Homo sapiens movere ~ geschehen

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Begegnungen

Eigentlich hätte ich – hätten wir – in weniger als zwei Stunden bei unserem ‚Bungalow‘ eintreffen müssen. Er lag nur etwa 150 Kilometer südlich der Stadt. Tja, eigentlich würde ich jetzt mit meiner Familie feiern, Geschenke bekommen, bescheuerte Witze hören, Kaffee trinken und Kuchen essen. Leider passierte im Moment das Gegenteil von allem, was mein menschlicher Verstand glauben wollte oder auch nur ansatzweise kapierte. Wir brauchten beinah zwei Stunden, um aus der Stadt herauszukommen. Roy hatte mir dabei ein, zwei hilfreiche Kommentare zugebrüllt. Er kannte ein paar Schleichwege, von denen ich nichts wusste. In den südlichen Stadtteilen kannte ich mich nämlich kaum aus. Leider brachte die Stadtgrenze nicht die erhoffte freie Fahrt. Ich stöhnte, stoppte das Motorrad und machte es aus. Vor uns verlief die Straße.

Theoretisch!

Praktisch war sie verschwunden. Ein Feld aus Asphalttrümmern, die hier und da wie Mahnmale aus dem Boden wuchsen. Ich nahm den Helm ab und drehte mich halb zu meinem Sozius um. „Und jetzt? Irgendeinen Plan?“ Zum Glück konnten wir hier einigermaßen sehen. Es war nicht ganz so dunkel wie in der Stadt. Vermutlich, weil hier keine Gebäude eingestürzt waren. Der Radweg schien noch befahrbar zu sein… soweit ich das sehen konnte. Roy war derselben Ansicht. Wir stiegen beide ab. Begutachteten den Schlamassel. Denn blöderweise lag zwischen der eigentlich vorhandenen Straße und dem Radweg eine Luftlinie von grob geschätzt zehn Metern. Und diese zehn Meter wiesen – neben der verbogenen Leitplanke – einen tiefen Straßengraben und einen knapp zwei Meter hohen Metallzaun auf. „Der Graben ist ein Problem.“, meinte Roy. Der Graben?

Was war mit der Leitplanke und dem Zaun? Wollte er das Motorrad drüber heben? Drüber werfen? Eine andere Möglichkeit gab es nämlich nicht.

Zum Anfang der Leitplanke zu laufen war irrsinnig. Undurchdringliches Gebüsch schmiegte sich dicht an das Metall. Und das Motorrad wog grob geschätzt etwas über hundert Kilo. Wenn er das anheben konnte, bekäme er von mir einen Orden. Und wahrscheinlich auch einen Hexenschuss. „Ich wünschte, Lucy wäre hier.“ Er schloss fest die Augen. Schluckte. Ballte seine Hände zu Fäusten. Schüttelte den Kopf. „Lucy? Die kann das Motorrad auch nicht anheben.“ Sein Blick verunsicherte mich.

Dann nickte er langsam.

Sehr langsam.

„Lucy hätte es Kraft ihrer Gedanken auf die andere Seite befördern können. Sie ist eine movere.“ Mein Mund klappte auf. Das musste eine Lüge sein. Lucy war keine movere. Das hätte sie mir gesagt. „Hätte sie das?“

Verblüfft schaute ich zu ihm auf.

Er stand plötzlich sehr dicht vor mir. Mit meinen 1,65 war ich nicht unbedingt die Größte. Ich reichte ihm kaum bis zur Schulter. Alles, was ich jedoch im Augenblick wahrnahm, waren seine blauen Augen. Ritterspornblau. „Ich kann keine Gedanken lesen, falls du dich das fragst. Aber dein Gesichtsausdruck spricht Bände.“ Ich nickte. Um beides zu bestätigen. Irgendwie. „Auch ich bin ein movere.“

Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Noch einen. Er lächelte schief. Schnaubte. „Angst?“ Sollte ich die nicht haben? Vermutlich hatte er Lucy nur aufgeführt, damit ich mich jetzt sicher fühlte. Pah! „Ich kenne dich schließlich kaum.“ Roy schnalzte mit der Zunge. „Immerhin gut genug, um mich aus der Stadt mitzunehmen.“ Da war etwas dran. Nur hatte ich zu dem Zeitpunkt noch geglaubt, er sei ein normaler Mensch. Keine… potentielle Bestie. „Warum bist du nicht in Gewahrsam?“ Sein Blick war vernichtend. „Gewahrsam? Bist du so naiv, Chantalle? Movere werden nicht verwahrt. Sie werden vernichtet.“ Stirnrunzelnd widersprach ich ihm. „Nur die Gefährlichen.“ Sein Lachen klang laut in der kargen Stille. „Und wer beurteilt das? Nach welchen Kriterien?“ Erneut schüttelte Roy den Kopf. „Nein Chantalle. Sie beseitigen alle. Ich habe es gesehen. Sie entledigen sich ganzer Familien, nur weil einer davon anders ist. Sogar Babys.“ Er schloss den Mund. Sein Blick glitt in die Ferne. Seinen Kiefer presste er fest aufeinander.

