Das Jahrhundert des Populismus

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Der unmittelbare Ausdruck des Volkes

Schließlich gibt es in populistischer Perspektive ein implizites Verständnis der Evidenz des Gemeinwillens, sobald der Sieg über die Feinde des Volkes einmal errungen ist. Das entspricht der politischen Philosophie von Carl Schmitt. Für Schmitt10 geht das Bekenntnis zur öffentlichen Akklamation als vollendete Form der Demokratie nämlich einher mit einer Kritik an den mit dem Pluralismus des liberalparlamentarischen Ansatzes verbundenen Illusionen. Denn für ihn war das Volk, das sich im Kampf gegen seine Feinde herausbildet, zwangsläufig homogen und einstimmig. Ohne Schmitts Vorstellung von ethnischer Homogenität zu übernehmen, haben seine »populistischen Leser*innen« wie Chantal Mouffe oder Ernesto Laclau doch seine Idee von Einstimmigkeit als regulatorischer Horizont des demokratischen Ausdrucks bewahrt, mit allem, was dies im Hinblick auf die Ablehnung argumentativer und deliberativer Theorien beinhaltet.11 Politische Teilhabe definiert in diesem Rahmen kein aktives Bürgerengagement, das sich auf die Formulierung persönlicher Meinungen und die Konfrontation der Standpunkte gründet, sie verweist vielmehr auf die Tatsache, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen.12 Das ist eine Form von Rousseauismus in Verbindung mit Annahmen über die Vorzüge und Potenziale der Volksspontaneität, des gesunden Menschenverstandes der Massen. »Alle Individuen«, äußerte sich Chávez 2007 in typischer Manier, »erliegen Irrtümern und Verlockungen, nicht aber das Volk, das ein enormes Bewusstsein für das eigene Wohl und das Maß seiner Unabhängigkeit besitzt. Deshalb ist sein Urteil aufrichtig, sein Wille stark, und niemand kann es bestechen oder auch nur bedrohen.«13 Eine Sichtweise, die direkt jenen Passagen des Gesellschaftsvertrags entsprungen scheint, die davon ausgehen, dass der Gemeinwille sich nicht irren könne.

Eine solche unmittelbare Demokratie erfordert keine strukturierten politischen Organisationen, die nach dem Prinzip der internen Demokratie funktionieren; sie fördert vielmehr ein Vorgehen, sich zu einem bestehenden politischen Angebot zu bekennen. Interne Demokratie würde nämlich heißen, dass Strömungen existieren, Strategiedebatten, Konkurrenz zwischen Individuen, auf diese Weise sind Parteien üblicherweise strukturiert. Eine Bewegung kann hingegen nur ein kohärentes und zusammengehöriges Ganzes bilden, nach dem Bild des homogenen Volkes, dessen Geburtshelfer und Ausdruck sie sein will. Deshalb befindet sie sich im Einklang mit der neuen Welt der sozialen Netzwerke, in der sich die Kategorie des followers eingebürgert hat, um die typische Art der Beziehung zwischen den Individuen und einem Initiativpunkt zu bezeichnen.

Die Medienkritik, die im Zentrum der populistischen Rhetorik steht, muss im Hinblick auf dieses Unmittelbarkeitsprinzip verstanden werden. Trumps Beschimpfungen der Journalisten, Orbáns Vorwürfe gegen die Gefolgsleute von George Soros oder Mélenchons Aufrufe zu einem »gesunden und gerechten Hass auf die Medien« sind keine bloßen Wutausbrüche. Sie mögen zwar auch der Verärgerung und dem Groll über widerstrebende Kräfte entspringen, sind aber in erster Linie charakteristisch für eine Theorie unmittelbarer Demokratie, die den Anspruch vermittelnder Organe – und die Presse ist eines der wichtigsten von ihnen –, eine aktive Rolle bei der Gestaltung des öffentlichen Lebens und der Bildung der öffentlichen Meinung zu spielen, als strukturell illegitim zurückweist. Die Medien sind für sie Störfaktoren, die den Ausdruck des Gemeinwillens beeinträchtigen, und keine Organe, die zu seiner Bildung notwendig sind. Eine Illegitimität, die man als funktional bezeichnen könnte – hinsichtlich der Prämisse demokratischer Spontaneität –, verbunden mit einer moralischen Illegitimität, die aus der vermuteten Abhängigkeit von Partikularinteressen und Geldmächten resultiert.

