte. Anscheinend war das die Verstärkung, und ich wurde lediglich begrüßt.

Vielleicht war es auch nur ein Vorkosten. Woher sollte ich das wissen?

Der Boden vibrierte, als das Tier sich neben mir abstieß und über das Gebüsch sprang. Der riesige Wolf heulte. Ein kurzer, eindringlicher Ton, der mir sämtliche Nackenhaare aufstellte. Ich hatte geglaubt, bereits mitten im Chaos zu sein. Doch was nun begann, erschien mir wie ein Alptraum. Nur dass die Monster auf meiner Seite standen.

Ich… Glückliche.

Die Wölfe richteten sich im Bruchteil einer Sekunde auf. Stellten sich auf die Hinterbeine und… transformierten sich. Anders ließ sich das, was ich sah, nicht beschreiben. Ganz ohne das glitzernde Funkeln, das Audrey vorhin an sich gehabt hatte. Die Beine wurden länger und muskulöser, der Brustkorb um ein Vielfaches breiter. Die Arme und Vorderpfoten kräftiger; mit langen, scharfen Krallen. Das Maul stülpte sich schubweise nach vorn. Die Zähne wuchsen und schienen im Vergleich zu denen der normalen Wölfe gigantisch. Ein wenig sah es so aus, als würden sich das Wesen des Wolfes und das des Menschen zu einem monströseren Wesen addieren. Die Soldaten waren ebenso von dem Anblick gefesselt wie ich. Ein Vorteil für die nun alptraumhaften Wesen – teils Bestie, teils Mensch. Nur dass sie alle gut zweieinhalb Meter groß waren. Na gut, nicht alle. Die kleineren Wölfe blieben, was sie offensichtlich waren: Wölfe.

 

Die Soldaten hatten keine Chance. Schnappen, Beißen, Knurren. Das Reißen von Haut. Brechende Knochen. Hin und wieder Laute aus den Mündern der sterbenden Menschen.

Ein lautes Krachen, gefolgt von Explosionen, kostete mich beinah einen Herzinfarkt. Ich verriss das Gewehr. Die Kugel streifte mein Ziel nicht einmal. Im selben Moment ging mir auf, dass die Hubschrauber verschwunden waren. Waren sie die Ursache der Explosionen?

Es dauerte nicht lang, da zog beißender Qualm in unsere Richtung. Ich glaubte, über den Lärm des Kampfes sogar das Knistern der Flammen zu hören. Ein kurzer Blick in die Richtung zeigte mir jedoch nichts.

Ich richtete meine Augen wieder auf das Schlachtfeld. Genau rechtzeitig. Ein Soldat lief prompt in meine Richtung. Ein Wolf-Mensch-Monster folgte ihm. Packte ihn an den Beinen, riss ihn hoch… und in der Mitte entzwei. Der Oberkörper flog auf mich zu. Blieb im Gebüsch vor mir hängen. Ich starrte auf das tropfende Blut, die noch kurz ungläubig, blinzelnden Augen. Der Mund blieb in einem stummen Schrei geöffnet.

Mein Magen hob sich.

Zitternd holte ich Luft und robbte ein paar Meter zur Seite. Schwache Leistung, Chantalle. Ganz schwach. Er war ein Mensch. Genau wie du. Möglicherweise bist du die Nächste? Meine Gedanken liefen im Kreis. Doch irgendwie schaffte ich es, sie binnen Sekunden wieder in ihre Bahnen zu lenken. Der Kampf war immer noch in vollem Gange. Ohne Soldaten. Aber die Vampire waren noch am Leben.

