Homer und Vergil im Vergleich

Text
Aus der Reihe: Classica Monacensia #52
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Abschließend lässt sich also zusammenfassen: Ovid kritisiert bei Varro die Verwendung von placidus, weil es nicht zu der unmittelbar zuvor – für uns nur bei Apollonios, aber sicherlich auch in der Übertragung Varros – geschilderten sorgenvollen Welt passt. Durch die Streichung des zweiten Halbverses ändert Ovid den Sinn insofern, als er jetzt sagt, dass die Nacht Besitz von allem ergriffen hätte, und nähert so den Varrovers an die parallele Schilderung bei Homer an, wo beschrieben wird, dass der Schlaf als πανδαμάτωρ Gewalt über die Achaier ausübt. Das zugrundegelegte ästhetische Kriterium ist das der psychologischen Folgerichtigkeit bzw. Plausibilität (πιθανότης), wonach die Art des Schlafes mit der äußeren Situation der Schlafenden übereinstimmen muss. Das gibt aber nun gleichzeitig ein Kriterium an die Hand, um Vergils Änderung der varronischen Vorlage zu erklären: Altus nimmt den bei Varro vorliegenden Widerspruch zurück, die Stelle ist einer möglichen Kritik weniger stark ausgesetzt.

3.3 Zusammenfassung

In seinen programmatischen Äußerungen zeigt sich Seneca d.Ä. ganz auf der Höhe der stilkritischen Debatten seiner Zeit (→ Kap. 3.1). Er nimmt eine „moderne“ Position ein, wenn er die künstlerische imitatio einer Vielzahl von anerkannten Vorbildautoren als eine Methode beschreibt, dem aktuellen rednerischen Verfallszustand abzuhelfen. Seine Sammlung von Controversiae und Suasoriae hat weniger systematischen Anspruch im Sinne einer Theorie der imitatio, als vielmehr den Zweck, anhand konkreter Fälle Kategorien gelungener und misslungener Nachahmung vorzuführen. – In beiden behandelten Beispielen wird Vergils Kunst der imitatio als vorbildlich vorgestellt. Dies erfolgt jeweils vor der Kontrastfolie einer Prosadeklamation: Im Falle von suas. 1, 12 (→ Kap. 3.2.1) ist es ein aus Homer geschöpfter Abschnitt einer Übungsrede des griechischsprachigen Deklamators Dorion, der mit Vergils Homer-imitatio verglichen wird, in contr. 7, 1, 27 (→ Kap. 3.2.2) eine Formulierung des Cestius. Im letzteren Fall ist die Vergleichstechnik besonders raffiniert: Cestius imitiert und verfehlt Vergil; Vergil aber hat an selber Stelle wiederum Varro imitiert und dabei auch Modellstellen aus Homer und Apollonios Rhodios und deren philologischen Diskussionszusammenhang berücksichtigt. Als Anhang wird ein eigener Vorschlag Ovids referiert, der eine Schwachstelle in Varros Versen kenntlich macht: Wenn Varro in seiner Nachtschilderung die Menschen ruhig schlafen lässt, verstößt er gegen die Forderung nach psychologischer Glaubwürdigkeit. Erst durch diesen Kommentar Ovids wird deutlich, worin der Vorzug Vergils vor seinem Modell besteht: In der Aeneis ist nur vom tiefen Schlaf die Rede – der „Fehler“ Varros wird also vermieden. Auf ähnliche Weise führt suas. 1, 12 das Thema der Glaubwürdigkeit ein, diesmal aber in sachlicher Hinsicht: Vergil stellt den Steinwurf des Kyklopen viel vorsichtiger und den Gegebenheiten der Realität entsprechend dar, wohingegen Dorion seine Schilderung durch unrealistische und effekthascherische Details belastet. In beiden Abschnitten wird die imitatio also kontrastiv vor dem Kriterium der Glaubwürdigkeit bewertet, wobei in suas. 1, 12 Glaubwürdigkeit als Realismus im sachlichen Sinne – d.h. als Übereinstimmung mit der Erfahrungswirklichkeit –, in contr. 7, 1, 27 als Realismus im psychologischen Sinne gemeint ist.

