Das Jahrhundert des Populismus

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Von der Klasse zum Volk

Das populistische Projekt, die Demokratie neu zu begründen, indem man die Idee des Volkes wieder in den Mittelpunkt stellt, beruht in erster Linie auf dem Verzicht auf Analysen der sozialen Welt in Klassenbegriffen. Die Ausführungen der beiden Hauptvertreter des Linkspopulismus, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, sind in dieser Hinsicht erhellend. Aus einer marxistischen Tradition stammend, sind sie zu dem Befund gelangt, dass die Frage des Privateigentums an Produktionsmitteln, mit den sich daraus ergebenden Ausbeutungsverhältnissen, nicht mehr die einzige, ja nicht einmal die wesentliche sei, um der sozialen Spaltung der Gegenwart Rechnung zu tragen. Denn die den öffentlichen Raum strukturierenden Konflikte hätten sich heute auf neue Felder erweitert: zum Beispiel Mann-Frau-Beziehungen, territoriale Ungleichheiten, Identitäts- und Diskriminierungsfragen. Aber auch auf alles, was als Anschlag auf die persönliche Würde empfunden und als unerträgliche Form der Distanz und Herrschaft erlebt wird (die populistische Sprache greift das auf, indem sie den Leuten verspricht, ihren Stolz zurückzugewinnen, längst bevor überhaupt von einer Zunahme an Kaufkraft die Rede ist). Es gibt also in diesem Kontext nicht mehr einen Klassenkampf, der die Dinge von allein polarisieren würde; ebenso wenig wie eine Gesellschaftsklasse, die wesentliche Trägerin der menschlichen Emanzipationshoffnungen wäre (die Arbeiterklasse, das Proletariat). »Das populistische Moment«, schreibt Chantal Mouffe in diesem Sinne, »ist Ausdruck einer Reihe heterogener Forderungen, die sich nicht einfach in Form von Interessen formulieren lassen, die mit bestimmten gesellschaftlichen Kategorien verknüpft sind. Außerdem sind im neoliberalen Kapitalismus neue Formen der Unterordnung entstanden, die jenseits des Produktionsprozesses liegen. Daraus sind Forderungen entsprungen, die nicht länger mit gesellschaftlichen Sektoren korrespondieren, die man mit soziologischen Begriffen fassen oder über ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft definieren könnte. […] Daher muss die politische Frontlinie heute auf eine ›populistische‹, transversale Art und Weise konstruiert werden.«3 Die neue politische Grenze ist in ihren Augen diejenige, die zwischen »Volk« und »Oligarchie« verläuft. »Der Populismus«, folgert Laclau daraus, »ist keine Ideologie, sondern eine Konstruktionsweise des Politischen, die darauf beruht, dass die Gesellschaft zweigeteilt ist und ›die da unten‹ gegen die bestehende Macht mobilisiert werden müssen. Populismus liegt jedes Mal dann vor, wenn die Gesellschaftsordnung als wesentlich ungerecht empfunden und zum Aufbau eines neuen kollektiven Handlungssubjekts – das Volk – aufgerufen wird, das in der Lage ist, diese Ordnung von Grund auf neu zu gestalten. Ohne die Entstehung und Verallgemeinerung eines neuen globalen Kollektivwillens gibt es keinen Populismus.«4 Laclau setzt somit voraus, dass alle Forderungen und Konflikte, die die Gesellschaft durchziehen, sich am alleinigen Gegensatz zwischen den Inhabern der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Macht, die eine Einheit bilden (den Herrschenden in Bourdieus Terminologie), und dem Rest der Gesellschaft (dem Volk) ausrichten.