1Chantal Mouffe, Das demokratische Paradox, S.22.

2Jean-Marie Le Pen, »Pour une vraie révolution française«, National Hebdo, 26. September 1985. Er grenzte sich damit von der Maurras’schen und konterrevolutionären Tradition des Rechtsextremismus ab, die den demokratischen Gedanken verwarf. Dieser Artikel markierte auch eine Abwendung von seiner eigenen vorherigen Skepsis eines »Churchilldemokraten«. Vgl. sein vorheriges Manifest Les Français d’abord von 1984.

3Ebd.

4Siehe das Kapitel »Rendre le pouvoir au peuple« des Programms Le Grand Changement, mit einem Vorwort von Jean-Marie Le Pen.

5Siehe exemplarisch Yvan Blot, Les Racines de la liberté (Kap. VIII, »Le modèle suisse«, und Kap. IX »Le recours: la démocratie authentique«) und La Démocratie directe: une chance pour la France.

6Rede im Zenith de Nantes, 26. Februar 2017. Sie sah sich zu diesem Zeitpunkt mit mehreren strafrechtlichen Ermittlungen konfrontiert, die sich sowohl auf die Abläufe in ihrer Partei als auch auf die Tatsache bezogen, dass sie persönliche Mitarbeiter*innen im Front national vom europäischen Parlament hatte bezahlen lassen.

7Siehe den typischen Artikel von Alain de Benoist, »Vers une juridictature«, Éléments, Nr. 178, Mai-Juni 2019. Siehe, in derselben Nummer, das gesamte Dossier »Les juges contre la démocratie. Pour en finir avec la dictature du droit«.

8Vergleiche meine diesbezüglichen Ausführungen (»Historische Anmerkungen zur Richterwahl«) in: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit, Reflexivität, Nähe.

9Die Formel stammt von Wladislaw Surkow, der in den 2000er Jahren die Rolle des organischen Intellektuellen und spin doctors für Putin spielte.

10Carl Schmitt (1888–1985) war einer der großen deutschen Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts. Als fundierter Kritiker des Liberalismus und Parlamentarismus vertrat er eine realistische Sicht der (als Freund-Feind-Konflikt definierten) Politik und eine rassistische und unanimistische Auffassung des Volkes. Seine Entwicklung in Richtung Nationalsozialismus trug dazu bei, sein Denken zu diskreditieren; aber er wurde in den 1980er Jahren »wiederentdeckt«, von einer extremen Rechten auf der Suche nach Vordenkern und einer extremen Linken, die von seiner antiliberalen Radikalität und seinem Kult der Stärke fasziniert war.

11Siehe dazu Philippe Urfalino, »Un nouveau décisionnisme politique: la philosophie du populisme de gauche«, Archives de philosophie, Januar 2019. Hier ist daran zu erinnern, dass die Kritik an den »diskutierenden Klassen« sich wie ein roter Faden durch das antiliberale (heute würde man sagen, rechtsextreme) Denken zieht, von Donoso Cortés über Barrès und Maurras bis zu Carl Schmitt. Sie ist auch die Wurzel des Antiintellektualismus, der diese Autoren vereint. Ihrer Meinung nach muss die Logik der Intellektuellen zurückstehen hinter dem Instinkt der einfachen Leute, der allein eine richtige Beziehung zur Realität ausdrückt.

12So lautet übrigens die explizite Definition von Alain de Benoist in: Démocratie: le problème.

13Zitiert in dem Werk von Cas Mudde und Cristóbal Rovira Kaltwasser, Populismus: eine sehr kurze Einführung, S.40.

