Das Jahrhundert des Populismus

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Die drei Geschichten des Populismus

Hat der Populismus eine Geschichte? Wenn die Antwort auf eine so allgemein gestellte Frage positiv ausfällt, gilt es, gleich klarzustellen, dass es drei sehr unterschiedliche Arten gibt, diese Geschichte zu schreiben. Man könnte zunächst bei der Geschichte des Wortes »Populismus« ansetzen: das ist der einfachste und am häufigsten eingeschlagene Weg. Wir werden die entsprechenden Elemente im Anhang präsentieren, denn diese Geschichte ist von vergleichbar geringem Nutzen, um unsere Gegenwart zu verstehen. Tatsächlich ist das Wort in drei verschiedenen, nicht miteinander verbundenen Zusammenhängen aufgetaucht, die nur schwache Bezüge zu dem haben, was wir heute darunter verstehen. Es handelt sich zunächst um den russischen Populismus der 1870–1880er Jahre, eine Bewegung von Intellektuellen und jungen Leuten aus der Oberschicht, ja der Aristokratie, die Plänen einer Modernisierung des Landes nach westlichem Vorbild kritisch gegenüberstanden und, nach ihren eigenen Worten, beabsichtigten, »ins Volk zu gehen«. Sie sahen nämlich in den Traditionen der Agrarkommune und der Dorfversammlung mögliche Ansatzpunkte für den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Der Gedanke war, dass die Bauern in Russland die erneuernde Kraft darstellen, die man im Westen vom Proletariat erwartete. Es handelte sich um etwas, was man als »Populismus von oben« bezeichnen könnte, der niemals die Volksmassen selbst mobilisierte. Allerdings hatte er eine berühmte Nachkommenschaft, da viele große Namen des russischen Anarchismus und Marxismus in dieser Bewegung ihre ersten politischen Gehversuche machten.

Ein Jahrzehnt später entstand in Amerika eine People’s Party, deren Unterstützer gemeinhin als populists bezeichnet wurden. Sie sprach vor allem die Masse der Kleinbauern in den Great Plains an, die sich im Krieg mit den Eisenbahngesellschaften und den Banken befanden, bei denen sie verschuldet waren. Sie hatte zu Beginn der 1890er Jahre einen gewissen Erfolg, aber es gelang ihr nicht, landesweit Beachtung zu finden, obwohl ihre Kritik der politischen Korruption und ihre Aufrufe zu mehr direkter Demokratie durchaus auf Resonanz stießen (Themen, die damals überall im Land auftauchten und zur Entstehung des Progressive Movement führten, das seinerseits mit Erfolg eine Reihe politischer Reformen anstieß – Durchführung von Vorwahlen, Möglichkeit der Absetzung von Mandatsträgern, Durchführung von Volksbegehren –, die in den westlichen Bundesstaaten des Landes durchgesetzt wurden). Die People’s Party war eine authentische Volksbewegung, die sich jedoch auf den landwirtschaftlichen Sektor eines kleines Gebietes beschränkte und der es nicht gelang, auf proletarische Wählerschaften überzugreifen. Keiner der amerikanischen Populisten hatte übrigens Kenntnis vom vorherigen Gebrauch des Wortes in Russland.

Als das Wort 1929 in Frankreich auftauchte, geschah dies in einem völlig anderen Kontext und ohne Bezug zu den beiden vorherigen Geschichten. Das seinerzeit publizierte »Manifest des populistischen Romans« war nämlich eine rein literarische Stellungnahme, die in der Tradition des Naturalismus die französischen Schriftsteller*innen dazu aufforderte, mehr über das einfache Volk zu schreiben. Bei der Erwähnung dieses Populismus war also an Zola als Stammvater sowie die Zeitgenossen Marcel Pagnol und Eugène Dabit zu denken. Diese drei Parallelgeschichten agierten weder untereinander, noch stellten sie eine Vorwegnahme zeitgenössischer Phänomene dar, im Gegensatz zu dem, was schlecht informierte Verweise bisweilen nahelegen.