Im nächsten Augenblick ließ ich das Gewehr fallen und bedeckte meine Ohren. Der riesige Wolf – der nun ein riesiges Mischwesen war – brüllte. Die anderen Wolfswesen hielten inne. Die Vampire ebenfalls. Sowohl die, die auf unserer Seite standen als auch die gegnerischen. Mit drohender Geste schritt der – ich nenne ihn jetzt einfach Wolf – zu einem der Vampire. Der senkte rasch den Kopf. Trat einen Schritt zurück. Der Wolf schnappte nach dessen Hals. Knurrte. Der Vampir trat einen weiteren Schritt zurück. Hob den Blick und seine rechte Hand. Im nächsten Moment sah er zu mir. Ich schwöre: Er sah mir direkt in die Augen. Mein Herz setzte eine Sekunde lang aus, ehe es im wilden Galopp weiterklopfte. „Du hast deine Meinung geändert. Schützt Menschen. Warum?“ Der Wolf… verwandelte sich. Wurde zu einem Mann mit dunklen Haaren. „Sie gehören zu einem von uns. Familie. Du kennst unsere Sitten.“ Der Vampir nickte, gab ein Zeichen. Augenblicklich verschwanden die anderen. Bis auf ihn und die, die mit uns gekämpft hatten. „Verstehe. Aber Derek, du kennst die Menschen. Sie werden dir in den Rücken fallen.“ Der dunkelhaarige Mann nickte kaum merklich. „Wenn es so weit ist, werden wir uns darum kümmern, mein Freund.“ Dabei wandt er seinen Kopf und sah nun mir in die Augen. Noch nie hatte ich derart grüne, intensive Augen gesehen. Der Vampir schnaubte. „So sei es. Deine Menschen, deine Probleme.“

Dann war er weg.

Und ich kapierte erst jetzt, dass er von Menschen sprach. Meinte er Thea und mich? Oder Roy und mich? Ich konnte Roy nirgends sehen. Scheiße! Hatte es ihn erwischt? Allein die Vorstellung war schrecklich. Er war lediglich ein Bekannter, aber… tot?

Ich schluckte, richtete mich langsam auf die Knie und stand schließlich auf. Etwas zittrig zwar, aber ich stand. In der rechten hielt ich das Gewehr. „Thea, komm her. Bring deine Nichte mit.“ Thea, die schon neben mir stand, nahm meine linke Hand. Zusammen liefen wir um das Gebüsch herum zu dem dunkelhaarigen Mann.

Wow, er war riesig!

Selbst in seiner menschlichen Erscheinung. Locker zwei Meter groß. Und attraktiv. Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Himmel, was für Augen. So… „Chantalle, senke deinen Kopf.“ Theas Flüstern erreichte mein Gehirn nicht. „Was?“ Ich sah dem Kerl weiter in die Augen. War er amüsiert oder sauer, war er Single…hm. „Chantalle, den Blick senken!“

„Warum? Oh…“ Schnell sah ich auf meine dreckigen Schuhe. Er war offensichtlich der Alpha. Kein Wunder, das seine Ausstrahlung so… so… gänsehautmäßig-und-zwischen-den-Beinen-kribbelnd-intensiv war.

Fest umklammerte ich das Gewehr. Theas Hand wäre auch hilfreich gewesen, doch sie hatte mich bereits losgelassen. „Thea, geh zu deinem Mann.“ Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sie ihren Mund aufklappte. Ihn aber sofort wieder schloss und mit einem ermutigendem Nicken in meine Richtung zu ihrem Mann lief. Dann richtete sich die Aufmerksamkeit des Alphas – und vermutlich aller anderen Anwesenden – auf mich.

Es fühlte sich an, als würde ein Panzer auf mir parken. Zwei Panzer, korrigierte ich mich, als er seine riesigen Hände auf meine Schultern legte. „Gute Trefferquote.“ Ich nickte langsam. Unsicher, ob ich sprechen sollte. „Für einen Menschen, der nicht zum Militär gehört.“ Ah, daher wehte der Wind. Hielt er mich für einen Verräter? „Ich bin auf verschiedenen Stützpunkten aufgewachsen. Mein Vater war Soldat.“ Er drückte meine Schultern. Kurz. Fest. „Verstehe. Haben Sie Angst vor mir?“ Hatte ich. Würde ich niemals zugeben. „Nein.“ Er lachte leise. „Lügnerin.“ Ich runzelte die Stirn. Er stellte mir die nächste Frage. „Vertrauen Sie mir?“ So sehr mich seine Nähe auch ängstigste, fühlte ich mich bei ihm doch sicher. Aber das konnte ich ihm unmöglich sagen. „Nein.“

„Sie lügen schon wieder. Das werden wir ändern müssen. Später.“ Er nahm die Hände von meinen Schultern, drehte sich um, gab ein Handzeichen und wurde zum Wolf.