Mein Mund klappte auf und wieder zu. Mir fehlten die Argumente.

Möglich, dass er log. Aber was, wenn er die Wahrheit sagte? „Wir movere sind im Moment nicht das Problem. Hast du die Dinger gesehen? Manche unmenschlich schön, andere als wären sie halb Tier halb Mensch?“ Hatte ich. Und ich hatte keine Erklärung dafür. „Ich möchte fast behaupten es sind Werwölfe oder sowas.“ Roy fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und über die kurzen, blonden Haare. Dann sah er wieder zu mir. „Also: Irgendeinen Plan, wie wir das Gefährt den Graben hinunter und drüben wieder hinauf bekommen?“ Ich zuckte mit den Schultern und schob die Augenbrauen fragend über meine gesamte Stirn. Hätte mein Haaransatz sie nicht gebremst, wären sie bestimmt bis in mein Genick gerutscht. „Schieben?“ Roy sah auf das Motorrad. Zu mir. Dann stieg er über die Leitplanke und inspizierte den Graben genauer. Bückte sich. Studierte die Beschaffenheit. „Trocken. Könnte klappen. Könnte aber auch schief gehen. Ist aber alles ziemlich zugewachsen. Blockiert es, wenn der Motor aus ist?“ Ich verneinte. „Die Bremsen auch nicht?“ Ich verzog den Mund. „Weiß ich nicht.“

„Mist. Mit älteren Modellen und Crossmaschinen kenne ich mich aus. Diese neuartigen Dinger…“ Er holte tief Luft. „Äh… und die Leitplanken? Willst du das etwa drüber heben?“ Er lachte leise. „Ich fühle mich geehrt, dass du mir solche Kraft zutraust. Aber nein, dafür habe ich eine andere Lösung.“ Abwartend sah er mich an.

Fast, als verlange er Stillschweigen von mir.

Dann ging er zügig zur Leitplanke. Legte beide Hände darauf; in einem Abstand von geschätzt anderthalb Metern. Das Metall an seiner linken Hand lief weiß an. Das an seiner rechten begann rot zu glühen.

Mein Mund klappte schon wieder auf. Langsam wurde das zur Gewohnheit. Ich war doch kein Karpfen, verdammt! Obendrein entfuhr mir ein Laut des Erschreckens. Möglicherweise auch des Erstaunens.

Immerhin hatte er mich vorhin mit eben diesen Händen festgehalten.

Die Leitplanke zu seiner linken knackte. Die zur rechten begann zu tropfen. Und dann war sie weg. Abgefallen!

Mit den Füßen trat er das Stück Metall zur Seite. „Beeindruckend, hm?“ Ich äußerte mich nicht. „Ach komm schon. Gib es zu. Ein bisschen bist du neidisch.“ Vielleicht. Würde ich nie im Leben zugeben.

Also zuckte ich lediglich mit den Schultern.

Unsere Unterhaltung verlief leise. Wir wollten keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Nur aus diesem Grund vernahm ich das leise Knacken seitlich von mir. Roy hörte es auch. Ruckartig flogen unsere Köpfe herum. Ich sah nichts. Hörte auch nichts mehr. Roy deutete mit der Hand zum Motorrad. Mit dem Kopf nickte er zum Graben. „Ich halte es vorn. Sollte ich wegrutschen, versuch es von hinten zu stützen. Drüben wieder rauf müssen wir beide nach vorn und schieben.“ Ich nickte zustimmend. Das Risiko, dass einer von hinten schob und das Gewicht des Motorrads uns zurück zog, war extrem hoch. Derjenige hinter dem Krad hätte das Nachsehen. Sichtlich mühelos gelang es Roy das Motorrad den Graben hinunter zu bringen. Bei einer Tiefe von zwei Metern eine Meisterleistung. Besonders da die Böschung eine beachtliche Neigung aufwies. Unten stand das Krad leicht schräg. Die Idee, quer zum Graben auf der anderen Seite hinauf zu fahren, verwarf ich noch ehe ich sie aussprach. Genau wie der hinter uns liegende Abhang war sie zu überwuchert. Roy gab mir ein Zeichen, dass ich zu ihm an den Lenker kam. Auf drei schoben wir.

Verflixt!