Ein zweiter Typ von Geschichte ermöglicht uns überzeugendere Fortschritte im Verständnis des zeitgenössischen Populismus. Es ist die der Momente und Regime, die ohne Bezug auf den Begriff ein besseres Verständnis für die Dynamik seiner Wesensbestandteile eröffnen und mit unseren heutigen Anliegen korrespondieren. Wir haben drei von ihnen berücksichtigt. Zunächst das Regime des Second Empire. Denn es veranschaulicht auf exemplarische Weise, wie der Kult um das allgemeine Wahlrecht und das Referendum (seinerzeit »Plebiszit« genannt), mit dem Aufbau einer autoritären, unmittelbaren und polarisierten Demokratie einhergehen konnte, die man heute gemeinhin als »illiberal« bezeichnen würde. Das Interessante an diesem Regime für uns ist, dass es diese Vorstellung theoretisch untermauerte, indem es eben Gründe dafür entwickelte, warum es in seinen Augen eine authentischere Demokratie darstellte als das liberal-parlamentarische Modell. Das lateinamerikanische Laboratorium aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, zunächst veranschaulicht durch die Figuren des Kolumbianers Gaitán und des Argentiniers Perón, verdeutlicht des Weiteren die Ausdrucks- und Umsetzungsbedingungen der Repräsentation als Verkörperung sowie die Mobilisierungskraft des Gegensatzes von Volk und Oligarchie in Gesellschaften, die keine Klassengesellschaften europäischen Typs waren. Die Rückbesinnung auf den Moment 1890–1914 bietet schließlich den Vorteil eines guten Beobachtungspostens für den Bedeutungsgewinn populistischer Themen während der ersten Globalisierung, vor allem in Frankreich und den Vereinigten Staaten. Sie verdeutlicht die Voraussetzungen für die Neudefinition politischer Spaltungen jenseits des traditionellen Rechtslinks-Gegensatzes. Und sie ermöglicht auch zu verstehen, wie die populistische Welle von damals gestoppt werden konnte. Insofern sehen wir uns dazu herausgefordert, eine nicht eingetretene Zukunft in Betracht zu ziehen. Zwar ist die Gegenwart stets neu, und es gilt, sich vor Analogien zu hüten, die diese Eigenschaft reduzieren, dennoch bietet die Erinnerung an diese drei ausgewählten Momente durchaus Stoff zum Nachdenken.

Eine umfassende Weltgeschichte des Populismus bezeichnet einen dritten Ansatz, in dem das Soziale und das Konzeptuelle untrennbar verbunden sind. Sie ist bestrebt, unser Verständnis der Gegenwart zu vertiefen, indem sie die Vergangenheit als Repertoire gescheiterter Möglichkeiten betrachtet, als Versuchslabor, das dazu einlädt, über Misserfolge, Rückschläge, Improvisationen nachzudenken. Es handelt sich um eine Langzeitbetrachtung des Problematischen an der Demokratie. Es ist keine Geschichte eines Idealmodells, das man in seinem Reifeprozess studieren würde, in der Annahme, dass es sich eines Tages vollständig entfaltet. Denn die Geschichte der Demokratie hat nichts Lineares: sie besteht aus ständigen intellektuellen Kontroversen um ihre Definition und ist geprägt von heftigen sozialen Kämpfen um die Einführung einiger ihrer wichtigsten Institutionen (man denke nur an die einstige Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts und die heutige Anerkennung von Minderheitenrechten). Es ist eine Geschichte nicht gehaltener Versprechen und misshandelter Ideale, in der wir noch heute voll und ganz befangen sind, wie das Ausmaß der Desillusionierung über die Demokratie in der Gegenwart sowie die Schwierigkeit, die Entstehungsbedingungen für eine wirkliche Gesellschaft der Gleichen zu finden, bezeugen. Eine turbulente Geschichte, die nicht zu trennen ist von einer strukturellen Unbestimmtheit hinsichtlich der ihr angemessenen Formen, da die passenden Modalitäten zur Ausübung kollektiver Souveränität, die Aufstellung von Gerechtigkeitsnormen zur Errichtung einer Welt der Ebenbürtigen sowie die Definition des Volkes an sich stets umstritten bleiben. Gleichzeitig führen die Unduldsamkeiten der einen und die Ängste der anderen dazu, das Verständnis der zu vollziehenden Brüche oder der zu bewahrenden Errungenschaften permanent zu radikalisieren. Wir werden in diesem Rahmen den Populismus als eine Grenzform des demokratischen Projekts definieren. Neben den beiden anderen Grenzformen: den Minimaldemokratien (die auf Menschenrechte und Anführerwahl reduzierte Demokratie) und den essenzialistischen Demokratien (definiert durch das Vorhandensein einer mit der Herbeiführung des Guten betrauten Gesellschaftsmacht). Jede dieser Formen ist aufgrund ihrer Struktur und Geschichte von spezifischen Verfallsbedingungen bedroht: dem Abgleiten in Wahloligarchien im Fall der Minimaldemokratien und der totalitären Wendung der Macht gegen die Gesellschaft bei den essenzialistischen Demokratien. Der Populismus wiederum, der eine Form von Demokratie darstellt, die wir als polarisiert bezeichnet haben, ist, wenn er ein Regime bildet, davon bedroht, in eine Demokratur umzuschlagen, das heißt eine autoritäre Macht, die allerdings mit einer (variablen) Fähigkeit zur Umkehr ausgestattet bleibt.