4. Gellius, Noctes Atticae
4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae
4.1.1 Enzyklopädische, rhetorische und grammatische Bildung bei Gellius

Über ein Jahrhundert trennen Seneca d.Ä. von Gellius, dem wir mit den beiden Kapiteln 9, 9 und 13, 27 seiner Noctes Atticae zwei wichtige Beiträge zur Frage der relativen Bewertung Vergils und Homers verdanken.1 Wie bereits ausgeführt, war Vergils kanonische Stellung zu Gellius’ Zeit, also in der zweiten Hälfte des zweiten Jhdt. n. Chr., gefestigt2 und sein Verhältnis zum Vorbild Homer nicht zuletzt durch die Autorität Quintilians definiert. Wo positionieren sich aber die Noctes Atticae in der Homer-Vergil-Frage? Wieder ist zunächst von der besonderen Zielsetzung, der Gellius in seiner Schrift folgt, auszugehen, bevor die in 9, 9 und 13, 27 präsentierten kritischen Methoden auf ihre Tendenz hin untersucht werden.

Über den Zweck, den Gellius mit seinen Noctes Atticae verfolgt, macht er in der Vorrede – sie ist wegen eines wohl nicht beträchtlichen Textausfalls am Beginn nur teilweise erhalten – unterschiedliche Angaben. Eher bescheiden äußert er sich an der Stelle, wo der überlieferte Text einsetzt:Gelliuspraef. 1 Gellius möchte demnach seinen Kindern die Möglichkeit geben, sich bei gelegentlichen Arbeitspausen (interstitione aliqua negotiorum data) geistig zu erholen (quando animus … laxari indulgerique potuisset).3 Im nächsten Abschnitt streicht er dagegen den persönlichen Nutzen, den er selbst mit seiner Sammlung verfolgt, hervor: Sie diene ihm als „Gedächtnisstütze“ bzw. „Wissensvorrat“ (ad subsidium memoriae quasi quoddam litterarum penus), indem sie die wesentlichen Inhalte der von ihm studierten Werke in komprimierter Form aufbewahrt. An einer dritten StelleGelliuspraef. 11 kommt Gellius dann wieder auf den Nutzen für die Kinder zu sprechen, diesmal allerdings in differenzierterer Weise und verbunden mit einem pädagogischen Gedanken. Sein Ziel sei demnach dreifacher Natur: Lesevergnügen, Bildung durch Lektüre und praktische Anwendbarkeit des memorierten Wissens (… quod sit aut voluptati legere aut cultui legisse aut usui meminisse).4 Er nimmt dabei für sich in Anspruch, seine Quellen „nicht ohne kritisches Unterscheidungsvermögen“ (‘alba’ ut dicitur ‘linea’ sine cura discriminis)5 ausgewählt zu haben, um die besagten drei Ziele zu erreichen.6

Einer Sentenz des Heraklit zufolge ist es nicht Vielwisserei, die den Verstand bildet.7 Darauf beruft sich Gellius in praef.Gelliuspraef. 12 12, wenn er seine Auswahl rechtfertigt, indem er zwei leitende Ziele geltend macht: Den aufnahmebereiten Lesern (ingenia prompta expeditaque) will er nur Anregungen bieten, die die Lust auf weitere Lektüre steigern sollen, für andere hingegen, die wegen drängender Geschäfte von weiteren Studien abgehalten werden, will er durch seine handliche Exzerptensammlung immerhin die Informationen liefern, mit denen sie sich vor dem Vorwurf schändlicher Unwissenheit bewahren können.8 Diese „schändliche und bäurische Unwissenheit“9 erstreckt sich für Gellius auf verba und res (rerum atque verborum imperitia), womit die beiden Hauptbereiche des in den Noctes Atticae vermittelten Wissens bezeichnet sind, nämlich der sprachliche und der antiquarisch-sachliche.