Sie und Wir

Laclau begreift also den Populismus als Folge einer »horizontalen Äquivalenzlogik«5, die die Gesamtheit gesellschaftlicher Forderungen zusammenfasst. Diese Zusammenfassung wird durch die Einsicht ermöglicht, dass ein gemeinsamer Feind existiert, der die Trennlinie zwischen »ihnen« und »uns« zieht. Dieser Feind kann als »Kaste«, als »Oligarchie«, als »Elite« oder als »System« im Allgemeinen identifiziert werden. Seine Existenz markiert eine »innere Grenze, die das Soziale in zwei getrennte und antagonistische Lager teilt«. Eine Sicht, die im diametralen Gegensatz zu einem »liberalen« Verständnis sozialer Konflikte und Forderungen steht, demzufolge diese stets Gegenstand von Kompromissen und Schlichtungen sein können. Beim populistischen Projekt handelt es sich demnach für Laclau um eine Radikalisierung der Politik als Entstehungs- und Aktivierungsprozess einer Freund-Feind-Beziehung. Daher der zentrale Stellenwert eines Begriffs wie »Antagonismus« bei ihm, der es ermöglicht, Konflikte zu bezeichnen, für die es keine rationale und friedliche Lösung gibt. Daher auch die mit Chantal Mouffe geteilte Faszination für das Werk von Carl Schmitt, seine politische Theorie und seinen radikalen Antiliberalismus. Eben diese Faszination macht eines der intellektuellen Bindeglieder zwischen Rechts- und Linkspopulismus aus, wie die Ähnlichkeit der Analysen eines Alain de Benoist6 mit denen von Ernesto Laclau bezeugt.

Diese Benennung eines Volksfeindes beruht nicht nur auf der Feststellung eines Interessengegensatzes oder einer Machtkonkurrenz. Sie hat auch eine instinktive Dimension, sie beruht auf der Wahrnehmung einer Distanz, einer Verachtung, einer fehlenden Empathie. Die populistischen Bewegungen legen übrigens großen Wert auf die Macht der Gefühle bei der politischen Mobilisierung und der Erzeugung des Gefühls, dass sich fremde Welten gegenüberstehen und unüberwindliche Lager zwischen »ihnen« und »uns« schaffen. Es ist der Mangel an Menschlichkeit seitens der »Kaste«, der »Elite« oder der »Oligarchie«, der den Hass rechtfertigt, den man ihnen legitimerweise entgegenbringt: sie werden als Gruppen empfunden, die sich gesellschaftlich und moralisch aus der gemeinsamen Welt verabschiedet haben. Daher die Heftigkeit der Anklage gegen diejenigen, die sich auf Kosten des Volkes »die Taschen füllen«, die Stigmatisierung der »Geldzauberer«, die Schätze »raffen« und »horten« und sich auf tausenderlei Arten von ihren Mitbürger*innen entfremden. Die Figuren des Politikers, des Milliardärs und des Technokraten verschmelzen in diesen Schmähungen zu einem Bild des Abscheus.

Die Macht eines Wortes

Das Wort »Volk« erscheint auch deshalb heute besonders sinnfällig, weil es dem, was viele Bürger*innen undeutlich empfinden, eine Sprache gibt. Während die Begriffe der traditionellen Soziologie, das statistische Vokabular der sozioprofessionellen Kategorien und die Kriterien der Verwaltungsformulare ihnen einer toten Sprache anzugehören scheinen, die weit von ihrem Leben und ihren Erfahrungen entfernt ist. Die Spaltung zwischen dem »Oben« und dem »Unten« der Gesellschaft wird nämlich auch auf ganz existenzielle Weise erlebt. Die Eliten werden beschuldigt, in einer Welt zu leben, die nicht mehr weiß, was vor ihren Türen passiert. Und das Volk definiert sich spiegelbildlich als die Welt der Männer und Frauen, die in den Augen dieser Wichtigtuer namenlos sind. Die soziale Spaltung enthält somit auch eine »kognitive Distanz«, eine Kluft zwischen den »statistischen Wahrheiten«, die die Regierenden anführen, um den Zustand der Gesellschaft zu beschreiben, und den gefühlten Lebensbedingungen. Das beliebige Individuum hat nämlich nichts mit den Durchschnittsmenschen in der heutigen Gesellschaft zu tun: Es ist immer besonders.

Die positive Wiederaufnahme des Wortes »Volk« ist in diesem Kontext zu sehen. Sein neuerlicher Gebrauch verweist nicht mehr auf eine politische Abstraktion oder eine gesichtslose Menge. Gerade in seiner Unbestimmtheit scheint es sich dem konkret fassbaren Leben eines jeden zu öffnen. Es gibt einer Gesellschaft von Individuen aufgrund seiner Empfänglichkeit für Singularitäten eine kollektive Form. Und das umso mehr als die glorreiche Geschichte, die ihm eigen ist, die Stellung derer, die sich beherrscht, unsichtbar gemacht oder in der Besonderheit ihrer Umstände eingesperrt fühlen, in gewisser Weise aufwertet. Man kann so stolz in Anspruch nehmen, zum Volk zu gehören während man sich ein wenig dafür schämt, durch einschränkende Kriterien definiert zu werden (arbeitslos zu sein, vom Mindestlohn zu leben, schlecht über die Runden zu kommen, geringe Schulabschlüsse zu haben …). Das Wort ermöglicht somit gleichzeitig, einen Wutschrei zu artikulieren und einen gewissen Adel zur Schau zu stellen.