Zur Kritik des Populismus

Die am weitesten verbreitete politische Kritik am Populismus besteht darin, ihn des Illiberalismus zu bezichtigen, d. h. der Tendenz, die (»gesellschaftliche«) Ausdehnung der Individualrechte zugunsten der Stärkung kollektiver Souveränität in den Hintergrund zu drängen und zugleich den vermittelnden Körperschaften den Prozess zu machen, denen vorgeworfen wird, das Handeln der gewählten Organe zu behindern. Ich selbst habe vor zwanzig Jahren in Bezug auf den Second Empire von »illiberaler Demokratie« gesprochen8 und den Begriff in jüngerer Vergangenheit zur Bezeichnung populistischer Regime wiederaufgegriffen. Er erscheint mir nach wie vor geeignet, eine in fast allen Fällen anzutreffende Tendenz zu charakterisieren. Aber ich glaube nicht mehr, dass er noch den Grundgedanken einer wirksamen Kritik abgeben kann, d. h. einer Kritik, die Argumente vorträgt, die imstande sind, eine gegenteilige Meinung zu verändern. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil die führenden Köpfe des Populismus diese liberale Demokratie explizit als reduktionistische und konfiskatorische Form einer authentischen Demokratie verwerfen. Wladimir Putin, Verfechter einer vermeintlich »souveränen« Demokratie, hat ausdrücklich betont, dass der Liberalismus »obsolet« geworden sei9, und Viktor Orbán hat seinerseits darauf verwiesen, dass »eine Demokratie nicht zwangsläufig liberal ist«.10 Es empfiehlt sich also, die Befürworter des Populismus auf dem Terrain einer demokratischen Kritik dieses Ideals zu stellen und mit ihnen zu diskutieren.

 

Das politische Leben ist ein Friedhof der Kritiken und Warnungen, die sich als unfähig erwiesen haben, den Lauf der Dinge zu ändern. Das ist mir beim Studium der Geschichte des 19. Jahrhunderts aufgefallen. Als ich zum Beispiel die Unfähigkeit der republikanischen Opposition gegen Napoléon III. erkannt habe, mit ihren Argumenten zur Masse der Franzosen durchzudringen. Sie wetterten gegen ein Regime, das sie zu Recht als freiheitsfeindlich kritisierten, waren aber zugleich nicht in der Lage, den Anspruch des Regimes zu widerlegen, die Volkssouveränität durch Rückgriff auf Plebiszite besser zu respektieren als seine Vorgänger.11 Mit anderen Worten, ihr Verstand befand sich nicht auf der Höhe ihrer Empörung. Das Gleiche passiert heute denen, die sich mit einer liberalen Kritik am Populismus begnügen. Das vorliegende Buch möchte den Bann brechen, indem es eine umfassende Kritik der Demokratietheorie entwirft, die der populistischen Ideologie zugrunde liegt.