Die selbstauferlegte quantitative Beschränkung beim Exzerpieren hat zufolge, dass Gellius den einzelnen Themengebieten eine exemplarische Bedeutung zuweisen muss, wenn er gleichzeitig an der enzyklopädischen Grundidee der von ihm kompilierten Sammlung festhalten möchte. Diese enzyklopädische Grundidee kommt besonders in dem Abschnitt zum Tragen, in dem sich Gellius für die Behandlung entlegener Gegenstände aus Sachgebieten wie Grammatik, Dialektik oder Geometrie rechtfertigt:Gelliuspraef. 13

Non enim fecimus altos nimis et obscuros in his rebus quaestionum sinus, sed primitias quasdam et quasi libamenta ingenuarum artium dedimus, quae virum civiliter eruditum neque audisse umquam neque attigisse, si non inutile, at quidem certe indecorum est. (praef. 13)

Mit den ingenuae artes spielt Gellius auf den von Varro definierten Disziplinenkanon an, der als geschlossenes enzyklopädisches System eine Gesamtheit des Wissens repräsentieren sollte.10 Gellius legt die Betonung an der zitierten Stelle auf die Notwendigkeit einer bestimmten Form von Bildung für den sozialen Stand ihres Trägers, deren Fehlen zur sozialen Exklusion führt (… si non inutile, at quidem certe indecorum …). Dies rechtfertigt auch den Kompendiencharakter des Werks: Wenn er mit seinen Noctes Atticae bei einem Teil der Leser auch keine weiterreichenden Bildungsbemühungen anregen kann, so erfüllen sie doch ihren Zweck, indem sie diesem Rezipientenkreis zumindest das notwendige Minimum an Wissen an die Hand geben, um den sozialen Anforderungen an einen vir civiliter eruditus zu genügen.

Eine genauere Bestimmung der inhaltlichen Aspekte im Bildungsbegriff des Gellius geschieht eher beiläufig in praef. 16. Gellius tritt hier präventiv Einwänden entgegen, die sich gegen Abschnitte in seinem Werk richten könnten, in denen von entlegenen, dem Leser noch nicht aus anderen Texten bekannten Gegenständen die Rede ist. Hier sei Gellius zufolge zu prüfen, ob nicht auch sie Bildungswert besitzen:Gelliuspraef. 16

… aequum esse puto, ut sine vano obtrectatu considerent, an … eius seminis generisque sint, ex quo facile adolescant aut ingenia hominum vegetiora aut memoria adminiculatior aut oratio sollertior aut sermo incorruptior aut delectatio in otio atque in ludo liberalior. (Gell. praef. 16)

Diese allgemeine Zielbestimmung ist nicht nur auf das „Neue und Unbekannte“ (nova … ignotaque) – d.h. auf Randbereiche im antiken Disziplinenkanon – zu beziehen, sondern gilt für den Stoff der Noctes Atticae generell. Worauf läuft dieses übergeordnete Bildungsziel aber hinaus? Gellius profiliert es an dieser Stelle als ein rhetorisches, dem auch im strengeren Sinne der Grammatik zugehörige Bereiche (sermo incorruptior)11 und Fragen einer für Gebildete angemessenen Freizeitbeschäftigung (delectatio in otio atque in ludo liberalior) zugeordnet sind. Vor allem aber sollen die rhetorischen Kernkompetenzen ingenium, memoria und Redegewandtheit (oratio sollers) durch die Beschäftigung auch mit Nischenthemen ausgebildet werden.

 

Dabei fällt freilich auf, dass die rhetorische Theorie nur einen geringen Teil der in den Noctes Atticae angesprochenen Gegenstände darstellt.12 Auch der Lektürestoff der Rhetorenschule – Historiker und Redner13 – tritt, verglichen mit der Dichterlektüre, die strenggenommen ins Metier der Grammatiker fällt, keineswegs in den Vordergrund.14 Die zahlreichen Erörterungen über Archaismen, korrekten Sprachgebrauch, lexikalische Vergleiche zwischen der griechischen und lateinischen Sprache, Etymologien, Morphologie und Semasiologie15 sind der Disziplin nach grammatischer Natur, und C. Sulpicius Apollinaris, die zentrale Grammatikerfigur in den Noctes Atticae, bildet auch auf der Ebene des Personals ein Gegengewicht zu Rhetoriklehrern wie Antonius Julianus und T. Castricius.16