Das Ding war scheiße schwer. Ich hatte das Gefühl mich gegen einen Baum zu stemmen. Dabei kamen wir ein paar winzige Zentimeter voran. „Ein Seil hast du zufällig keins dabei, oder?“ Zweifelnd zog ich meine Augenbrauen in die Höhe.

Woher hätte ich wissen sollen, dass die verfickte Straße weg war?

„Du sagst, du kennst dich mit alten Maschinen aus. Könntest du bei der hier mit ein wenig Fingerspitzengefühl ebenso gut agieren?“ Konnte er überhaupt fahren? Roys Stirnrunzeln war irgendwie… Nein! Es war nicht sexy.

Er war der Freund… der Exfreund meiner Freundin. Meiner… hoffentlich irgendwo sicheren Freundin.

Schnell stopfte ich den Gedanken in eine Schublade im hintersten Teil meines Gehirns. Damit musste ich mich später beschäftigen. „Erster Gang, Standgas. Da kackt sie bestimmt ab. Aber wenn du ein klein wenig Gas gibst…“ Roy nickte. „Ein Versuch kann nicht schaden. Wieviel PS hat das Teil?“ Ich sagte es ihm, was ihn anerkennend pfeifen ließ. „Ordentlich. Einen Tick zuviel Gas und die Lady geht auf die Hinterbeine.“ So sah es aus.

Roy startete.

Legte den Gang ein. Nickte mir zu, so dass ich den Lenker ebenfalls ergriff. Vorsichtig gab er Gas. Es funktionierte. Irgendwie. Trotzdem war es beschwerlich, denn der Untergrund bot nicht genügend Angriffsfläche für die Räder. Wir fluchten zeitgleich. Bissen die Zähne zusammen. Anerkennend musste ich feststellen, dass Roy das Gas selbst unter diesen Umständen genauestens unter Kontrolle hatte. Kein einziges Mal bockte die Maschine. Endlich standen wir wieder auf ebener Fläche. Beide keuchend. Allein hätte ich dieses Hindernis nie und nimmer überwältigen können.

Entschuldige Paps. Aber manchmal ist eine zweite Person durchaus hilfreich.

Trotz der Kälte standen uns Schweißperlen auf der Stirn. „Kannst du notfalls hier fahren?“ Mit ‚hier‘ meinte Roy den schmalen Streifen zwischen Zaun und Abgrund. „Wenn einer von uns die Knie riskieren möchte, klar.“ Ebenso gut hätten wir im Graben fahren können. Nur wurde der weiter hinten von einigen Betonröhren unterbrochen. Durch die passten wir auf keinen Fall hindurch; höchstens gefaltet und gebügelt. Ganz zu schweigen von den auch dort überall wuchernden Minibüschen und Ranken. „Warum?“ Roy nickte kaum wahrnehmbar mit dem Kopf zur Seite. „Wir haben Besuch.“ Ich sah in die Richtung, aus der wir vorhin das Geräusch gehört hatten. Tatsächlich stand dort ein Hund. Ein… sehr großer Hund. Zumindest hoffte ich, dass es einer war. „Sag mir bitte, dass das ein Hund ist.“, flüsterte ich. „Ein Wolf.“ Yippieieh! „Bei uns gibt es keine Wölfe.“ Roy verdrehte die Augen. „Sag mir was Neues, Klugscheißer. Bei uns gibt es auch keine Monster, richtig?“ Ich schluckte.

 

Für einen Hund war das Tier zu groß. Für einen Wolf… äh… auch. Sowohl zu groß, als auch zu muskulös. Wolf auf Steroiden? Wovon zum Geier ernährte der sich? Er war fast so groß wie ein Kalb!

Mein Herz raste augenblicklich auf Hochtouren. Glücklicherweise blieb der Hund… Wolf auf Abstand. Er schien uns lediglich zu beobachten. Interessiert. Hoffentlich war der nicht hungrig.

Während Roy sich um den Zaun kümmerte – mit derselben Methode wie vorhin – ließ ich das Vieh nicht aus den Augen. Das machte weiterhin keine Anstalten uns zu nahe zu kommen. Stattdessen legte es sich hin; den Kopf auf die riesigen Pfoten. Trotzdem tastete ich nach dem Messer, das ich an meinen linken Unterarm geschnallt hatte. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste.

Der Wolf knurrte. Blieb jedoch liegen. Wusste er, dass ich ein Messer trug? Das war irrsinnig. Andererseits: Wenn es kein echter Wolf war? Sondern ein… Werwolf?

Haha! Die Vorstellung war kein bisschen amüsant.

