Homo sapiens movere ~ geliebt

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Aus der Reihe: geliebt #5
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Dankend lehnte ich ab.

Dort zerpflückte ich womöglich vor lauter Raserei die Kissen. Atmete dabei eine Feder ein.

Läge röchelnd am Boden…

Ungeduldig tippte ich mit den Fußspitzen auf den spiegelblanken Fußboden, trommelte mit den Fingern auf meine Oberarme, bis ich meine Hände schließlich in die Hosentaschen schob und beschloss, möglichst gelangweilt auszusehen. Ein schwieriges Unterfangen, weil ich stinksauer war. So stinksauer und kochend vor Wut, dass ich mich wunderte, dass noch keine Dampfwolken aus meinen Nasenlöchern und Ohren stiegen. Oder ich einfach in Alans schicker Eingangshalle explodierte und diese mit meinen Innereien dekorierte.

Dreimal in der nächster Stunde tauchte Scott lautlos wie ein Geist neben mir auf und fragte, ob er mir eine Erfrischung oder etwas zu Essen anbieten könnte.

Ich lehnte jedes Mal ab.

Nur einmal war ich ganz kurz davor, mir Alan al dente zu bestellen.

Während der Wartezeit überlegte ich mir mehrere Varianten für Alan möglichst schmerzhaftes Ableben und kam irgendwann sogar zu dem Schluss, dass er mich nicht erpressen könnte, wenn ich den Spieß umdrehte. Was, wenn ich sein geliebtes Rudel massakrierte? Ein Blitz hier, einer da… Alan würde mich durchschauen. Ich konnte keinem der Were absichtlich Schaden zufügen. Vielleicht sollte ich mir Alans Moral borgen? Beziehungsweise das Nichtvorhandensein derselben. Dann hätte ich keine Gewissensbisse. Aber nö! Obgleich ich tödlich war wie ein rasender Gestaltwandler oder ein wütender Vampir, besaß ich zu viele menschliche Skrupel und die Sanftheit eines Lämmchens.

Määäh.

Roman könnte mir ein wenig Rücksichtslosigkeit anzaubern…

Ich schloss die Augen, holte tief Luft und schüttelte den Kopf über diese absurde Idee. Nein, denn sobald der Zauber verblasste, würde ich mich verabscheuen.

Halb neun hörte ich, wie sich oben eine Tür öffnete. Kurz darauf eilten zwei kichernde Damen die Treppe herunter. Ihre Haare ein wenig zerzaust, leicht gerötete Wangen und freudig glänzende Augen. Zwei hübsche, zierliche Frauen. Derart zierlich würde ich nie sein. Dafür war ich zu muskulös. Und beide hatten lange Haare. Etwas, was in meinem Job gänzlich ungeeignet war.

Grundgütiger!

Ich verglich die zwei doch tatsächlich mit mir. Als würde ich mir eine weitere Chance ausmalen. Einatmen – Ausatmen. „Ladys, ihr habt was vergessen.“ Alan stieg die Treppe herunter und reichte den beiden je ein buntes Tüchlein… ähm, okaaay… keine Tüchlein. Du bist absolut uninteressiert und gelangweilt, rief ich mir in Erinnerung, so dass ich die darauf folgende Abschiedsszene nicht an mich herankommen ließ.

Nicht zu sehr.

Trotzdem nagte sie an mir wie ein böser, flüsternder Schatten.

Alan tat das absichtlich. Schlimmer noch, er genoss es. Doch es wurmte ihn, dass ich mir nichts anmerken ließ.

Hey, wow!

Ich schaffte es, dermaßen gelangweilt auszusehen, dass ich von ganz allein gähnte. Na wenn das keine Meisterleistung war. „Schön, dass du pünktlich bist, Sam.“ Ich schon.

Er nicht.

Hatte er eine andere Reaktion erwartet als mein blasiertes Lächeln? Nein. So wie er die beiden hinaus delegierte und sich nahtlos an mich wandte, als wäre ich nur ein x-beliebiger Besucher, wohl kaum. „Wie geht’s Roman?“

Avancierte ich jetzt zum Hellseher? „Ruf ihn an und frag ihn. Ich kann schlecht an zwei Orten gleichzeitig sein.“ Alan grinste hinterhältig, während er mich in den kleinen Salon dirigierte. „Stimmt. Tut mir leid, wenn ich dir den Abend versaue.“ Den Abend?

Das war die Untertreibung des Jahrtausends.

Seine hämisch in die Luft geschmetterte Entschuldigungsfloskel konnte er sich sonst wohin stecken. Doch auch die ignorierte ich. „Komm zur Sache, Alan.“ Nickend wies er mich zur Couch, an der ich provokativ vorbei lief und mich breitbeinig in den Sessel hockte. Ist der neu? Egal.