Mit dem Gebrauch dieser vorteilhaften und polarisierenden Identifikation geht auch die mögliche Rückkehr zu rhetorischen Figuren und affektiven Ausdrucksformen einher, in denen die alten revolutionären Aversionen gegen die Privilegierten wieder aufscheinen, die als nicht zur Nation gehörig betrachtet werden, sowie jene Art von Dämonisierung des Fremden, die zu Kriegszeiten oft zu beobachten war. Die moralische Disqualifizierung spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle beim Zusammenwerfen aller jener zu einer Einheit, die, in den verschiedenen Bedeutungen des Wortes, als korrumpiert gelten. Das Volk bildet dazu den Kontrast: Es ist tugendhaft, hat Verständnis für die Leiden anderer und arbeitet hart für seinen Lebensunterhalt. Die Parallele zur Denkweise Robespierres ist hierbei umso auffälliger, als sich ein Jean-Luc Mélenchon ausdrücklich auf ihn berufen hat.7 Sie ist es übrigens auch unter dem Aspekt der Gleichsetzung politischer Gegner mit ausländischen Agenten, ihrer Beschreibung als Helfershelfer des internationalen Kapitalismus, eines globalisierten Multikulturalismus oder eines technokratischen Europa, das die nationale Souveränität mit Füßen tritt; der Begriff »Neoliberalismus« fasst dabei in einem Wort die politische und soziale Kultur der »Kaste« zusammen. In einem allgemeineren Sinne könnte man sagen, dass das Wort »Volk« doppelgesichtig ist wie Janus. Es knüpft an den Gedanken einer gewissen moralischen Größe an, während es zugleich die finstersten Hassgefühle rechtfertigt.8 Es konstruiert das politische Feld auf eine Weise, dass der Gegner nur ein Feind der Menschheit sein kann. Es dient dazu, dem Unglück einen Namen zu geben und zugleich den Weg zu einer gewissen Art von Wandel zu weisen.

 

Unter diesen verschiedenen Gesichtspunkten versuchen die populistischen Bewegungen, der Beschwörung eines unauffindbar gewordenen homogenen Volkes eine fassbare Gestalt zurückzugeben, eine Referenzgröße, die zuvor nur ein »schwebender Signifikant«, ja ein »leerer Signifikant« gewesen war, gemäß den bereits zitierten Formulierungen von Ernesto Laclau. Diese Art, »ein Volk zu konstruieren«9, wirft natürlich viele Fragen auf, auf die wir in jenem Teil dieses Buches zurückkommen werden, der den Voraussetzungen einer angemessenen Kritik des Populismus gewidmet ist. Doch gilt es zu betonen, dass sie den Vorteil aufweist, den Bruch oder zumindest die Spannung zwischen dem zivilen Volk und dem sozialen Volk zu reduzieren. Denn beide fallen zusammen mit dem Verweis der Regierenden und der verschiedenen Arten von Eliten oder Oligarchien in dieselbe Kategorie, die der Kaste zum Beispiel. Die Wiederbelebung der Demokratie und die Verbesserung der Lebensbedingungen hängen also, dieser populistischen Perspektive zufolge, von der gleichzeitigen Verabschiedung dieser kleinen, einheitlichen Gruppe von Volksfeinden ab, sodass sich sozialer Kampf und politische Konfrontation überlagern.10 Eben das begründet ihre Stärke.

1Vergleiche dazu die Ausführungen in meiner Vorlesung von 2018 am Collège de France.

2Ich erlaube mir, auf mein Werk Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France zu verweisen.

3Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus, S.16–17.

4Ernesto Laclau, »Logiques de la construction politique et identités populaires«, S.151. Dieser Text besteht aus Exzerpten von On Populist Reason und stellt eine gute Zusammenfassung seines Buches dar.