Gellius formuliert in seiner Vorrede also zwar ein rhetorisches Bildungsziel als Leitidee, berücksichtigt in der Auswahl seiner Themen aber die verschiedensten Themengebiete, wobei sich ein erkennbarer Schwerpunkt im Bereich der grammatischen Bildung ergibt.17 Damit folgt er der Idee von den ingenuae artes als eines umfassenden Wissenssystems, dessen Beherrschung erst den vir civiliter eruditus ausmacht, ohne dass er dieses Wissenssystem in vollem Umfang enzyklopädisch darstellen müsste. Aus dieser Schwerpunktsetzung im Bereich der Grammatik, wie sie sich in der Themenwahl der Noctes Atticae abzeichnet, erklärt sich nun auch das besondere Interesse, das Gellius Vergil als dem exemplarischen Dichter lateinischer Sprache entgegenbringt.18 Fragestellungen und Methoden sind hier wieder vor allem grammatischer Natur: Sprachgebrauch19, Lesarten (Gell. 4, 1, 15), angebliche Verstöße gegen die historia (Gell. 10, 16) oder die Frage, welche Bezüge zwischen Biographie und Werk bei diesem Dichter relevant sind (Gell. 6, 20), stehen hier im Zentrum. An manchen Stellen kommt außerdem zum Ausdruck, dass Gellius Vergil auch als Quelle „verborgenen“ Wissens schätzt, das er dann durch grammatische Sacherläuterung erschließt.20 Gelegentlich kommt er auch auf das Verhältnis zu Homer zu sprechen, wenn er dessen Autorität bei der Behandlung konkreter Vergilstellen entweder bestätigend21 oder – in Fällen von explizit festgestellter aemulatio – kontrastiv zur synkritischen Beurteilung mit Vergil22 heranzieht.

4.1.2 Autoren- und Textvergleiche in den Noctes Atticae – eine Übersicht

Die wichtigste Methode, der sich Gellius bzw. die bei ihm auftretenden Gelehrten in ihren literarischen Analysen, aber auch in anderen Zusammenhängen bedienen, ist der Vergleich.1 Das hat verschiedene Gründe und hängt z.T. mit der Genese der Sammlung, z.T. aber auch mit den behandelten Themen selbst und den auf diesen Gebieten einschlägigen Methoden zusammen. Der entstehungsgeschichtliche Aspekt wird aus den Angaben in der Vorrede deutlich: Demnach sind die Noctes Atticae eine Sammlung von Buchexzerpten, deren Abfolge keinem besonderen System, sondern nur dem mehr oder minder zufälligen Lektüregang des Kompilators folgt.2 In einzelnen Kapiteln werden sachlich zusammengehörige Exzerpte gesammelt. Die komparative Auswertung der so zusammengetragenen Abschnitte ergibt sich dann ganz natürlich im Prozess des Sammelns.

Im engeren Bereich der Sprache und Literatur reicht die Bedeutung des Vergleichs als Leitmethode aber noch erheblich weiter. Grundsätzlich ist hier zwischen selbstständigen und unselbstständigen Vergleichen zu unterscheiden: Selbstständige Vergleiche bilden jeweils das Thema einzelner Kapitel – z.T. argumentativ verbunden mit übergeordneten Fragestellungen –, unselbstständige Vergleiche haben eher beiläufigen Charakter; sie sind in den Argumentationsgang der jeweiligen Kapitel eingebunden, für diese aber nicht strukturbestimmend.

Inhaltlich lassen sich die unselbstständigen Vergleich in zwei Gruppen unterteilen: Solche, in denen Autoren, und solche, in denen Texte miteinander verglichen werden (Autoren- und Textvergleich). Eine gewisse formale und inhaltliche Varianz bieten schon die Autorenvergleiche: In einer Reihe von Kapiteln werden etwa bestimmte biographische Aspekte der behandelten Autoren – Redner, Philosophen, Dichter und Historiker –, wie z.B. Datierung, Lebensumstände und Charakterzüge, miteinander verglichen (biographischer A.-Vergleich).3 An anderer Stelle halten Gellius bzw. die auftretenden Gelehrten Autoren – wieder ohne Bezug auf konkrete Textstellen – gegeneinander (genereller A.-Vergleich), entweder um eine relative Wertung zu treffen (synkritischer A.-Vergleich) oder einfach um auf Unterschiede hinzuweisen, ohne Rangstufen festzulegen (qualitativer A.-Vergleich).4 Zum ersten der beiden Typen zählen auch die Stellen, an denen durch superlativische Ausdrücke beiläufig generelle Wertungen über einzelne Autoren gegeben werden,5 und solche, wo die Auseinandersetzung zwischen Autoren in Form von Wettkämpfen u.ä. – gewissermaßen inszenierte Kanonisierungsprozesse – beschrieben bzw. erwähnt wird.6