Meine Ellenbogen baumelten über meinen Knien. Gedachte er mir heute noch eine Antwort zu geben? „Ich habe mich erkundigt und die Bestätigung erhalten, dass du tatsächlich daheim warst. Du hast sogar Pizza bestellt.“ Und? Das wusste ich selbst. Das war aber sicher nicht der Grund, aus dem er mich herbestellt hatte.

Abwartend hob ich eine Augenbraue in die Höhe und neigte den Kopf leicht zur Seite. „Vielleicht hat Roman den Angestellten eine andere Erinnerung gegeben? Oder auch deiner Freundin. Aber daran glaube ich weniger. Außerdem habe ich an dir keine Lüge gerochen. Demzufolge gehe ich davon aus, dass du mich nicht bestohlen hast.“

Aha!

Jetzt kamen wir der Sache schon näher. Was hatte man ihm denn geklaut? Einen Kuli? Eine gebrauchte Unterhose? Ein Auto? Herr Gott, er hatte doch Tonnen von Dingen, die er überhaupt nicht vermissen konnte. „Mir wurde ein Buch von unschätzbarem Wert entwendet. Du hast nicht zufällig einen ähnlichen Auftrag erhalten?“ Mit ‚ähnlich’ meinte er, ob jemand an mich herangetreten war? „Nein.“ Alan nickte bedauernd. „Zu schade. So hätten wir wenigstens einen Ansatzpunkt.“ Ich unterbrach ihn. „Wir? Wenn du mich schon zwingst für dich zu arbeiten, dann tue ich das allein.“ Mit einem undefinierbaren Blick in den Augen schüttelte er den Kopf. „Das ist nicht möglich. Du musst herausfinden, wo das Buch ist und mich dorthin bringen, damit ich es wieder an mich nehmen kann.“ Gekränkt biss ich mir auf die Unterlippe. „So viel zum Thema Vertrauen, huh?“ Fluchend stand Alan auf und fuhr sich angespannt durch die Haare. „Das hat nichts mit Vertrauen zu tun, Sam.“, donnerte er wütend und kam verdammt schnell auf mich zu. Instinktiv presste ich mich tiefer in den Sessel. „Das Problem ist, dass nur Were das Buch anfassen können. Derjenige, der den Auftrag erteilt hat, weiß das entweder nicht oder es ist ihm scheißegal.“ Ähm, oh… „Was passiert, wenn jemand das Buch berührt, der kein Wer ist?“ Rastlos schritt Alan durch den Raum. Typisch das Raubtier, was er in seinem Inneren beherbergte. Nach einem tiefen Atemzug und ohne mir in die Augen zu sehen, antwortete er. „Derjenige… verändert sich. Mit viel Glück bringt er sich um, bevor er komplett ausrastet. Allerdings wird er eine Menge Leute mit in den Tod nehmen.“ Das klang gar nicht gut. „Und was steht in dem Buch? Irgendjemand scheint das Risiko schließlich eingegangen zu sein.“ Alan presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Das geht dich nichts an.“ Was so viel hieß wie rudelintern. Noch so ein Wort, das auf meiner ganz persönlichen Liste der Unwörter rangiert.

Hm, meinetwegen.

Ich musste folglich nur einen verstaubten Wälzer finden und Alan ungesehen an den Ort von dessen Aufbewahrung bringen. Damit wäre die Sache erledigt.

Warum hatte er angenommen, dass ich das Buch gestohlen hatte? Sah ich etwa wahnsinnig aus? Oder verhielt mich so? Nun ja, irgendwie war es schon Wahnsinn für das Rudel zu arbeiten.

Wenn auch ohne Bezahlung und nur widerwillig.

„Ok, ich sehe, ob ich was übers Internet herausfinde und kontaktiere meine Quelle. Wenn ich etwas entdecke, melde ich mich bei dir.“ Alan drehte sich blitzschnell zu mir um, stand in einem Sekundenbruchteil vor dem Sessel und drückte meine Arme schmerzhaft auf dessen Lehne. „Du meldest dich aller zwei Stunden. Beginnend ab dem Moment, in dem du mein Anwesen verlässt. Haben wir uns verstanden?“ Aller zwei Stunden? Wann sollte ich seiner Meinung nach schlafen? Gar nicht? „Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie arrogant und vergess …“ Vielleicht hätte ich das arrogant weglassen sollen.