3Ein Repräsentationsmodus: der Homme-peuple

Der Populismus preist ein homogenes, in seiner Ablehnung der Eliten und Oligarchien vereintes Volk. Ein Volk auch, das eine politische Kaste verwünscht, die beschuldigt wird, nur Eigeninteressen zu verfolgen und keinen repräsentativen Charakter mehr zu haben. Daher die Ablehnung der Parteiform, die mit der Herrschaft realitätsferner Apparate und Gebetsmühlen gleichgesetzt bzw. beschuldigt wird, durch endlose Machtkämpfe konkurrierender Gruppen gelähmt zu werden. Insofern aus letzterem Grund die Bevorzugung einer anderen Art politischer Organisation: die der Bewegung. Neben ihrem ursprünglichen Anliegen, frisches Blut ins öffentliche Leben zu bringen, unterscheiden sich die populistischen Bewegungen auch strukturell von den Parteien. Waren die Parteien idealiter als organisierter Ausdruck spezifischer, sozial, territorial oder ideologisch definierter Gruppen gedacht, so erheben Bewegungen den Anspruch, die gesamte Gesellschaft zu umfassen.1 Die Repräsentation der Gesellschaft war über die Parteien leicht zu denken, weil diese ja gerade Ausdruck klar definierter, bestehender Realitäten waren (die Arbeiterklasse, die bäuerliche Welt, die Handwerker und Gewerbetreibenden, religiöse Gemeinschaften usw.). Mit den populistischen Bewegungen stellt sich die Sache anders dar. Sie bilden sich zunächst auf eine stärker negative Weise heraus, durch eine Reihe von Ablehnungen und Verwünschungen. Doch parallel dazu sind sie mit dem immer diffuseren Charakter des Volkes konfrontiert, als dessen Vorreiter sie sich verstehen. Der Niedergang der politischen Parteien hängt übrigens teilweise mit dieser Realität zusammen. Sie sind nicht nur Opfer ihrer Antiquiertheit und ihrer Verknöcherung: sie finden ihren Platz nicht mehr in einer Gesellschaft, die sich radikal verändert hat, einer Gesellschaft, in der die sozialen Verhältnisse immer fragmentierter sind.2 Auch in diesem Kontext hat die populistische Botschaft eine positive Aufnahme gefunden, weil ihre Globalisierung das Gefühl vermittelte, sie könne inmitten dieser Zersplitterung etwas Gemeinsames erzeugen. Doch reicht ihr anklägerischer Diskurs nicht aus, um den Repräsentationsmangel zu füllen, der die heutigen Demokratien charakterisiert. Daher die Rolle, die die Führungsfigur spielt, um dieser Botschaft Kohärenz und Wahrhaftigkeit zu verleihen.

 