Diese Aufgabe nimmt zunächst die Form einer fundierten Analyse der Grenzen des Referendums im Hinblick auf die Vollendung des demokratischen Ideals an. Anschließend wird die Frage der demokratischen Polarisierung behandelt und betont, dass eine Demokratie, die eine Gemeinschaft zur Herrin des eigenen Schicksals machen will, nicht nur auf der Ausübung einer durch Wahlen bestimmten Mehrheitsmacht beruhen darf. Da Letztere eine verfassungsmäßige, aber notorisch unzureichende Äußerung des Gemeinwillens ist, muss dieser zusätzliche Ausdrucksformen annehmen, um dem demokratischen Ideal mehr Konsistenz zu verleihen. Hierbei werden die Begriffe »Niemandes Macht« und »Irgendjemandes Macht« entwickelt, als zwei weitere Auffassungen des demokratischen »Wir«, mit den ihnen entsprechenden institutionellen Strukturen, um darauf hinzuweisen, welche Verkürzung eine rein wahlbezogene Sicht der Macht aller impliziert. Bei dieser Gelegenheit wird ferner nachgewiesen, dass Institutionen wie Verfassungsgerichte und unabhängige Behörden, die gemeinhin nur unter ihrer liberalen Dimension wahrgenommen werden, vor allem demokratischen Charakters sind. Denn sie stellen eine Sicherheit des Volkes gegenüber ihren Repräsentanten dar. Dieser Ansatz ist zugleich eine Einladung, die Beziehungen zwischen Liberalismus und Demokratie, d. h. zwischen Freiheit und Souveränität, auf inklusive, nicht exklusive Weise zu denken. Anschließend wird die populistische Auffassung des Volksbegriffs untersucht und dabei eine soziologisch begründete Kritik am Gegensatz zwischen dem 1% und den 99% entfaltet. Der Begriff der »demokratischen Gesellschaft im Aufbau« wird in diesem Rahmen dem einer imaginären Volkseinheit entgegengesetzt.

Zu diesen verschiedenen Kritiken theoretischer Natur kommen diejenigen an den Praktiken populistischer Regime hinzu. Vor allem mit den Umsetzungsbedingungen des Prinzips der Polarisierung der Institutionen: Veränderung der Rolle und Organisationsweisen der Verfassungsgerichte, Abschaffung oder Manipulation von unabhängigen Behörden, insbesondere von Wahlkontrollausschüssen, dort, wo diese existieren. Hinzu kommen die Fakten im Umgang mit den Medien, Verbänden und Oppositionsparteien. In ihrer Gesamtheit erhärten diese Elemente die Bezeichnung des »Illiberalismus«, der eine konkret erkennbare Bedeutung annimmt (die Ähnlichkeit mit den Praktiken und Rechtfertigungen des Second Empire wird sich in diesen Punkten als auffällig erweisen). Besondere Aufmerksamkeit wird in diesem Kontext den juristischen Instrumenten zuteil, die aufgeboten werden, um den langfristigen Bestand dieser Regime und die Unumkehrbarkeit ihrer Maßnahmen abzusichern, zumeist indem die Begrenzung der Zahl von Amtszeiten, die nacheinander wahrgenommen werden dürfen, aufgehoben wird.

Die Alternative

Bevor man den Populismus als Problem analysiert, sollte man ihn als Antwortvorschlag auf die Probleme der Gegenwart verstehen. Dieses Buch nimmt ihn ernst, indem es ihn in diesem Sinne analysiert und kritisiert. Doch diese Kritik kann nur dann ihrer Aufgabe gerecht werden, wenn sie in den Entwurf eines Alternativvorschlags mündet.12 Darum geht es auf den letzten Seiten dieses Werkes. Dort wird in groben Zügen skizziert, was eine verallgemeinerte und potenzierte Volkssouveränität sein könnte, die die Demokratie bereichert, anstatt sie zu vereinfachen oder zu polarisieren. Dieser Ansatz beruht auf einer Definition der Demokratie als ständig zu leistende Arbeit, fortgesetzte Erkundung, und nicht als Modell, dessen Züge man endlich getreu nachbilden könnte, wenn man die Erörterung der Konflikte und Debatten über ihre angemessene Form hinter sich gelassen hat.