Geht man vom Autoren- zum Textvergleich über, so ergibt sich ein noch vielfältigeres Bild. Ein großer Teil der diesbezüglichen Bemerkungen bei Gellius betrifft das, was man modern als „Quellenkritik“ bezeichnen würde: Gemeinsamkeiten7 und Unterschiede8 der zu bestimmten sachlichen Fragen herangezogenen Schriften werden – z.T. pauschal, z.T. anhand konkreter Details – konstatiert (quellenkritischer T.-Vergleich). Damit verwandt sind auch die Zusammenstellungen von z.T. einander widersprechenden Ansichten verschiedener Philosophen bzw. -schulen zu konkreten Fragen (doxographischer T.-Vergleich).9 Das Interesse an sachlichen Abweichungen betrifft auch die Behandlung der Werke der Dichter: Auch hier werden sachlich zusammengehörige10 und abweichende11 Stellen gesammelt (sachlicher bzw. inhaltlicher Dichtervergleich).

Eine besondere Stellung nehmen diejenigen Passagen ein, an denen mit einem expliziten Hinweis auf eine vom Autor intendierte imitatio die literarische Abhängigkeit zwischen zwei Texten bzw. einzelnen Textstellen konstatiert wird. Das betrifft manchmal ganze Werke, in der Regel aber einzelne loci, versus oder verba12 – diese drei Felder literarischer imitatio führt Gellius beiläufig im Zusammenhang mit Vergils Lukrezanleihen ein (Vergleich von Modelltext und Nachahmung).13 Etwas anders gelagert sind die Stellen, an denen der Rückgriff auf einen allgemein bekannten, meist anonym überlieferten Gedanken, etwa eine Sentenz, durch einen Autor nachgewiesen wird (Gedanken- bzw. Sentenzenvergleich).14 Hier kann i.d.R. nicht von einem imitatio- bzw. aemulatio-Verhältnis gesprochen werden, die Parallele wird einfach wertneutral als gedankliche Entsprechung konstatiert.

Apologetischen Charakter haben die Stellen, an denen im Abgleich mit der auctoritas der „alten“, zumeist lateinischen Dichter eine Besonderheit im Sprachgebrauch – i.d.R. ein Abweichen vom sermo vulgaris bzw. von der consuetudo der Gegenwart im Bereich der verba – gerechtfertigt wird (Vergleich mit sprachlichen Autoritäten).15 Zu erwähnen ist außerdem noch der singuläre Vergleich verschiedener Gattungen der Historiographie in Gell. 5, 18 (Gattungsvergleich).16

Im engen Zusammenhang mit der Frage nach literarischer Abhängigkeit steht diejenige nach unlauteren Übernahmen aus anderen Schriften (Plagiat). Gellius kommt auf dieses Thema relativ selten zu sprechen. Immerhin referiert er in 3, 17, 4–6 den Vorwurf des Timon gegen Platon, wonach dessen Timaios zur Gänze einer pythagoreischen Lehrschrift nachgebildet sei.17 Das Gegenstück zum Plagiat, die Falschattribuierung eines nicht authentischen Werks an einen bekannten Autor, spielt hingegen eine weitaus wichtigere Rolle bei Gellius, etwa wenn es darum geht, die echten Stücke im Corpus Plautinum von den falschen zu scheiden (Pseudepigraphie).18

Ein benachbartes Gebiet von gleichwohl hoher Relevanz für die i.e.S. synkritischen Partien der Noctes Atticae ist die Übersetzung aus dem Griechischen und damit verbundene Fragen (Übersetzungsvergleich).19 Bilinguismus und Bikulturalität stellen bekanntlich eine kulturelle Konstante in der Entstehungszeit der Noctes Atticae dar.20 Gellius reflektiert an verschiedenen Stellen über die Übersetzbarkeit bestimmter Texte aus dem Griechischen ins Lateinische und stellt konkrete Übersetzungsvergleiche an.21 Praktischen Erwägungen folgen die bilinguen Synopsen griechischer und lateinischer Termini aus diversen Spezialdisziplinen, die Gellius der bequemen Übersicht willen zusammenstellt.22