Alan zerrte mich mit einem festen Griff um meine Kehle aus dem Sessel. Im nächsten Moment flog ich durch den Salon. Ächzend landete ich mit dem Gesicht voran auf dem Fußboden und sah für einen Moment Sternchen. Als ich mich aufrichten wollte, sah ich meinen Arm, der schlaff an mir herunter hing. Gleich darauf spürte ich den dumpf kreischenden Schmerz in meiner Schulter. Etwas Warmes lief über meine Lippe. Ich leckte es ab. Hoffentlich war es nur Nasenbluten. Eine gebrochene Nase wäre das Letzte. Und im Vergleich zu einer ausgerenkten Schulter definitiv das größere Übel. Mein Kopf dröhnte, meine Schulter, meine Lippe – hm, ich sollte lieber aufzählen, was mir nicht wehtat. Ich zitterte wie Espenlaub, aber ich heulte nicht.

Komisch, oder?

Mit der Zunge fuhr ich über meine Zähne. Gott sei Dank war keiner locker oder ausgeschlagen. Langsam stand ich auf, meinen lädierten Arm festhaltend und drehte mich zu Alan. Der schnappte doch tatsächlich überrascht nach Luft. Arschloch! Erinnerte er sich etwa, dass ich ein Mensch war?

„Sam… ich…“ Er kam auf mich zu, doch ich wich vor ihm zurück. „Fass mich nicht an!“, zischte ich, schniefte, um das Nasenbluten aufzuhalten und wand mich zur Tür. „Ich rufe dich an, wenn ich etwas weiß.“

„Sam!“ Mit zusammen gebissenen Zähnen öffnete ich die Tür, trat aus dem Salon in die Vorhalle, in der Scott stand und bei meinem Anblick entsetzt schluckte. Ich schüttelte – sehr langsam – den Kopf. Ich wollte keine Hilfe. Hoch erhobenen Hauptes ging ich hinaus, ignorierte meine jaulenden Knochen, schritt durch das Tor, an dem mich Alans Wachen ebenso erschüttert musterten und fischte umständlich das Handy aus meiner Hosentasche.

Ein Taxi wäre wunderbar.

Aber ich bezweifelte, dass ich das mit meiner Schulter aushielt. Ins Krankenhaus wollte ich nicht, weil ich wusste, dass ich in der Notaufnahme einige Stunden warten müsste. Trudi, Claudia, Chris, meine Eltern oder meine Brüder? Nein, keiner von denen könnte meine Schulter einrenken. Außerdem hatte ich keine Lust ihnen zu erklären, was passiert war. Wo zum Teufel war Roman? Oder Stépan? War meine Verletzung nicht wichtig genug, weil sie etwas mit dem Rudel zu tun hatte? Ach was, ich kam auch ohne die beiden klar. Mir blieb noch Vine. Aber in meiner jetzigen Verfassung würde ich sofort in schallendes Gelächter ausbrechen, sobald er den Mund aufmachte.

 

Zu schmerzhaft.

Seufzend entschied ich mich doch für das Taxi. Ich hoffte nur, dass ich nicht ewig in der Notaufnahme säße. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.

Oder nach ein paar Stunden.

Nachts halb vier hatte ich mich sehr vorsichtig in mein Bett gelegt. Die Schmerztabletten halfen nicht wirklich, dafür aber die anderen Pillen.

Sowie mein Kopf das Kopfkissen berührt hatte, war ich weggetreten.

Wieder weckte mich ein Klingeln. Es war schon fast zwei Uhr nachmittags. Ich fühlte mich grauenvoll. Langsam schälte ich mich aus dem Bett und schlurfte zum Telefon. „Hast du schon was herausgefunden?“ Leck mich doch, du elender Hurensohn! „Nein.“ Kurzes Schweigen, dann ein Räuspern. „Wie geht’s Roman?“ Ich legte auf.

Für meinen Geschmack zeigte Alan zu viel Interesse für meine nicht existente Beziehung zu dem Vampir.

Als es erneut klingelte, zog ich das Kabel aus der Telefonbuchse.

Wenn ich Alan richtig einschätzte, würde er in spätestens einer halben Stunde auf meiner Fußmatte stehen. Leise fluchend zog ich mich an, wusch mich, putzte mir die Zähne. Dann fädelte ich meinen ramponierten Arm in die vom Arzt verordnete Stoffschlinge und rief per Handy ein Taxi. Gleichzeitig streckte ich meinem geschwollenen Gesicht die Zunge heraus. Anschließend kämmte ich meine Haare, steckte Handy sowie Geldbörse ein und verließ auf schnellstem Weg die Wohnung.