5Ebd., S.152.

6Siehe seinen Artikel »Ernesto Laclau: le seul et vrai théoricien de populisme de gauche«, Éléments, Nr. 160, Mai-Juni 2016.

7Siehe sein Gespräch mit Marcel Gauchet in: Philosophie Magazine, Nr. 124, Oktober 2018 (Gauchet hatte gerade Robespierre, l’homme qui nous divise le plus, veröffentlicht). Siehe auch sein mit Cécile Amar verfasstes De la vertu.

8Die Wahrung der eigenen Identität und Würde kann sich beispielsweise in einer Ablehnung als »fremdartig« geltender Religionen äußern (vor allem des Islam).

9Diesen Titel hat Chantal Mouffe einem gemeinsam mit der Nummer zwei von Podemos in Spanien verfassten Buch gegeben (Chantal Mouffe/Íñigo Errejón, Construir Pueblo; frz. Construire un peuple).

10Daher die geringe Aufmerksamkeit, die den Gewerkschaften seitens der populistischen Bewegungen zuteilwird.

2Eine Demokratietheorie: direkt, polarisiert, unmittelbar

Die Populismen sehen sich selbst in der Perspektive einer demokratischen Erneuerung. Sie machen deshalb den bestehenden Demokratien, der Art, wie sie praktisch und theoretisch konzipiert sind, den Prozess. Demokratien, die man als liberal-repräsentative bezeichnen könnte. Liberal, insofern sie Verfahren und Institutionen eingeführt haben, um der Gefahr von Mehrheitstyranneien vorzubeugen, indem sie der Garantie der persönlichen Integrität und Autonomie einen zentralen Stellenwert einräumen. Es handelt sich in den meisten Ländern um verfassungsrechtliche Bestimmungen zur Wahrung der Individualrechte und zur Einschränkung der gesetzgebenden Macht oder um unabhängige Behörden zur Kontrolle der Exekutive oder sogar zur Ausübung mancher ihrer Befugnisse. Repräsentativ, weil sie auf dem Gedanken einer Volksmacht beruhen, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf den Prozess der Selektion und Bestätigung der Verantwortlichen durch Wahlen beschränkt. Das populistische Demokrativerständnis versucht, eine Alternative zu dieser Auffassung zu entwerfen, und zwar auf Grundlage der Infragestellung dieser beiden als reduktionistisch beurteilten Interpretationen des demokratischen Ideals.

Ein Viktor Orbán oder ein Wladimir Putin haben sich wiederholt als Befürworter eines Bruchs mit der liberalen Demokratie präsentiert, gemäß der Annahme, dass heute ein offener Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Auffassungen des demokratischen Projekts existiert. Auf theoretischer Ebene hat Chantal Mouffe, mit dem Appell, zu verstehen, »dass liberale Demokratie aus der Artikulation zweier Logiken resultiert, die in letzter Instanz inkompatibel sind«1, dazu aufgefordert, Demokratie nicht mehr nur mit Rechtsstaat und Verteidigung der Menschenrechte gleichzusetzen – wie es in ihren Augen der Neoliberalismus tut –, sondern das Prinzip der kollektiven Souveränität in den Vordergrund zu stellen. Daher rührt der Zusammenhang zwischen dem Streben nach populistischer Radikalisierung der Demokratie und der intellektuellen Stigmatisierung einer gesellschaftlichen und »menschenrechtlichen« Sichtweise, die beschuldigt wird, einen Kult des Individuums und der Minderheiten zu betreiben, auf Kosten des Bemühens um Stärkung der Volkssouveränität. Daher rührt ebenfalls die theoretische Aufwertung des Illiberalismus des populistischen Projekts als Voraussetzung einer authentischeren Demokratie (auf diesen Punkt werden wir im letzten Teil dieses Werkes ausführlich eingehen).

Die populistische Auffassung von Demokratie weist in diesem Sinne drei Charakteristika auf. Sie versucht zunächst, die direkte Demokratie zu privilegieren, vor allem durch die Vermehrung von Volksabstimmungen; sie vertritt ferner das Projekt einer polarisierten Demokratie, indem sie den undemokratischen Charakter nicht gewählter Behörden und Verfassungsgerichte kritisiert. Sie glorifiziert schließlich, und das ist der Kernpunkt, eine unmittelbare und spontane Auffassung des Volksausdrucks.