Der lateinamerikanische Präzedenzfall

Der lateinamerikanische Populismus hat um die Mitte des 20. Jahrhunderts auf exemplarische Weise diese wesentliche Dimension der heutigen Populismen veranschaulicht. Das ist nicht verwunderlich, denn er tauchte in gering industrialisierten Ländern auf, die weniger in Klassen geteilt als von latifundistischen und oligarchischen Herrschaftsformen bestimmt waren. Der Gegensatz zwischen Volk und Eliten war somit für einen Großteil der Bürger*innen am einleuchtendsten. In diesem Kontext trat die Thematik des Homme-peuple in Erscheinung. »Ich bin kein Mensch, ich bin ein Volk«, dieser bis zum Überdruss wiederholte Satz der kolumbianischen Führerfigur der 1930er und 1940er Jahre, Jorge Eliécer Gaitán3, gab die Richtung vor für die späteren Populismen auf dem ganzen Kontinent. Sein Lebenslauf verdient, einen Augenblick bei ihm zu verweilen, denn in ihm drückt sich die Doppelnatur dieses kommenden Populismus aus, der ebenso vehement antikapitalistisch wie fasziniert von den seinerzeit im Aufstieg befindlichen Faschismen war. Als Student in Rom schrieb er 1926–1927 eine Doktorarbeit bei Enrico Ferri, einem berühmten, vom Sozialismus zum Faschismus gewechselten Kriminologen, der zu seinem Förderer wurde. Gaitán hatte mehrfach Gelegenheit, an Versammlungen von Mussolini teilzunehmen und zeigte sich beeindruckt von dessen Fähigkeit, seine Zuhörer*innen zu beherrschen und die Energie einer Menge zu steuern. Er studierte sogar sorgfältig die Gestik des Duce und seine Art, die Stimme zu modulieren, um sich der Aufmerksamkeit seines Publikums zu versichern – Techniken, die er für sein eigenes politisches Handeln in Kolumbien übernahm. Als »Kandidat des Volkes« wurde Gaitán, zugleich Antikapitalist und Gegner der traditionellen Oligarchie, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 1948 ermordet (wir kommen später auf sein Werk zurück). Seit dieser Zeit steht sein Name symbolisch für den lateinamerikanischen Populismus, in seiner Sprache wie in seinem antioligarchischen Engagement, mitsamt seinen Ambiguitäten. Er wurde von Fidel Castro ebenso bewundert wie von Juan Perón. Perón, der sich ebenfalls als Homme-peuple verstand, der von »Depersonalisierung« sprach, um die Pläne zu bezeichnen, die die Revolution in ihm angelegt habe4, und davon überzeugt war, dass seine Individualität in der der Argentinier*innen aufgegangen sei.

Hugo Chávez, der sich ausdrücklich auf Gaitán bezog, bekräftigte diese Formel im venezuelanischen Präsidentschaftswahlkampf von 2012. »Wenn ich euch sehe«, wandte er sich üblicherweise an die versammelten Massen, »wenn ihr mich seht, dann fühle ich, dann sagt mir etwas: ›Chávez, du bist nicht mehr Chávez, du bist ein Volk. Ich bin tatsächlich nicht mehr ich, ich bin ein Volk, und ich folge euch, so empfinde ich es, ich habe mich in euch verkörpert. Ich habe es gesagt und wiederhole es: Wir sind Millionen Chávez; auch du, venezuelanische Frau, bist Chávez; und du, venezuelanischer Soldat, bist Chávez; du auch, Fischer, Ackersmann, Bauer, Händler, bist Chávez. Denn Chávez ist nicht mehr ich, Chávez ist ein ganzes Volk!«5 So lebte die alte Idee einer spiegelbildlichen Repräsentation6 wieder auf. In seiner ersten Antrittsrede als Staatspräsident hatte Chávez 1999 seinem Publikum zugerufen: »Heute verwandle ich mich in euer Werkzeug. Ich existiere kaum, und ich erfülle das Mandat, das ihr mir anvertraut habt. Bereitet euch aufs Regieren vor!«7

Die organische Führungsfigur

Die lateinamerikanischen Beispiele hatten noch bis vor Kurzem einen »exotischen« Charakter. Doch das Erstarken der Populismen zeigt eindeutig, dass dieses Verständnis der Führungsfigur als »Hommepeuple« für eine Sicht der politischen Repräsentation steht, die ihnen allen gemeinsam ist. Während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs von 1995 hatte der Front national folgenden Spruch auf seine Plakate gedruckt: »Le Pen, le peuple«. Die Frage wurde später von denen explizit theoretisiert, die als die organischen Intellektuellen jener bereits erwähnten Strömung der Linken gelten, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. »Der Populismus«, betonte Ersterer, »erfordert als seine Entstehungsbedingung eine neuartige Vertikalität. Das Volk als Kollektivakteur muss sich um eine gewisse Identität herum bilden. Doch diese Identität ist nicht automatisch gegeben: Sie muss erzeugt werden.«8 Das bedeutet für ihn, dass neben der »horizontalen Ausdehnung demokratischer Äquivalenzen« eine »vertikale Verbindung mit einem hegemonialen Signifikanten« treten muss, »der zumeist der Name einer Führungspersönlichkeit ist«.9 Die gleiche Einschätzung findet sich bei Chantal Mouffe: »Um aus heterogenen Forderungen einen Kollektivwillen zu erzeugen«, schreibt sie, »braucht es eine Person, die ihre Einheit repräsentieren kann. Ein populistisches Moment ohne Führungsfigur kann es also nicht geben, so viel ist klar.«10