Wölfe jagten in Rudeln, falls ich mich recht entsann. Traf das auch auf Werwölfe zu? Wo war dann der Rest? Hinter uns? Vor uns? Ich schluckte. Wandt meinen Blick kurz zu Roy. Der war fast fertig. Die eine Hälfte des Zauns war von Weiß überzogen, die andere Seite von einem glühenden, tropfenden Rot. Einige der Tropfen trafen seine Haut. Er nahm das offensichtlich nicht wahr. Ein heißes Händchen und ein… nun ja… eiskaltes Händchen. Ich kicherte dümmlich. Wahrscheinlich gingen meine Nerven langsam mit mir durch. Kein Wunder nach den letzten Stunden, die wahnsinniger und blutrünstiger kaum sein konnten. Außerdem lag nur wenige Meter von mir entfernt ein riesiger Köter, der vermutlich nur nach einem Zahnstocher Ausschau hielt. Um damit später unsere Überreste aus seinen Zähnen zu puhlen.

Wieder glitt mein Blick zu dem Wolf.

Der gähnte. War ihm langweilig? Bitte, lass ihn müde sein. Ein kleines Nickerchen machen. Bis wir Kilometerweit weg sind. Das Scheppern des Metalls riss mich aus meinen Überlegungen. Der Wolf erhob sich. Lauernd. Abwartend. Würde er uns anspringen?

Jetzt?

Mein Herz klopfte noch einen Tick schneller. „Spring auf. Ich fahre.“ Normalerweise hätte ich Einwände. Niemand fuhr meine Maschine. Aber eine Diskussion würde Zeit kosten. Zeit, die uns das nette, kleine Hündchen möglicherweise nicht ließ. Also stieg ich auf, nahm den Helm, den Roy mir reichte, während er bereits den Motor startete und krallte mich an ihm fest. Den Wolf behielt ich im Auge.

Roy fuhr los.

Das Vieh kam ebenfalls auf die Beine und rannte neben uns her. Keinen Moment seinen Abstand verringernd oder vergrößernd. Ein zweifelhafter Weggefährte. Und verdammt viel schneller als ein normaler Wolf sein sollte. Ich konnte zwar nicht über Roys Schulter lugen, doch ich bezweifelte, dass er langsamer fuhr als achtzig.

Wir kamen zügig voran. Zumindest die zehn Kilometer bis zur nächsten Stadt. Die – theoretisch – vorhandene Straße führte um diese herum. Der Radweg leider nicht. Zu allem Übel sah die vor uns liegende Stadt kein bisschen besser aus als unsere. Oder wenigstens das, was wir von hier aus sahen. Der Himmel war dunkel von Asche und Rauch. Diverse Metallteile, die möglicherweise zu Helikoptern gehörten, lagen überall verstreut. Ausgebrannte, teilweise noch brennende Autowracks taten das Übrige, um das makabre Szenario zu vervollständigen. Roy hielt an. Der Wolf neben uns ebenfalls. Immer noch blieb er auf Abstand. Ich traute diesem Frieden ganz und gar nicht.

Was wollte das Vieh?

Schauen, ob wir in müdem Zustand besser schmeckten?

„Halt dich gut fest.“ Eine zweite Warnung bekam ich nicht. Roy fuhr los. Runter vom Radweg und über das größtenteils unversehrte Feld, dessen Boden glücklicherweise knochenhart war. Es glich trotzdem einem Hindernislauf. Die harten Erdbrocken erschwerten die Strecke. Himmel, Arsch und Zwirn! Mein Hinterteil und mein Motorrad waren für sowas ungeeignet. Eigentlich. Roy jedoch handhabte das schwere Gefährt beinah mühelos. Er nahm seine Beine zu Hilfe; hielt uns damit im Gleichgewicht. Hier erlebte ich einen Crossfahrer in Aktion.

Voll der Wahnsinn!

Anfangs ängstlich, sorgte das Adrenalin bald dafür, dass ich die waghalsige Fahrt lachend genoss. Sollte Roy mich doch für verrückt halten. Trotzdem klammerte ich mich fast schmerzhaft an ihm fest. Mich wunderte, dass er noch nicht ächzte. Waren seine Rippen noch heil? Andererseits – Roy war ziemlich gut gebaut. Muskulös. Nicht so sehr wie mein Paps, aber ausreichend. Genau richtig für Frauen mit schwacher Libido – zu denen ich nicht zählte.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich den Wolf. Er hielt immer noch mit uns mit. Später, sagte ich mir, können wir uns Sorgen machen. Erstmal mussten wir ein Stück vorankommen. Solange uns keine Barrieren im Weg lagen oder unüberwindbare Löcher aufhielten – oder das Feld plötzlich verschwand – klappte das ganz gut.