Der Kult des Referendums und das Lob der direkten Demokratie

In Frankreich machte der Front national seit Mitte der 1980er Jahre, mit dem Beginn seines Erfolgs an den Wahlurnen, die Ausweitung von Volksabstimmungsverfahren zu einem seiner wichtigsten Kampagnenthemen. Jean-Marie Le Pen rief seinerzeit zu einer »echten französischen Revolution« auf und sprach von einer notwendigen »Erweiterung der Demokratie« in diesem Sinne, um »dem Volk das Wort zu erteilen«.2 Er beschrieb das Referendum als »vollkommensten Ausdruck der Demokratie« und wünschte sich zugleich die Einführung einer besonderen Form, eines »Veto-Referendums«, das dem Volk ermöglichen sollte, das »Inkrafttreten im Parlament beschlossener, aber von ihm missbilligter Gesetze zu verhindern«.3 Einige Jahre später, in seinem Programm für die Parlamentswahlen von 1997, präzisierte der Front seinen Vorschlag, das Referendum zu erweitern, dahingehend, »das französische Volk aus dem Zugriff der politischen Klasse zu befreien«. Ein solches »Volksbegehren« sollte den Bürgern ermöglichen, selbst zu entscheiden, welche Themen ihnen zur Beurteilung vorgelegt werden.4

Die Intellektuellenzirkel, die in dieser Zeit den Aufstieg des Front begleiteten, wie der Club de l’Horologe oder GRECE, beteiligten sich an dieser Glorifizierung der direkten Demokratie, indem sie diese mit der Schweizer Tradition in Verbindung brachten, dem Vorbild einer in ihren Traditionen verwurzelten Demokratie, die großen Wert darauf legte, sich nicht durch fremde Organe entstellen zu lassen. Durch die direkte Demokratie habe das Land sich, ihrer Meinung nach, vor missbräuchlichen Steuern und Masseneinwanderung schützen können.5 Der direkte Appell an das Volk wurde so als Mittel präsentiert, um sich alter politisch-oligarchischer Eliten zu entledigen und gleichzeitig der Gefahr einer Invasion durch »nicht assimilierbare« Migrant*innen vorzubeugen – das traditionelle Repräsentativsystem wurde damit auf eine Art Vorgeschichte der Demokratie zurückgestuft. Alle populistischen Bewegungen übernahmen in der Folge diese Sicht der direkten Demokratie als in ihren Augen wirksames Instrument zur Ausgrenzung korrupter und unfähiger Eliten durch ein unverdorbenes und vollkommen souveränes Volk. Das Referendum weist überdies eine starke performative Besonderheit auf, da mit ihm die Wortergreifung vermeintlich einen unmittelbar tätigen Willen zum Ausdruck bringt, ganz im Gegensatz zu dem ewigen parlamentarischen Hin und Her.

Die Umgehung des Referendums von 2005 über das europäische Verfassungsprojekt durch die parlamentarische Ratifizierung des Lissabonner Vertrages hat in Frankreich einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wollte man den Beginn der sich ausbreitenden populistischen Welle bestimmen, wäre sicherlich dieses symbolische Datum zu nennen. Die Betonung des demokratischen Charakters von Volksabstimmungen wurde seither immer wieder der Neigung des parlamentarisch-repräsentativen Systems entgegengehalten, die Volkssouveränität in Beschlag zu nehmen. Elf Jahre später wurde in Großbritannien die Option der Bevölkerung für den Brexit in vergleichbarer Weise mit den gegenteiligen Bestrebungen der Parlamentsmehrheit kontrastiert. In ganz Europa ist ein wachsendes Interesse populistischer Kreise für die Schweizer Verfahren der Volksinitiative und der Volksabstimmung zu verzeichnen, mit denen es Christoph Blochers SVP wiederholt gelungen ist, dem Land seine Debatten aufzuzwingen. Politische Regime wiederum haben in allen Teilen der Welt häufig zum Mittel des Referendums gegriffen, um ihre Legitimität zu stärken sowie, in den meisten Fällen, die Befugnisse der Exekutive zu erweitern. Referenden nehmen somit oft den Charakter von Plebisziten an. Doch diese Frage ist in rechts- wie in linkspopulistische Zirkeln kaum je reflektiert worden, so tief ist bei ihnen die Überzeugung von der demokratischen Mustergültigkeit dieses Verfahrens verankert.