Das automatisierte Taxi wartete schon auf mich. Diese Autos fuhren quasi auf Autopilot. Somit gab es niemanden, der mir auf den Weg in die Stadt peinliche Fragen stellte. Unterwegs rief ich Vine an. Zu meinem Glück war er verfügbar. Sofort machten wir einen Treffpunkt aus. „Kein Café. Ich bin derzeit nicht vorzeigbar.“, scherzte ich leichthin, was Vine ohne Kommentar aufnahm. Er bestellte mich zum Park.

Seine dortige Begrüßung wurde begleitet von einem anklagenden Stirnrunzeln. „Du siehst schrecklich aus. Was ist passiert?“ Ich seufzte. „Bin gegen eine parkende Kuh gerannt.“ Vine lachte leise. „Wohl eher ein parkender Wer, hm? Schon gut, ich behalte es für mich.“ Wusste er es oder war es geraten?

Dankbar nickend nahm ich seinen mir angebotenen Arm an und schlenkerte mit ihm durch den Park. Dabei stellte ich meine Fragen. „Du willst wirklich für ihn arbeiten? Obwohl er dich dermaßen zugerichtet hat?“ Mein unglückliches Schnauben sagte alles. Trotzdem sprach ich es aus. „Von ‚wollen‘ kann keine Rede sein. Er lässt mir keine andere Wahl.“ Vine versuchte nicht, mir zu erklären, dass es immer eine andere Möglichkeit gäbe. Das mochte durchaus auf rein menschliche Beziehungen zutreffen, aber nicht, wenn sich verschiedene Spezies über den Weg liefen. Er versprach sich umzuhören. Ich beglich die Kosten, die ich für seine Dienste zu zahlen hatte und verabschiedete mich von ihm.

Wow! Wir hatten fast eine Stunde geredet.

Das wurde mir erst bewusst, als ich die Rathausuhr läuten hörte. Aber heimgehen wollte ich noch nicht. Das angenehme Wetter inspirierte mich zu einem gemütlichen Schlendern durch die Stadt, wobei ich die Blicke der Passanten ausblendete. Besonders die der Andersweltler. An einer Apotheke blieb ich stehen, zögerte kurz, ging dann aber doch hinein, um mir ein stärkeres Schmerzmittel zu kaufen. Das Pochen in meinem Gesicht war unangenehm. Ebenso das in der Schulter. Weswegen sollte ich mir die notwendigen Dinge versagen? Ich war kein Held. Und ich stand absolut, überhaupt, definitiv und so was von gar nicht auf Schmerzen! Vielleicht wären die kleinen Dinger sogar dermaßen gut, dass auch mein Herz endlich aufhörte den sterbenden Schwan zu mimen. Ich brauchte Alan nicht. Ich verstand nicht, warum ich immer noch an gebrochenem Herzen litt, obwohl Alan sich wie ein arroganter Widerling aufführte.

Wie schön wäre es, wenn dieses Gefühl einfach verschwinden könnte.

So wie damals bei mir und Humphrey. Oder bei Roman und seinem Rachedurst wegen des Todes seiner Geliebten. Doch leider funktionierte diese Magie nur zwischen Briam und Saphi – hatte mir Roman erst kürzlich erklärt. Nicht zwischen movere und Wer. Echt doof!

Das Taxi hielt vor meinem Haus.

Direkt neben einem schnittigen Sportwagen, der mir sehr bekannt vorkam. Alan konnte ich nirgends entdecken.

Schnell bezahlte ich, wie üblich bei automatisierten Taxis mit meiner Kreditkarte, stieg aus und lief mit klopfendem Herzen zur Haustür.

Wartete Alan unten vorm Fahrstuhl oder oben?

Tja, unten war er nicht. Und als ich oben aus dem Lift stieg, konnte ich ihn auch nirgends entdecken.

Vielleicht zählte er aus lauter Langeweile die Trepp…

Was ist das denn? Okaaaay, also das war ganz sicher nicht auf Alans Mist gewachsen. Abgesehen vom normalen Türschloss gab es eine magische Falle, die ich nicht nur deutlich spüren, sondern sogar sehen konnte. Direkt an der Tür! Außerdem an der Klingel sowie am Türknopf. Sollte mich das aufhalten oder bewegungsunfähig machen? Ich klingelte nicht an meiner eigenen Wohnungstür. Aus reiner Neugierde sah ich mir die Klingel ein wenig genauer an. Also… das war wirklich eine fiese, kleine Gemeinheit. Sobald ich diese anfasste, würde sich die Magie erweitern und auf mich zugreifen – warum auch immer ich an meiner eigenen Wohnungstür klingeln sollte. Ich lebte allein. Wer sollte mir öffnen? Mein Hausgeist?