4.1.3 Die synkritischen Kapitel in den Noctes Atticae

In einer ganzen Reihe von Kapiteln in den Noctes Atticae stellt der Textvergleich nicht einen gelegentlichen methodischen Zugriff auf bestimmte Texte dar, sondern er wird zum Thema des betreffenden Abschnitts selbst.1 Dies kommt z.T. schon in der Formulierung der Kapitelüberschriften zum Ausdruck. So ist Gell. 2, 23 etwa mit den beiden Begriffen Consultatio diiudicatioque locorum … überschrieben, die auf den analytischen (consultatio) und synkritischen (diiudicatio) Charakter des Abschnitts hinweisen.2 In den anderen tituli werden zwar nicht diese Termini, aber bedeutungsähnliche substantivische bzw. verbale Umschreibungen verwendet, wie aus der folgenden Übersicht zu ersehen:

 Gell. 2, 23: Caecilius Statius und Menander (Consultatio diiudicatioque locorum facta ex comoedia Menandri et Caecilii, quae Plocium inscripta est)

 Gell. 2, 27: Demosthenes und Sallust (Quid T. Castricius existimarit super Sallustii verbis et Demosthenis, quibus alter Philippum descripsit, alter Sertorium)

 Gell. 9, 9: Vergil, Theokrit und Homer (Quis modus sit vertendi verba in Graecis sententiis; deque his Homeri versibus, quos Vergilius vertisse aut bene apteque aut inprospere existimatus est)

 Gell. 10, 3: Cato d.Ä., C. Gracchus und Cicero (Locorum quorundam inlustrium conlatio contentioque facta ex orationibus C. Gracchi et M. Ciceronis et M. Catonis)

 Gell. 11, 4: Ennius und Euripides (Quem in modum Q. Ennius versus Euripidis aemulatus sit)

 Gell. 13, 27: Vergil, Parthenios und Homer (De versibus, quos Vergilius sectatus videtur, Homeri ac Partheni)

 Gell. 17, 10: Vergil und Pindar (Quid de versibus Vergilii Favorinus existumarit, quibus in describenda flagrantia montis Aetnae Pindarum poetam secutus est; conlataque ab eo super eadem re utriusque carmina et diiudicata)

 Gell. 19, 9: Römische und griechische Kleindichtung (titulus nicht überliefert)

 Gell. 19, 11: Ps.-Platon und ein lateinischer Anonymus (titulus nicht überliefert)

Die Zahl von Kapiteln in den Noctes Atticae, die dem synkritischen Textvergleich gewidmet ist, legt es nahe, in diesen Fällen geradezu von einer eigenständigen literaturkritischen Kleinform zu sprechen. Inwieweit diese Annahme auch durch das Vorliegen gemeinsamer inhaltlicher und formaler Merkmale gerechtfertigt ist, soll im Folgenden durch eine knappe Analyse derjenigen Texte, die sich nicht speziell mit dem Homer-Vergil-Vergleich auseinandersetzen – vgl. zu diesen → Kap. 4.2 und 4.3 –, untersucht werden.

Das erste synkritische Kapitel der Noctes Atticae ist Gell. 2, 23,Gellius2, 23 der Vergleich einer griechischen Komödie Menanders (Πλόκιον)3 mit ihrer – heute ebenso wie das griechische Original verlorenen – lateinischen Übertragung durch Caecilius Statius.4

Die Unterschiede zwischen Menander und Caecilius werden in vier bzw. sechs Schritten erarbeitet: Nachdem Gellius in der Einleitung (I) seine Vorliebe für die Lektüre lateinischer Komödien nach griechischen Originalen (Menander, Poseidippos, Apollodoros, Alexis etc.) bekundet und festgestellt hat, dass nach ihrer Lektüre die griechischen Stücke in seinen Augen regelmäßig den Vorzug verdienten (2, 23, 1–3), kommt er (II) konkret auf das Plocium des Caecilius Statius zu sprechen (2, 23, 4–7). Dann folgen (IIIa–c) drei Parallelenpaare, jeweils unter Voranstellung des griechischen Originals und mit kurzer inhaltlicher Einordnung und ästhetischer Wertung der verglichenen Stellen:

 

 2, 23, 8–10: Caecil. com. II 142–157 SRPF3 ← Men. frg. 296 PCG = 333 Körte

 2, 23, 11–13: Caecil. com. II 158–162 SRPF3 ← Men. frg. 297 PCG = 334 Körte

 2, 23, 14–21: Caecil. com. II 169–172 SRPF3 ← Men. frg. 298 PCG = 335 Körte

Abschließend (IV) wird in 2, 23, 22 noch einmal der Vorzug Menanders mit dem Hinweis hervorgehoben, dass die lateinische Nachbildung für sich betrachtet ihren künstlerischen Wert besitze, im direkten Vergleich mit dem Original aber ästhetisch abfalle.

Gellius geht es in diesem Kapitel um den Vergleich zweier Ganzschriften: Die drei Textbeispiele (loci) sind exemplarisch gewählt und dienen dem Zweck, die künstlerische Unterlegenheit der lateinischen Nachbildung im Ganzen zu belegen.5 Für derartige Vergleiche von Ganzschriften bot die frühe lateinische Übersetzungsliteratur – archaisches Epos und insbes. Tragödie und Komödie – reichlich Material, wobei die fehlende stoffliche Originalität der Texte grundsätzlich keinen Anlass zur Kritik lieferte.6 Auch Gellius setzt in 2, 23 die besonderen Produktionsbedingungen der frühen römischen Komödie als Übersetzungsliteratur als gegeben voraus:

Gellius greift in 2, 23 auf die traditionelle Terminologie zur Kennzeichnung von Übersetzungen – im weiteren antiken Sinne verstanden7 – zurück; vgl. 2, 23, 1 (Comoedias … nostrorum poetarum sumptas ac versas de Graecis …) und 2, 23, 6 (… Menandri … Plocium …, a quo istam comoediam verterat).8 Den Vorgang der Abweichung vom Original bezeichnet er mit dem Terminus mutare (2, 23, 7). Die Intention des „Übersetzers“ gerät in 2, 23, 11–12 in den Blick: Caecilius wird die Absicht unterstellt, bestimmte Züge des Originals übernehmen zu wollen, ohne jedoch die Fähigkeit zur Umsetzung besessen zu haben: … ea Caecilius, ne qua potuit quidem, conatus est enarrare, sed quasi minime probanda praetermisit et alia nescio qua mimica inculcavit et illud Menandri … simplex et verum et delectabile, nescio quopacto omisit. Die Abweichungen vom Original erscheinen in dieser Betrachtung als Symptome eines generellen künstlerischen Mangels. Entsprechend wird in 2, 23, 13 die lateinische Übertragung der zweiten Menanderstelle als „Entstellung“ des Originals (corrupit) gescholten, und auch in 2, 23, 21 ist Menander das Maß aller Dinge: Im Zusammenhang mit der dritten Caeciliusstelle stellt Gellius die Frage, ob der Römer die sinceritas und veritas der Menanderverse erreicht habe (… an adspiraverit Caecilius, consideremus).9 Auch der Schlussgedanke reiht sich hier ein: Der Versuch der Nachahmung sei in den Fällen, wo er mangels Begabung von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist, nicht einmal erlaubt (2, 23, 22: … non puto Caecilium sequi debuisse, quod assequi nequiret). Caecilius wird demnach als ein Beispiel für eine zwar beabsichtigte, aber misslungene Nachahmung vorgestellt. Und schon in der Einleitung wird aemulatio ohne weitere Begründung als die leitende Absicht, die hinter dem Nachahmungsversuch des Caecilius steht, vorausgesetzt (2, 23, 3: ita Graecarum, quas aemulari nequiverunt, facetiis atque luminibus obsolescunt).