Die polarisierte Demokratie

Die Regierung der Richter – dieser Ausdruck wurde häufig verwendet um zu stigmatisieren, was als Bedrohung empfunden wurde: das Erstarken einer Judikative, die in vielen Demokratien immer unabhängiger geworden ist. Diese Unabhängigkeit wird in besonderem Maße angeprangert, wenn sie sich in einer Rechtsprechung äußert, die das Gesetz durch seine Interpretation präzisiert. »Die Richter sind dazu da, das Gesetz anzuwenden, nicht um es zu erfinden, nicht um dem Willen des Volkes zu hintertreiben, nicht um an die Stelle des Gesetzgebers zu treten. Ein öffentliches Amt darf seinen Inhaber nicht dazu autorisieren, sich eine Macht anzueignen«, schimpfte beispielsweise Marine Le Pen.6 Manche schrecken nicht einmal vor dem Begriff der »Juridiktatur« zurück, um die Unabhängigkeit der Justiz und die erweiterten Kompetenzen des Verfasssungsgerichts in Frankreich zu benennen,7 und betrachten die Rechtsstaatlichkeit als »zentralen Irrtum« der heutigen Demokratien. Der Gegensatz zwischen Recht und Demokratie ist nicht neu. Er wurde in der Amerikanischen und der Französischen Revolution ausgiebig diskutiert und veranlasste die Mitglieder der Constituante dazu, 1790 das Prinzip der Wählbarkeit von Richtern einzuführen (die anschließend wieder aufgehoben wurde, aber das ganze 19. Jahrhundert eine republikanische Forderung blieb). Zahlreiche amerikanische Bundesstaaten instituierten ihrerseits Mechanismen der Richterwahl, ein System, das noch heute in Kraft ist.8 Doch dieser Gegensatz wurde in der populistischen Sicht radikalisiert. Ihr zufolge ist das Mindeste, was man sagen könne, dass die Justiz sich nur auf eine rein funktionelle Legitimität berufen könne, dass ihr demokratischer Status ein sekundärer sei im Vergleich zu dem der Mandatsträger, die den Segen öffentlicher Wahlen erhalten hätten. Man kann in diesem Fall von einer polarisierten Sicht der Legitimität und der demokratischen Institutionen sprechen, bei der die Wahl zugleich als einziges Mittel des demokratischen Ausdrucks fungiert (was zu der Annahme führt, dass Demokratie im Wesentlichen eine Verfahrensregel sei und keine substanzielle Dimension besitze, die beispielsweise die Qualität einer Institution und ihres Funktionierens charakterisiert).

 

Dieses Demokratieverständnis hat sich in populistischen Regimen vornehmlich in der Gängelung, wenn nicht Abschaffung unabhängiger Behörden geäußert, wofür die Beschneidung des Zuständigkeitsbereichs der Verfasssungsgerichte das eklatanteste Beispiel darstellt. Bis in die Europäische Union hinein, wo die neue ungarische Verfassung von 2011 für Furore sorgte, so stark waren die Befugnisse des Verfassungsgerichts in der von Victor Orbán initiierten und intellektuell gerechtfertigten Neufassung beschnitten. Auf anderem Wege wurde die Unabhängigkeit dieser Institution auch in Polen ernsthaft gefährdet. Ihre heftige Kritik durch die Brüsseler Instanzen war für diese Länder kein Anlass, einen Rückzieher zu machen. Vielmehr verteidigten sie sich damit, auf diese Weise in besonderem Maße der Volkssouveränität zu dienen. Die weitreichenden Kompetenzen, die ihren Verfassungsgerichten im Moment des postkommunistischen Übergangs zuerkannt worden wären, hätten in einer gefestigten Demokratie, in der das Volk wahrhaft souverän geworden sei, keine Berechtigung mehr. Ähnliche Prozesse fanden in Bolivien und Venezuela, sowie in der Türkei und in Russland statt (es sei erwähnt, dass in letzterem Land der Begriff der »souveränen Demokratie« geprägt wurde, um diesen Polarisierungsmechanismus zu benennen9).

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