Roy stoppte. Stirnrunzelnd sah ich an ihm vorbei. Und fluchte. Schöne Scheiße. An die Wesen, die sonst nur in Alpträumen existierten, seit ein paar Stunden jedoch zur Realität gehörten, hatte ich natürlich nicht gedacht. „Die sind nicht ganz so schnell wie die Schönen. Trotzdem werden sie in fünf Minuten hier sein. Was nun?“ Eine hervorragende Frage.

Ehrlich!

Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich sie sogar beantworten. Unter Druck schaltete mein Hirn jedoch auf Durchzug. „Na dann, festhalten.“ Roy änderte die Richtung und gab Gas. Unnötig zu sagen, dass wir beide hofften diese schauderhaften Wesen abzuhängen. Der riesige Wolf lief nun dichter bei uns. Allerdings – auffällig genug – zwischen uns und den Monstern.

Ich war mir unsicher, ob ich das als gutes Zeichen werten sollte. Im Moment war ich jedoch viel zu sehr damit beschäftigt den kürzer werden Abstand zwischen den Wesen und uns nicht zu beachten. Mich fester an Roy zu klammern. Mich so leicht wie möglich zu machen, damit er besser manövrieren konnte. Fakt war, die Viecher holten auf. Anfangs waren wir vor ihnen gefahren. Inzwischen fuhren wir quer zu ihnen.

Zumindest noch.

Eine Katastrophe wäre es, wenn es denen gelang uns einzukesseln. Allein daran zu denken kostete mich Jahre meines Lebens. Zu allem Übel wurde Roy nun wieder langsamer. Waren da noch mehr von den Viechern? „Fahr!“, wies ich ihn an. Roy stoppte, als der Motor zeitglich ein letztes Husten von sich gab. „Ich sag es nur ungern, Süße… aber wann hast du zuletzt getankt?“ So eine gequirlte Scheiße aber auch!

Jegliche Farbe lief mir aus dem Gesicht. Vielleicht war sie auch vorher schon verschwunden. Jetzt jedoch fühlte ich es. Noch immer waren uns die Monster auf den Fersen.

Wir stiegen hastig vom Motorrad. Roy packte mein Handgelenk. Zusammen rannten wir los.

Hah!

Als ob wir auf die Art eine Chance hatten.

Schon nach wenigen Metern keuchte ich. Das unebene Feld war nicht geeignet zum Wegrennen. Nur blieb uns kaum eine andere Wahl… es sei denn, wir wollten zerrissen, gefressen oder einfach überrannt werden.

Wir könnten uns eingraben…

Der Wolf war neben uns, knurrte in unsere Richtung. Dann fiel er langsam zurück. Mich umzudrehen kam nicht in Frage. Ich würde stolpern.

Als nächstes wäre ich tot.

Sowas passierte immer in Horrorfilmen. Ich wusste, was hinter mir war. Und es reichte, dass ich das Knurren hörte.

„Schneller!“, drängte Roy. Versuchte ich doch! Ich war kein Läufer. Besonders nicht auf diesen Dreckklumpen, die genau so hart waren wie Steine. Nur nicht so schön angeordnet. Im Laufen riss ich mir den Helm vom Kopf. Warf ihn beiseite. Er könnte mir von Diensten sein… scheiß drauf. Ich wusste, dass die Dinger sich nicht auf meinen Kopf stürzen würden. Ah… aber ich hätte sie damit schlagen können. Vielleicht. Verdammt!

Nur Roys beharrlichem Ziehen verdankte ich es, dass ich trotz meines Stolperns auf den Beinen blieb. Meine Lunge rasselte vor Anstrengung. Dabei war ich seit zwei Jahren Nichtraucher. Meine Seiten stachen. Meine Beine fühlten sich an wie Blei. Mit jedem Schritt wurden sie schwerer. Ein deutliches Zeichen meiner fehlenden Kondition. Schließlich bemerkte ich, dass das Knurren ein ganzes Stück hinter uns zurück geblieben war. Der Drang mich umzudrehen war überwältigend. Ich ignorierte ihn.

Mit Mühe.

Roy schlug einen Haken, raste mit mir direkt in das kleine, neben uns aufgetauchte Wäldchen. Ob uns das wirklich Schutz bot oder den Dingern hinter uns mehr nützte, blieb abzuwarten. Ich erwartete, dass Roy nun langsamer werden würde.

Irrtum.

Der Waldweg war zwar ausgetreten, aber um Meilen besser als das Feld. Roy legte an Tempo zu. Woher ich die Kraft nahm mitzuhalten? Vielleicht weil ich überleben wollte. Möglicherweise bekamen meine Turnschuhe auch Flügelchen und trugen mich ohne mein Zutun. An meinem Geburtstag den Löffel abzugeben kam nämlich überhaupt nicht Frage.