Zu einem gigantischen Wolf! Ob man auf dem Reiten kann? Also… äh… wie auf einem Pferd?

Ohne sich umzudrehen trabte er los. An den anderen vorbei. Nahm Geschwindigkeit auf und verschwand. Die restlichen Wölfe – nun wieder in Tiergestalt – folgten ihm. Er war in seiner menschlichen Erscheinung bekleidet gewesen. Im Gegensatz zu Audrey, die vorhin nackt in der Küche gestanden hatte. Lag das am Alter? Konnten sie entscheiden? Oder lag es daran, dass er ein Alpha war?

Zitternd blieb ich, wo ich war.

Mit den Augen suchte ich jedoch den Wald ab. Ich sah Thea. Mit ihrem Mann, ihren Söhnen und ihren Töchtern. Und endlich auch Roy. Offenbar waren alle unverletzt. Bis auf ein paar kleine Kratzer.

Nun… was die Verletzungen betraf, irrte ich mich.

Im Haus erkannte ich die wahren Ausmaße der Auseinandersetzungen. Rhett – mein jüngerer Cousin – hatte einen gebrochenen Arm. John – der ältere – eine ziemlich tiefe Fleischwunde auf dem Rücken. Audreys Oberschenkel war ebenfalls von einer tiefen Fleischwunde entstellt. Roy jedoch hatte es am schlimmsten erwischt. Vorhin hatte ich lediglich geglaubt, er wäre ausgelaugt und würde sich deshalb auf Eric stützen. Dem war nicht so. Inzwischen war er sogar bewusstlos. Eine Kugel hatte seine Schulter durchschlagen. Mindestens eine weitere war in den Bauch eingedrungen. Er blutete heftig, obwohl ein Großteil der Blutungen bereits gestillt war. Bauchwunden waren die schlimmsten. Besonders ohne angemessene, medizinische Versorgung. Zudem zog sich eine lange, blutige Furche über sein Gesicht. Ein Unfall – wie ich erfuhr. Einer der Wölfe war über ihn gesprungen. Sein Hinterlauf hatte Roy im Fallen erwischt. „Mach dir keine Sorgen, Süße. Er wird wieder. Derek hat euch beide als zugehörig erklärt.“

Zugehörig?

In meinem Kopf ratterte es. Wir gehörten jetzt zum Rudel? Meinte Thea das? Sie bestätigte es. Doch wie sollte das Roy helfen gesund zu werden? Weit und breit sah ich keinen Arzt. Von einer nicht vorhandenen sterilen Umgebung einmal abgesehen, auch keinen OP. „Magie. Spürst du sie?“ Ich runzelte die Stirn. Schloss die Augen. Tatsächlich. Kribbelnd und leise summend, zupfte etwas an mir. Hände. Finger vielleicht. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich sogar eine leise, irritierend schöne Melodie vernehmen. Und Worte, die keinen Sinn ergaben. Eine Sprache, die ich nicht verstand. Dabei sprach ich viele Sprachen. Doch die war mir fremd. „Er wird wieder, Chantalle. Die Magie des Rudels ist stark.“ Ich verstand es nicht. Doch ich wollte daran glauben. Glauben, dass es möglich war. Glauben, dass es Magie gab. Glauben, dass diese Magie Roy heilte. Glauben, dass es keines blutigen Rituals bedurfte, um zu einem Rudel zu gehören.

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