Na gut. Alan vielleicht.

Aber wie hätte der in meine Wohnung kommen sollen? Vielleicht vertrat er sich draußen irgendwo die Beine. Hm, nur irgendwer musste sich hier dran zu schaffen gemacht haben. Tja, weder so noch so wurde ein Schuh draus. Hätte ich es nicht rechtzeitig bemerkt, hätte ich sie wohl einfach absorbiert. Was erwartete mich da drinnen? Falls überhaupt jemand drin war.

Wozu sollte Alan derartige Maßnahmen ergreifen?

Das ergab überhaupt keinen Sinn.

Wenn ich weiter im Treppenhaus stehen blieb, würde ich auch nicht schlauer werden. Ich absorbierte die Magie und entriegelte die Schlösser. So wie die Falle außer Gefecht war, offenbarte sich mir mein ganz normaler Eingangsbereich. Ich zog meine Schuhe aus, schloss sehr behutsam die Tür und schlich auf Socken hinein. Im Flur war es still, aber aus der Wohnstube hörte ich wütendes Knurren. Nicht sehr laut, aber gut vernehmbar. Alan?

Sein Auto stand schließlich nicht vor meinem Haus, um gesehen zu werden. Höchst konzentriert, auf weitere Magie achtend, glitt ich über den Flur zum Wohnzimmer, in dem mich das mich erwartende Szenario fast zum Lachen brachte.

Fast!

Dafür war es zu grotesk.

Bis jetzt hatten mich die Ladys, die um einen stinksauren Alan herum standen, noch nicht bemerkt. Hätte ich raten müssen, hätte ich gesagt, sie seien Menschen. Aber ihre Chakren wiesen einen entscheidenden Mangel auf. Laut denen besaßen sie nämlich keinen Kopf.

Äußerst suspekt.

Alans Energiepunkte waren normal. Für einen Wer. Auch wenn er momentan in meinem Teppich eingerollt war, mit einem wütenden Funkeln in den Augen und durch dunkle, pulsierende Magie geknebelt. Dieselbe, die auch mich an der Tür erwartet hatte. Zudem war er geschminkt. Mit meinem Lippenstift! Sogar die Fußnägel hatten die Ladys ihm bemalt. Purple Passion. Ebenfalls von mir. Hm, der Nagellack mit dem Glitzer hätte bestimmt hübscher ausgesehen. Der blaue Lidschatten passte nicht zu Alan. Der mit meinem Kajal angemalte Schnauzer auch nicht. Und die knallroten Lippen… ähm ... zurück zu den Ladys. Warteten die auf mich? Auf jemand anderen? Oder war denen nur langweilig gewesen, so dass sie sich mal eben auf Alan stürzten und ihn als… äh… Make-up Model benutzten?

In meiner Wohnung?

Höflichkeit war hier unangebracht. Selbst wenn ich dazu erzogen worden war, mich vorzustellen. Ich feuerte ohne Vorwarnung drei gezielte Energieblitze in deren Richtung. Stumm sackten sie in sich zusammen.

Sie atmeten noch.

Ihre Hirnströme – nun, dafür wollte ich keine Garantie geben.

Mit wenig Mitgefühl zerrte ich sie mit einem Arm aus dem Weg, damit genügend Platz für Alan wäre. Als nächstes nahm ich die Magie, die Alan festhielt, in mich auf und wickelte ihn mit einem Glucksen und bebenden Lippen aus dem Teppich. Auch wenn ich ihn zu gern noch ein wenig in seiner Rolle als Polyestersushi schmoren lassen sollte. „Benutz die Hände, ich bin doch kein Fußabtreter!“, fauchte er, was ich lediglich mit einem einseitigen Schulterzucken quittierte. Er sah doch sicher, dass mein linker Arm in einer schicken, dunkelblauen Schlaufe hing. Daraufhin sagte er nichts mehr, obwohl es spürbar in ihm kochte. Alan konnte froh sein, dass ich ihn überhaupt von dem Teppich befreite. Wenigstens lag der nach der Aktion wieder an Ort und Stelle. Wo mein Stubentisch abgeblieben war, war eine ganz andere Frage.

Hastig sprang Alan auf die Beine, fragte nach dem Bad und sprintete los. Aus diesem hörte ich ihn laut stöhnen und fluchen. Sollte ich ihm sagen, dass der Kajal und auch der Lidschatten wasserfest waren?

Nö, das würde er schon selbst herausfinden.

Während Alan im Bad beschäftigt war, ging ich auf die Suche nach meinem Tisch. Doch der blieb verschwunden.