1Es sei betont, dass es mit dem Wort »Demokratie« einst genauso war, vor allem in den Vereinigten Staaten. Im frühen 19. Jahrhundert war es in diesem Land eine Beleidigung, als »Demokrat« bezeichnet zu werden. Der Begriff war gleichbedeutend mit »Demagoge«, und Demokratie hieß, aus dem Munde der Gründerväter und ihrer Nachfolger, so viel wie »Macht des Aufruhrs« oder »Herrschaft der Pöbelleidenschaften«. Es war ein Akt der Provokation, als die Republikaner der Zeit (die Partei Jeffersons) ihre Organisation gegen Ende der 1820er Jahre in »demokratische Partei« umtauften. Siehe dazu die gut belegte Geschichte von Bertlinde Laniel, Le Mot »democracy« et son histoire aux États-Unis de 1780 à 1856.

2Interview in L’Express vom 16. September 2010. Er hatte sich schon in seinem Werk Qu’ils aillent tous! Vite, la révolution citoyenne entsprechend geäußert. »Den Schönen und Zufriedenen, ihren Barden und allen Klugscheißern des Establishments möge vor Empörung das Wort im Hals stecken bleiben. Sie sollen ruhig mit ihrer albernen Roten Karte wedeln: ›Populismus!‹, ›Entgleisung!‹. Meinetwegen«, ist dort zu lesen (S.11–12).

3Ich selbst habe einst diesen reduktionistischen Weg eingeschlagen, indem ich den Populismus als eine Karikatur des gegendemokratischen Prinzips betrachtete (vgl. mein Werk Die Gegen-Demokratie, S.241–248).

4Dossier »Les 36 familles du populisme«, Éléments, Nr. 177, April-Mai 2019.

5Référendum d’initiative citoyenne [Volksbegehren].

6Selbst wenn das Konzeptualisierungsbemühen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe auf der Linken zu begrüßen ist. Diese Autorin und dieser Autor haben übrigens keinerlei Pendant auf der extremen Rechten.

7Ein Neologismus, der sich vom französischen Imperatif »Dégage(z)!« (Hau[t] ab!) ableitet, also so viel wie Haut-ab-Mentalität bedeutet [AdÜ].

8In: La Démocratie inachevée. Histoire de la souverainité du peuple en France.

9Vergleiche sein Interview mit der Financial Times vom 28. Juni 2019.

10Vergleiche seine programmatische Rede vom 26. Juli 2017 in Băile Tuşnad.

11Zumal das Regime das allgemeine Wahlrecht wiederherstellte, das die Ordnungsrepublikaner 1849 beschnitten hatten.

12Das macht die Schwäche der Interpretationen des Populismus als »Pathologie« der Demokratie aus. Sie setzen nämlich voraus, dass die bestehenden Demokratien als perfekter Bezugspunkt des demokratischen Projekts fungieren, als Referenznorm, von der die Populismen abweichen. Damit wird die strukturelle Unbestimmtheit der Demokratie unterschlagen und die Tatsache, dass sie folglich ein instabiles Regime darstellt, das ständig seine eigenen Aporien erforscht. Ich selbst habe diese Bezeichnung in meinen allerersten Schriften zu diesem Thema verwendet. Vergleiche zum Beispiel meinen Artikel »Penser le populisme«, Le Monde, 22. Juli 2011.