Roy blieb plötzlich so abrupt stehen und schleuderte mich hinter sich, dass ich gegen seinen Rücken krachte. Mein Kiefer pochte. Ebenso meine Nase. Ich verzog das Gesicht. Fühlte, ob alles heil war.

Anscheinend.

Roy selbst stand da wie ein Fels in der Brandung. Die Augen auf etwas vor uns gerichtet, was ich hinter seinem imposanten Rücken nicht ausmachen konnte. So angespannt wie er war, bedeutete es sicher keinen umgestürzten Baum. Aber etwas versperrte den Weg. Etwas, das sprechen konnte. Scheiß drauf, dass ich froh war kurz Atem zu schöpfen und meine verkrampften Muskeln zu schonen. Das Etwas vor uns behagte mir trotzdem nicht.

„Was haben wir denn da?“ Was für eine Stimme! Mir wurde ganz anders. Als könnte ich dieses Etwas sofort anspringen und ins nächste Bett zerren. Dabei war es die Stimme einer Frau. Und ich absolut hetero.

Was äh… auch auf Roy zutraf.

Ich krallte mich in seine Jacke. Nur für den Fall, dass er etwas wirklich Dummes machte. „Roy?“ Er nickte langsam. „Keine Bange. Ich hab zwar das dringende Bedürfnis sie zu vögeln, aber ich kann mich zurückhalten.“, sagte er und trat einen Schritt auf sie zu. „Roy!“

„Richtig. Abwarten. Nicht nageln. Böse.“, murmelte er. „Böse? Ich?“ Oh, das Miststück hörte gut. Ich lugte an Roy vorbei. Die Frau war eins dieser unglaublich schönen Wesen. Hm. Wie ein Werwolf sah sie nicht aus. Oder doch? Vielleicht waren Werwölfe verführerisch. Woher sollte ich das wissen? Sofern diese Wesen sich überhaupt als Werwölfe bezeichneten. Vielleicht waren sie auch etwas ganz anderes.

Roy bewegte sich nicht. Seine Anspannung war jedoch zu spüren. „Ich bin nett. Sogar sehr nett. Ansonsten wärt ihr schon tot. Sehe ich das falsch?“

Ich überließ die Unterhaltung Roy. Mochte feige von mir sein. Andererseits glaubte ich, dass er mich lieber hinter sich in Sicherheit wusste. Obwohl ich das vermutlich nicht war. Im Gegensatz zu mir schien Roy außerdem kein bisschen außer Atem zu sein. Mit pochendem Herzen drehte ich mich um. Keine Wölfe. Kein Knurren. Keine Geräusche von etwas, dass sich heranschlich. Geschweige denn heranstürmte. Ich schaute sogar nach oben. Keine Ahnung, ob es Weraffen gab. Man konnte nie vorsichtig genug sein.

Tja, da waren keine.

Ein gutes Zeichen.

Meine Hand nach wie vor in Roys Jacke vergraben, spürte ich, wie er sich bewegte. Um präzise zu sein, er trat zwei Schritte vor. Ich konnte ihn nicht aufhalten. „Bleib stehen!“ Er schüttelte den Kopf. „Sie bietet uns ihre Hilfe an.“ Na klar. Und ich bin Tiefseetaucher. „Bist du irre? Wir können ihr nicht trauen.“ Die Frau lächelte weise. „Stimmt, das könnt ihr nicht. Aber ihr könnt es versuchen. Was habt ihr zu verlieren?“ Unser Leben. Also keine Kleinigkeit. „Marielle! Was soll das?“ Die Stimme der Frau hatte mir schon zugesetzt. Aber die, die ich jetzt hörte, machte mich feucht.

Ich schüttelte den Kopf. Kniff die Beine zusammen. Biss die Zähne fest aufeinander. Roy wich ein Stück zurück, drehte kurz den Kopf und sah mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern, wobei ich mich wesentlich gelassener gab, als ich mich fühlte. Statt weiterhin seine Jacke festzuhalten, griff ich nach seiner Hand. Unsere Augen waren auf das Paar gerichtet, dass vom Cover eines Magazins entsprungen schien. Nur hatte ich derart schöne Leute noch nie in Natura gesehen. Nichts mit Photoshop – die waren echt!

 

Die Frau an sich war atemberaubend. Doch der Mann stand ihr in nichts nach. Auch ein Werwolf? Er erinnerte mich mit seinen langen, schwarzen Haaren, dem sorgsam modellierten, androgynen Gesicht und dem Körper eines griechischen Gottes, der selbst durch den edlen Zwirn zu erahnen war, eher an einen Todesengel. Ganz besonders was seine Augen betraf. Mich fröstelte. Könnte von der Kälte stammen. Aber ich war mir sicher, dass sein Blick dieses Frösteln verursachte.