Zurück in der Wohnstube betrachtete ich die drei Gestalten, die mehr tot als lebendig wirkten. Die waren auf keinen Fall freiwillig hier. Blieb die Frage, wer sie geistig kastriert und dann auf Alan gehetzt hatte. Beziehungsweise auf mich.

In meinem Bad fiel irgendetwas knallend zu Boden. „Lass mein Bad ganz!“, brüllte ich in dessen Richtung, verbot es mir jedoch, nachzusehen. Viel konnte freilich nicht kaputt gehen. Aber was wusste ich denn, was ein wütender Wer alles zerschlagen konnte.

Abgesehen von meinen Knochen.

In der Zwischenzeit sah ich mir die drei jungen Frauen genauer an. Sie waren zwischen 18 und 25; recht hübsch. Eine ein bisschen kräftiger, aber das stand ihr ganz gut. Sie hatten unterschiedliche Haarfarben. Rot, brünett, blond. Ihre Art und Weise sich zu kleiden war grundverschieden. Wenn ich raten müsste, würde ich behaupten, sie stammten aus unterschiedlichen Gesellschaftsklassen. Die hatten als nicht gehirnamputierte Individuen wahrscheinlich nie etwas miteinander zu tun gehabt.

Verflixt, wer hatte ihnen das angetan?

Sollte ich die Polizei verständigen?

Ich entschied abzuwarten, was Alan dazu meinte. Immerhin war er angegriffen worden und damit fiel die Zuständigkeit nicht in die Hände der menschlichen Behörden. Allerdings war es in meiner Wohnung passiert, und die Täterinnen waren ausschließlich Menschen. Nachdem ich sämtliche Hosentaschen durchsucht hatte, stellte ich frustriert fest, dass wer auch immer die Fäden zog, keinen Hinweis darauf hinterlassen wollte, wer die jungen Frauen waren. Kein Ausweis. Keine Schlüssel. Keine persönlichen Sachen.

Nichts.

Einer der Frauen hatte ich die dünnen schwarzen Handschuhe ausgezogen, woraufhin mich schlagartig ein heftiger Würgereiz überkam. Ich vermutete, bei den anderen beiden war es identisch. Und diese Vermutung bestätigte sich, wobei ich nur vorsichtig tastete. Anhand der Fingerabdrücke konnten sie jedenfalls nicht identifiziert werden. Es fehlten die ersten Glieder der Finger.

Aller Finger!

Mit einem trockenen Würgen stopfte ich die Handschuhe zurück auf die kalten Hände der jungen Blondine. Sie tat mir leid. Alle drei taten mir leid. Erst jetzt fiel mir auf, dass ihre Augenlider extrem eingefallen waren.

Nein, ich wollte nicht nachsehen.

Und ich wollte auch nicht daran denken, was es bedeutete. Lass mich falsch liegen, bitte!

Ich bemerkte erst, dass ich die weiche, kühle Wange des blonden Mädchens streichelte, als Alan aus dem Bad gepoltert kam. Auffallend laut für einen Wer. „Wer sind diese durchgeknallten Weiber?“ Vielen lieben Dank, Sam, dass du mich gerettet und aus dem Teppich gewickelt hast. Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber sie tun mir leid.“ Alan schnaubte und hockte sich neben eins der Mädchen. „Sie leben noch. Gut. Sobald sie wach sind, werden die sich wünschen tot zu sein.“ Er verzog dabei solch ein vorfreudiges Grinsen, dass mein Magen drohend grummelte. „Ich glaube, das sind sie bereits.“ Immer noch in der Hocke, schaute Alan zu mir auf. Was ich ihn seinen Augen sah, war reinste, fröhlich hechelnde Mordlust. „Sie atmen.“ Ich nickte unsicher und schluckte. „Hast du… hatten sie ihre Augen offen, als sie…“ Er schüttelte den Kopf und betrachtete eins der Mädchen, bevor er seinen Mund verzog und ein Augenlid anhob.

 

Oh Scheiße! Ich hätte wegschauen sollen!

Ich legte eine Hand auf meinen Mund, um einen erstickten Aufschrei zu unterdrücken. Die andere auf meinen Bauch, um meinen Magen zu beruhigen. „Was zum Teufel…“, fluchte Alan. Ich für meinen Teil hatte genug gesehen, aber er musste sich bei allen davon überzeugen, dass sie keine Augäpfel besaßen. „Man hat ihnen auch die Fingerkuppen abgeschnitten.“, sagte ich in die Stille, während Alan seine Inspektion fortsetzte und ich mich hastig umdrehte und aus dem Fenster starrte.