Von links aus formuliert, sorgten solche Thesen für eine gewisse Verwirrung. Sie wurden jedoch von ihren Verfasser*innen vehement verteidigt. Indem diese zunächst der von ihnen erwünschten Führungsfigur von dem »sehr autoritären Verhältnis« abgrenzten, das die Beziehungen zwischen Volk und Führer im Rechtspopulismus charakterisiere. Doch stand das Argument auf schwachen Füßen, weil es auf einem bloßen Apriori beruhte. Interessanter waren ihre Überlegungen zur allgemeinen Besonderheit des Homme-peuple. Dieser war für sie eine Führungsfigur, die als solche nur existiert, wenn sie tatsächlich das Leben und die Forderungen der Repräsentierten verkörpert; wenn sie, kurz gesagt, eine wirkliche Macht zur Verkörperung aufweist. In diesem Fall kann man sagen, dass sie idealerweise eine depersonalisierte Führungsfigur ist, eine reine Repräsentantin, eine total in ihrer Funktionalität aufgehende Figur ist, himmelweit entfernt also von jeglicher Form von Personenkult, mitsamt dem darin enthaltenen Herrschaftsverhältnis.11 Idealerweise, wohlgemerkt. Die Führungsfigur kann hier als reines Organ des Volkes betrachtet werden.12 Er ist nicht mehr nur der Gewählte oder Delegierte, das heißt der Repräsentant im verfahrenstechnischen Sinne: es ist derjenige, der das Volk präsent macht, im übertragenen Sinne des Wortes, der ihm Form und Aussehen gibt. Die zunehmende Personalisierung des politischen Lebens ist zwar ein universelles Faktum, das mit der von der Exekutive errungenen Vormachtstellung zusammenhängt (während die Legislative stets eine plurale Körperschaft ist), doch gibt es in der Figur der organischen Führungsfigur etwas spezifisch Populistisches.

In dieser Hinsicht sind die unverhohlenen Äußerungen eines Jean-Luc Mélenchon aufschlussreich, der seinen Gegnern ins Gesicht sagte: »Ich gehöre zum Volk. Ich bin niemals mehr gewesen und will es auch nicht sein; ich verachte jeden, der das Bestreben hat, mehr zu sein.«13 Eines Mélenchon, der 2017 beim Besuch des Forum Romanum ausgerufen hatte: »Cäsar stand dem Volk nahe. Es waren die Patrizier, die Feinde des Volkes, die ihn ermordeten. Das Interessante ist, Cäsar als eine volkstümliche Gestalt zu sehen.«14 Eines Mélenchon, der feststellte, dass Politik mehr denn je impliziere, »einen kollektiven Affekt zu erzeugen«, aber gleichzeitig der Ansicht war, dieser müsse »abgebaut werden, um rationale Optionen zu verankern«. Eines Mélenchon, der die Personalisierung der Macht ehrlich für »unerträglich« hält, sich aber gleichzeitig wünscht, »den tribunizischen Weg weiterzugehen«. Eines Mélenchon, der nachdenklich und zugleich entschlossen ist, die Kleider jenes Homme-peuple zu tragen, mit denen er den Populismus betreten hat. Auf die Frage, wie er denn meine, dass die einfachen Leute ihm folgen könnten, antwortete er: »Sie können sich mit mir identifizieren […]. Die Leute, denen ich auf der Straße, im Bus, in der Metro begegne, spüren instinktiv, wer ›mit ihnen‹ ist.«15 Eine solche Auffassung der Repräsentation als Verkörperung ist allgegenwärtig in der populistischen Galaxie. Selbst ein Donald Trump hatte in seiner Antrittsrede als Präsidentschaftskandidat vor dem republikanischen Konvent nicht vor den Worten zurückgeschreckt: »Ich bin eure Stimme.«16 Die Vornahme einer solchen Identifikation ist selbst schon ein Programm. Jenseits der Formulierung von Reformvorschlägen ist somit das Besondere populistischer Politik die Gründung auf ein fleischgewordenes Wort, dem eine sozusagen existenzielle Dimension innewohnt. Es wendet sich an die Affekte ebenso wie an den Verstand, wir werden auf diesen zentralen Punkt zurückkommen.