Roy neigte seinen Kopf kaum merklich zur Seite.

Hieß, wir würden uns vom Acker machen. Nur kamen wir nicht dazu auch nur einen Schritt zu tun. „Was zum Teufel!“ Roy fluchte. Ich sah unsicher auf meine Füße. Zwar sah ich nichts, aber ich könnte schwören ich hatte Wurzeln geschlagen. Wortwörtlich!

Ok.

Sowas konnten Werwölfe in Legenden nicht.

Nur… Vampire. Ich runzelte die Stirn. Schluckte. War das möglich? Vampire, keine Werwölfe. Oder – noch schlimmer: Beides?

Keine Ahnung, ob Roy die gleichen Schlüsse zog. Er beobachtete das Paar vor uns. Mit Argwohn, aber auch voller Neugierde. Eine seltsame Mischung. Obendrein sprach das Pärchen nicht. Sie standen herum wie… Statuen. Atmeten sie überhaupt? Die Frau trat kurz darauf einen Schritt zurück. Fast sah es aus, als gäbe sie – hocherhobenen Hauptes und mit funkelnden Augen – ihre Niederlage bekannt.

Genau in dem Moment knurrte es hinter uns.

Ruckartig drehte ich mich um, vergaß dabei, dass meine Füße und Beine angeschraubt oder festgeklebt waren und ruderte wild mit den Armen. Roy packte mich. Ansonsten hätte ich einen unfeinen Stunt hingelegt: Mit Splitterbrüchen in beiden Beinen und ausgekugeltem Hüftgelenk.

Mein Herz klopfte wild. Wenn das so weiterging, würde ich heute vor Schreck sterben – nicht zerrupft von Bestien.

„Es ist der Wolf von vorhin. Nur ein bisschen zerzauster.“, raunte Roy mir ins Ohr. Tatsächlich bedurfte es dieser Erklärung nicht. Der Wolf drückte sich an meine freie Seite. Nur kurz, als wollte er mir etwas versichern. Was das war, entzog sich meiner Kenntnis.

Dann trabte er auf das Pärchen zu.

Die Frau sah ihn mit distanziertem Lächeln an, der Mann mit einem eisigen. Er grüßte den Wolf mit einem Nicken. Eine Sekunde lang sah der Mann zu uns; ein Versprechen in den Augen, dass mir ebenso schleierhaft war wie das kurze Streifen des Wolfes. Und dann – meine Augen mussten mir einen Streich spielen – verschwand er. Mit ihm die Frau.

Sie gingen nicht.

Sie flogen nicht.

Sie verpufften einfach. Eben noch waren sie da, im nächsten Moment weg. Aufgelöst.

Ich blinzelte, wobei ich jemanden hysterisch kichern hörte. Oh! Das bin ich selbst. Ich schwöre, dass der gigantische Wolf mir einen genervten Blick zuwarf. Roy knuffte mir lediglich in die Seite. „Bin ja schon still. Sorry…“ Ich starrte auf die Stelle, als könne das Starren die beiden wieder herbei zaubern. „Hast du das gesehen? Die sind einfach… wusch… und…“ Ich wedelte mit der Hand. Dabei war Roy die ganze Zeit neben mir gewesen. „Hab ich.“ Er schien das alles ziemlich gefasst aufzunehmen. Ich fand es einfach nur irre. Wahnwitzig. Seit wann gab es denn sowas?

Seit heute.

Offensichtlich.

„Kannst du das auch?“ Roy verneinte, dabei hatte ich den Wolf angesprochen. Sein Kopfschütteln sagte mir, dass er mich verstand. „Waren das Vampire?“ Sowohl der Wolf auch als Roy antworteten mir. Roy mit einem mürrischen: ‚Bin ich Jesus?‘, der Wolf mit einem Kopfschütteln, dass in ein Nicken wechselte. „Roy, stopp. Ich rede… mit ihm. Naja, irgendwie.“ Dann wandt ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Wolf zu, der langsam auf mich zukam. „Es sind keine richtigen Vampire?“ Der Wolf nickte. Aha. Also falsche Vampire. Haha. Sowas gab es auch? „Und du bist“, ich schluckte, „ein Werwolf?“ Bis dato wusste ich nicht, dass Wölfe lachen konnten. Tat er, und er nickte. Ich wollte ihn fragen, warum er in der Tierform blieb. Als Mensch würden wir reden können. Erfahren, was er vorhatte. Sofern er sich nicht in eines dieser Monster verwandelte. Doch er stellte seine Ohren auf, legte den Kopf schief und schnüffelte.