Ich hörte den Stoff seiner Hosen rascheln, nahm an, dass er sich wieder aufgerichtet hatte, drehte mich um und schaute zu ihm auf. „Hast du eine Ahnung, was sie von dir wollten?“ Alan blies wütend den Atem aus seiner Nase aus. „Verdammt, nein! Ich habe geklingelt und dann konnte ich mich plötzlich nicht mehr bewegen.“ So wie er sich durch die Haare fuhr, war er mehr als angepisst. „Ich dachte, das ist deine neueste Art mich zu empfangen.“ Hey, gute Idee! Das sollte ich mir unbedingt merken. „Warum hast du nicht unten geklingelt?“

„Die Tür unten war offen. Warum sollte ich da unten klingeln?“ Gutes Argument. Zeit für die nächste, sehr wichtige Frage. „Was meinst du, wollten die dich oder mich?“ Empört schob er eine seine Augenbrauen in die Nähe seines Haaransatzes und verzog seine Lippen zu einem Grinsen. „Das ist deine Wohnung!“ Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Die Sache hatte nur ein paar winzige Haken. Im Normalfall klingelte ich nicht an meiner Tür und brauchte auch keine Schlüssel. Außerdem war ich in letzter Zeit ganz bestimmt niemandem auf die Füße getreten. Die Überlegung hatte ich erst vorgestern gehabt: Kein Wandler, keine verrückte Ker-Lon, kein durchgeknallter Vampir, keine rachedurstigen Exgeliebten von Alan. Außerdem musste jemand mein Verlassen der Wohnung abgepasst haben.

Nur, wie waren die reingekommen?

„Was meintest du damit, dass du dir nicht sicher bist, ob sie leben?“, unterbrach Alan meine Gedanken. „Sie, wie soll ich das sagen? Ihre Energiepunkte, na ja, die im Körper sind intakt. Aber von ihrem Kopf her existiert nur gähnende Leere. Als hätte ihnen jemand das Gehirn weggepustet.“ Alan nickte nachdenklich „Weißt du, was mich nervt? Ich habe keine Ahnung, wie sie es geschafft haben mich anzumalen oder in den Teppich zu wickeln. Erst stand ich bewegungsunfähig vor deiner Tür und dann lag ich verschnürt auf dem Boden.“ Mein Blick fiel auf seine Fußnägel. „Du hast da… was übersehen.“ Mit einem Nicken deutete ich auf seine Füße. Kopfschüttelnd schloss Alan die Augen, holte tief Luft und gab mir zu verstehen, dass er etwas bräuchte, um den Lack zu entfernen. Ich ging ins Bad, kramte nach dem Fläschchen und hielt es ihm, samt einem Papiertaschentuch, vor die Nase. „Wenn du nicht wusstest, dass sie dich geschminkt haben, warum bist du dann sofort ins Bad gestürmt?“ Ein Mundwinkel schob sich nach oben und er wackelte mit den Brauen. „Ich musste pissen.“ Belanglos zuckte ich mit der gesunden Schulter und deutete auf die Frauen. „Was machen wir mit denen?“ Er sah mich an, als wäre das nicht sein Problem. Doch schließlich pulte er sein Handy aus den Jeans und telefonierte.

Theoretisch hätte ich die Polizei rufen sollen.

Praktisch hatte ich weder Lust auf stundenlange Aussagen noch auf fremde Leute, die durch meine Wohnung stapften, alles fotografierten und dann doch unverrichteter Dinge abzogen.

Während Alan telefonierte und seine Nägel säuberte, schaute ich mich um. Ich lief durch alle Zimmer und überzeugte mich davon, dass nirgendwo noch eine vierte Frau herumhing oder der Tisch irgendwo an der Decke klebte.

Meine Schminkutensilien waren alle an Ort und Stelle, so dass ich mich fragte, wie es den Frauen dennoch gelungen war, Alan damit anzupinseln. Noch dazu, weil der sich an den Vorgang nicht erinnern konnte. Hier war definitiv eine Menge Magie im Spiel. Aber von den jungen Frauen konnte sie nicht ausgegangen sein. Die waren nichts weiter als ersetzbare Marionetten.

Verflixt noch eins!

Wer machte denn so was? Warum?

Dass ich eigentlich sauer auf Alan war, vergaß ich für einen Moment. In der Küche setzte ich Kaffee an, den wir beide gut vertragen konnten. Noch besser wäre etwas Alkoholisches, aber dafür ging es mir noch nicht schlecht genug. Außerdem war Alan mit dem Auto da und ich hatte vor, ein paar Schmerztabletten einzuwerfen. Ich wollte keineswegs riskieren, dass er bei mir blieb, weil wir beide unsere Sinne benebelten.