1Bezeichnenderweise sagt Jean-Luc Mélenchon über La France insoumise: »Wir wollen keine Partei sein. Die Partei ist das Werkzeug der Klasse. Die Bewegung ist die organisierte Form des Volkes«, Le 1 Hebdo, Nr. 174, 18. Oktober 2017.

2Vergleiche dazu mein Werk Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France.

3Siehe Jorge Eliécer Gaitán, Escritos politicos.

4Rede vom 1. Mai 1974, in Juan Domingo Perón, El modelo argentino, Gualeguaychú 2011, S.11.

5Rede vom 12. Juli 2012. Wortwörtlich wiederholt am 9. und 24. September 2012.

6Erwähnt sei, dass der Subcommandante Marcos das permanente Tragen einer Sturmhaube seit seiner Flucht nach Chiapas (Mexiko) in diesem Sinne rechtfertigte: Als man ihn fragte, wer sich hinter der Maske verberge, antwortete er: »Wenn du wissen willst, wer Marcos ist, nimm einen Spiegel, das Gesicht, das du darin siehst, ist das von Marcos. Denn Marcos bist du, Frau, bist du, Mann; bist du, Indigener, Bauer, Soldat, Student … Wir alle sind Marcos, ein ganzes aufständisches Volk« (zitiert bei Ignacio Ramonet, Marcos, la dignité rebelle. Conversations avec le sous-commandant Marcos; Hervorhebung von mir).

7Hugo Chávez, Seis discursos del Presidente constitucional de Venezuela, S.47.

8Ernesto Laclau, »Logiques de construction politique et identités populaires«, S.153.

9Ebd., S.156.

10Chantal Mouffe/Iñigo Errejón, Construire un peuple. Pour une radicalisation de la démocratie, S.169.

11Hinsichtlich der Einführung des Führers in ein linkspolitisches Denken kann man sich auf das Werk von Jean-Claude Monod, Qu’est-ce qu’un chef en démocratie? Politiques du charisme, beziehen. Siehe auch das Nachwort zur Neuauflage in der Sammlung »Point« von 2017.

12Die Leser*innen, die diesen Begriff vertiefen möchten, können sich auf die Theorie des Organs im deutschen Staatsrecht Ende des 19. Jahrhunderts beziehen, bzw. die entsprechenden Ausführungen bei Raymond Carré de Malberg in seiner meisterlichen Contribution à la théorie générale de l’État. Im Populismus liegt somit eine implizite Übertragung dieser Theorie des Organs auf die Figur des Führers vor (während Carré de Malberg das Parlament zum Organ einer an sich nicht repräsentierbaren Nation machte).

13Robespierre-Zitat von Jean-Luc Mélenchon in seinem Buch L’Ère du peuple, S.31.

 

14Wiedergegeben in Lilian Alemagna und Stéphane Alliès, Melenchon à la conquête du peuple, S.410. Die folgenden Zitate sind demselben Werk entnommen.

15Interview in Le 1 Hebdo, Nr. 174, 18. Oktober 2017. Man könnte auch erwähnen, dass er, während der turbulenten Haussuchung in den Räumlichkeiten von La France insoumise am 16. Oktober 2018, nicht vor der Behauptung zurückschreckte: »Die Republik bin ich«, »Meine Person ist heilig« oder: »Ich bin mehr als Jean-Luc Mélenchon, ich bin 7 Millionen Personen« (wiedergegeben in: Le Monde, 19. Oktober 2018).

16Rede vom 22. Juli 2016.

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