Vorsichtig schnappte er nach meiner Jacke. Zog mich in eine Richtung, die Roy und ich offenbar nehmen sollten. Dann rannte er los. „Sollen wir?“

„Schlimmer kann es kaum werden.“ Könnte es schon. Nur wollte ich daran nicht denken. Zur Not war ich immer noch bewaffnet. Jahaaa! Mit einem niedlichen, mittelgroßen Messerchen gegen riesige, gruselige, haarige Monster, deren Zähne länger waren als das Messer, dass nach wie vor an meinen Unterarm geschnallt war.

Also folgten wir dem Wolf, der uns tiefer in den Wald hineinführte. Ab und an blieb er stehen und drehte sich um. Vergewisserte sich, dass wir ihm folgten. Lauschte auf mögliche Verfolger. Einmal stieß er ein derart lautes Heulen aus, dass mir fast das Herz stehen blieb. War der bekloppt? Jeder konnte das hören! Besonders die Viecher von vorhin. War das seine Absicht oder bezweckte er etwas anderes?

Je tiefer wir in den Wald vordrangen, desto dichter standen die Bäume. Dabei war ich von einem kleinen Wäldchen ausgegangen. Wie man sich doch irren konnte.

Allmählich kam ich beim Laufen aus dem Takt. Wir rannten zwar nicht mehr in dem halsbrecherischen Tempo von vornhin, aber immer noch schnell genug. Nur Roys Griff um mein Handgelenk verdankte ich es überhaupt noch vorwärts zu kommen. Mehr als einmal strauchelte ich fluchend.

Nun ja, selbst zum Fluchen hatte ich kaum noch Atem.

Meine Beine fühlten sich heiß und kalt zu gleich an. Leicht und schwer. Meine Seiten stachen. Ich japste nach Luft. Schweiß rann mir übers Gesicht. Am liebsten hätte ich die Jacke ausgezogen, so heiß war mir inzwischen.

Der Wolf drehte sich ein letztes Mal um.

Dann standen wir plötzlich auf einer Lichtung.

In deren Mitte stand ein zweistöckiges Haus. Mit bunten Vorhängen, Gehwegplatten, Blumenbeeten, einem Pool, einer Terrasse, einer Hollywoodschaukel und einem weißen Gartenzaun.

Nach dem Labyrinth aus Bäumen glaubte ich erst an eine Halluzination. Nur war das Auftauchen des Hauses noch nicht das Verwunderlichste. Der Wolf gab ein leises, heiseres Geräusch von sich und setzte sich wie ein brav erzogener Wachhund neben das offene Gartentor. Im selben Moment schwang die Haustür auf und eine Frau trat heraus. Ein überschwängliches Funkeln in den Augen. Pure Freude auf einem Gesicht, das meinem erstaunlich ähnlich sah. Sogar die Haarfarbe stimmte.

„Du hast sie gefunden!“ Mit einem beherzten, kleinen Aufschrei, gefolgt von einem Quietschen und weit ausgebreiteten Armen kam sie stürmisch auf mich zugerannt. Sie riss mich in eine feste Umarmung, wuschelte mir durchs Haar und küsste mich auf die Wange. „Oh Gott. Er hat dich gefunden. In all dem Chaos hat er dich gefunden und sicher hierher gebracht. Ich bin so glücklich, dass es dir gut geht, Chantalle.“ Ich wäre fast aus den Socken gekippt. Beziehungsweise meinen Stiefeln.

Zur Salzsäule erstarrt blieb ich stehen und harrte ihrer stürmischen Begrüßung. Wer immer diese Frau – die mir äußerlich sehr auffallend ähnelte – auch sein mochte. Sie ging einen Schritt zurück, umfasste meine Oberarme und musterte mich. „Gut siehst du aus.“ Dann fiel ihr Blick zu Roy, dem sie anerkennend zunickte. „Schön, dass du endlich wieder jemanden hast nach deinem Verlust.“

Oooo-kay?

Zeit an meiner Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln.

Irritiert, mit weit aufgerissenen Augen, sah ich zu Roy, der mich ebenso fragend ansah. „Oh, entschuldige bitte. Du weißt ja gar nicht, wer ich bin. Ich Dummerchen.“ Sie lachte. „Ich bin Thea. Deine Tante.“ Meine Tante. Aha. Meine einzige, mir bekannte Tante hieß Yasmin. Ich runzelte die Stirn. „Rick Fraser war mein kleiner Bruder.“ Kleiner Bruder? Mein biologischer Vater? Unmöglich. Sie sah keinen Tag älter aus als dreißig. „Ich weiß, es ist alles ziemlich verworren für dich. Komm erstmal rein.“ Sie ließ mich los und drückte nun Roy. „Du auch. Wir reden drinnen.“ Mein gesunder Menschenverstand sagte mir, ich sollte die Beine in die Hand nehmen und abhauen.