Das köstliche braune Zeug war eben durchgelaufen, und ich füllte es in zwei Tassen, als Alan unvermittelt hinter mir stand. „Wenn du irgendwem erzählst, wie du mich vorgefunden hast, wirst du es bereuen, Sam!“ Typisch, dass er mir drohen musste. Augen rollend stellte ich die Kanne zurück, kramte zwei Löffel aus den Schubkästen, stellte Milch und Zucker hin und nahm mir meinen Anteil davon. „Mist, ich hätte ein paar Fotos machen sollen. Zu schade, dass ich soweit nicht gedacht habe.“, seufzte ich theatralisch und deutete kopfnickend auf seinen Kaffee.

Eigentlich hätte ich ihm alles Mögliche dagegen halten können. Zum Beispiel, was er bei mir wollte. Ich hatte ihm schließlich gesagt, dass ich mich bei ihm meldete. Oder dass er vergessen hatte danke zu sagen. Obendrein hatte er mich gestern Abend nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Daran erinnerte mich meine jetzt wieder heftig pochende Schulter. Zwei von den Tabletten, die ich mir vorhin gekauft hatte, drückte ich aus der Verpackung und schluckte sie pur hinunter, bevor ich mit Kaffee nachspülte.

In die Stille unserer Gedanken hinein fragte Alan plötzlich, ob seine Leute gefahrlos klingeln konnten, was mich meine Stirn runzeln ließ. Ich nickte, noch während ich den Ansatz, der sich in meinem Hirn zu formen begann, weiter verfolgte. „Was?“ Alan sah mich mit zusammen gekniffenen Augen an. Meine Hand in die Höhe haltend, bedeute ich ihm, mir noch ein wenig Zeit zu lassen. Wenn es diese Frauen, aus welchem Grund auch immer, auf mich abgesehen hatten, wüssten sie, dass ich kein normaler Mensch war. Wären es irgendwelche Groupies von Alan, passten wiederum weder die Magie noch die Verstümmelungen dazu. Wäre ich mächtig genug, um selbst solch eine perplexe Magie anzuwenden, würde ich sicher gehen wollen, dass sie nur auf die Zielperson gerichtet wird. Was nicht der Fall gewesen war. Denn sie hatten bei Alan zugeschlagen und hätten auch mich erwischt, wäre ich nicht ich. Doch falls es jemand auf mich abgesehen hatte, musste derjenige einen Grund haben und würde bestimmt wissen, dass ich mehr war, als ich auf den ersten Blick schien. Besonders bei der Menge Magie, die eingesetzt worden war. Die drei Frauen hatten Alan nichts getan. Außer ihn zu fesseln und ihn ein wenig zu verschandeln. Aber sie hatten ihm keinen Schaden zugefügt. Was mich nun zu der Frage brachte, ob sie auf jemanden gewartet hatten. Auf eine vierte Person oder auf mich? Für die weitere Person sprachen die fehlenden Hirnströme der Mädchen.

Aber: Es war nun mal meine Wohnung. Nicht Alans. Hatten die Frauen einen Fehler gemacht und die falsche Person erwischt oder…

Kacke, ich drehte mich im Kreis.

Um Ordnung in dieses Chaos zu bringen, erzählte ich Alan, was ich dachte „Weißt du, wenn ich es auf dich abgesehen hätte, würde ich dich nicht direkt angreifen.“ Oh ja, er hatte mir selbst mit meinen Freunden gedroht. „Entweder weiß derjenige nicht, was du bist…“

„Oder du bist derjenige, auf den sie es abgesehen haben. Was aber auch keinen Sinn ergibt. Überleg doch mal. Wie oft warst du bisher in meiner Wohnung? Abgesehen von gestern Morgen und heute?“ Gar nicht. Und das wusste Alan so gut wie ich. „Ich hätte einfach klingeln sollen und abwarten, was sie tun. Ich wette mit dir, diese drei Ladys sehen keine Magie. Ich hätte so tun können, als wäre ich gefangen und dann, denke ich, wäre noch jemand aufgetaucht. Sie hätten irgendjemanden informiert.“ Weder nickte Alan noch schüttelte er den Kopf. „Wir können es nicht ändern. Außerdem hätten sie genauso gut auf dich warten und dich erschießen können.“ Ok, da war was dran. Aber inzwischen wusste ich, dass sie keine Waffe besaßen. „Gut, dass du noch lebst. Ich wüsste sonst nicht, wie ich an das Buch komme. Es gibt niemanden, der besser ist.“ Das versetzte mir einen Stich ins Herz.