IANATOMIE

1Eine Auffassung des Volkes: das homogene Volk

2Eine Demokratietheorie: direkt, polarisiert, unmittelbar

3Ein Repräsentationsmodus: der Homme-peuple

4Eine Wirtschaftspolitik und -philosophie: der Nationalprotektionismus

5Ein System der Leidenschaften und Emotionen

6Einheit und Vielfalt der Populismen

1Eine Auffassung des Volkes: das homogene Volk

Die populistischen Bewegungen haben gemein, das Volk zu einer zentralen Figur der Demokratie zu erheben. Eine Tautologie, könnte man meinen, denn der demos ist definitionsgemäß der Souverän in einem System, das sich auf ihn beruft. Jede gute Demokratie kann also in diesem sehr allgemeinen Sinne nur populistisch sein. Doch diese Selbstverständlichkeit ist in der Praxis ebenso unklar wie sie sich begrifflich aufzudrängen scheint. Denn wer ist dieses gebieterische Volk? Diese Frage wurde immer schon gestellt. Anfangs schwankten die Bezugnahmen zwischen denen auf ein ziviles Volk, als Figur der politischen Allgemeinheit und Ausdruck einer Einheit, und denen auf ein soziales Volk, das de facto mit einem besonderen Teil der Bevölkerung gleichgesetzt wurde. Als die Amerikaner 1776 ihre Unabhängigkeitserklärung mit We the People unterzeichneten, hatten sie Ersteres im Sinn. Ebenso wie die Protagonisten der Französischen Revolution, die ständig Volk und Nation (die explizit nur auf einen historischen und politischen Begriff verweist) im Munde führten. Dieses Volk entsprang einem Verfassungsprinzip oder einer politischen Philosophie, bevor es noch eine konkrete Existenz annahm (eine Existenz zumal, die sich auf eine selten einige Wählerschaft reduzierte). Doch als man 1789 von dem Volk sprach, das die Bastille gestürmt hatte, bezog man sich auch auf eine Menge mit einem Gesicht. Ein solches hatten auch jene, die sich 1789 auf dem Marsfeld versammelten, um das Föderationsfest zu feiern, oder jene, die 1830 und 1848 Barrikaden bauten. Das Volk nahm in diesen Fällen eine spezifische Erscheinung an. Das Volk von Michelet oder Victor Hugo hatte eine fassbare Gestalt, die der kleinen Leute (weswegen Letzterer seinem Hauptwerk den Titel Die Elenden gab). Man konnte in diesen Fällen von einem sozialen Volk sprechen. Man musste von ihm erzählen und es in Szene setzen, um es aus seinen besonderen Existenzformen herauszuschälen und ihm Ehre zu erweisen. Nach und nach setzte sich ein eher soziologischer Ansatz durch, um seine Konturen zu schärfen. Das soziale Volk erhielt nun Namen wie Proletariat, Arbeiterklasse oder »Volksschichten« (ein Plural, der der Komplexität seiner sozialen Zusammensetzung Rechnung trug). Diese Klassensprache spezifizierte seine Bedeutung. Doch diese Reduktion wurde durch die statistische Tatsache der Größe einer Arbeiterschaft mit ausgeprägter Identität korrigiert. Zumal die marxistische doxa in der Arbeiterklasse die Wegbereiterin eines neuen Universalismus ausmachte, den der klassenlosen Gesellschaft.

Diese beiden Völker, das Volk als Klasse und als Bürgerschaft, fielen zwar nicht zusammen, waren aber Teil der gleichen Erzählung und der gleichen Vision des Wahrwerdens einer zugleich als Regierungsund Gesellschaftsform verstandenen Demokratie. Diese Perspektive trübte sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein. Und zwar auf doppelte Weise. Zunächst durch den Schwund einer Wählerschaft, die sich zunehmend der Stimme enthielt, als Ausdruck der Ablehnung der traditionellen Parteien und eines Gefühls, schlecht repräsentiert zu werden; ein Schwund, der auch mit dem Niedergang der demokratischen Leistungsfähigkeit von Wahlen zusammenhängt.1 Ferner, und soziologisch gesprochen, durch die Tatsache der Individualisierung des Sozialen sowie der Veränderung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, in denen sich neue Ausbeutungs-, Ausgrenzungs- und Herrschaftsmodalitäten abzeichnen. Umwälzungen, die zu selten beschrieben werden und die das Gefühl, schlecht repräsentiert zu werden und unsichtbar zu sein, bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung in den meisten Ländern verstärkt haben. Das Volk ist unter diesen Bedingungen »unauffindbar« geworden.2 In diesem Kontext ist der populistische Volksbegriff entstanden, als vermeintlich angemessenerer Kommentar zur Gegenwart und Teil einer Perspektive, die zur Neubegründung der Demokratie anregt.

 

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