In den drei Einzelstellenvergleichen wird detailliert vorgeführt, was Gellius unter aemulatio verstanden wissen möchte.10 Die ästhetischen Kriterien, die zur Anwendung kommen, beziehen sich allesamt auf das poetische Programm der Neuen Komödie: Possenhafte Theatereinlagen (mimica) werden als unpassende Ergänzungen des Caecilius verurteilt, Menanders sprichwörtliche Lebensnähe11 und sein Realismus als Vorzüge des Griechen gegen den Lateiner ausgespielt, Schlichtheit und Gefälligkeit als Maßstäbe dramatischer Gestaltung auch an die lateinische Adaption angelegt.12 Beim zweiten Stellenpaar wird Menanders Fähigkeit der „angemessenen und schicklichen“ Charakterzeichnung gerühmt, die den Erfordernissen der Situation nachkommt und die der „alberne Spaßmacher“ Caecilius verfehlt habe.13 Glaubwürdigkeit und „Wahrheit“, d.h. Lebensnähe (sinceritas und veritas), sind, wie bereits angesprochen, die Leitbegriffe, die auch beim dritten Parallelenpaar die Beurteilungskriterien abgeben und mit denen der „tragische Schwulst“ des Caecilius kontrastiert.14

Die knappe Übersicht über die ästhetischen Analysen zeigt, dass Gellius an Caecilius dieselben Maßstäbe anlegt, die traditionell die Grundlage für die – positive – Beurteilung von Menanders Komödienstil bildeten.15 Aufführungs- und Rezeptionsbedingungen der Palliata geraten dabei an keiner Stelle in den Blick: Caecilius wird wie ein lateinischer Vertreter der griechischen Neuen Komödie beurteilt.16 Damit zwingt Gellius dem Caecilius in seiner Analyse einen Wettstreit unter falschen Voraussetzungen auf: Änderungen der Vorlage werden nicht unter ihren besonderen Bedingungen, sondern als Abweichungen von einer gegebenen und somit gültigen Norm betrachtet. Dem entspricht auch der bei Gellius vorausgesetzte Rezeptionskontext. Die beiden Dramen sind hier nicht mehr als Bühnenstücke, sondern als Gegenstände der gemeinschaftlichen Lektüre präsentiert.17 Auf diese Weise kann Gellius von den zeitgebundenen Erfordernissen, denen der römische Palliatadichter genügen musste, abstrahieren: Die Lesekultur der Noctes Atticae bedingt in diesem Fall eine ahistorische Betrachtungsweise von Literatur, die scheinbar zeitlosen Bewertungskriterien folgt – hier dem in Menanders Stück ideal verwirklichten Komödientypus.

Zwei der synkritischen Kapitel in den Noctes Atticae sind Textsorten gewidmet, deren Behandlung nach Quintilian18 in den Zuständigkeitsbereich des Rhetoriklehrers fallen, nämlich der Historiographie und der Rede (Gell. 2, 27 und 10, 3). Dabei handelt es sich nur im Fall von Gell. 2, 27Gellius2, 27 um den Vergleich eines griechischen (Demosth. steph. 67) mit einem lateinischen (Sall. hist. I frg. 88 Maurenbrecher) Text, und nur hier wird eine direkte Abhängigkeit im Sinne intentionaler aemulatio behauptet.19 Das Urteil ist T. Castricius in den Mund gelegt, einem Rhetoriklehrer, den Gellius in den wenigen Kapiteln, in denen er auftritt, als sittenstrenge Autoritätsperson kennzeichnet.20

Es ist dann auch ein moralischer Gesichtspunkt, den Castricius in seiner synkritischen Bewertung der beiden Stellen vorbringt: Sallust hatte den bei Demosthenes formulierten Gedanken, dass König Philipp von Makedonien – abgesehen von seinen bislang im Krieg erlittenen Blessuren – bereit sei, zur Mehrung seines Ruhmes den Verlust eines jeden Körperteils in Kauf zu nehmen, in der Weise auf Sertorius übertragen, dass er dem Römer noch zusätzlich eine perverse Freude an der Verstümmelung unterstellte: Quin ille dehonestamento corporis maxime laetabatur neque illis anxius, quia reliqua gloriosius retinebat (Gell. 2, 27, 2). Für Philipp war die Verstümmelung nur der notwendige, aber grundsätzlich unerwünschte Preis für die Steigerung seines Ruhms: … πᾶν ὅ τι βουληθείη μέρος ἡ τύχη τοῦ σώματος παρελέσθαι, τοῦτο προϊέμενον, ὥστε τῷ λοιπῷ μετὰ τιμῆς καὶ δόξης ζῆν („… jedes Körperglied, das das Schicksal ihm nehmen wollte, preisgebend, um mit dem, was ihm blieb, in Ehre und Ansehen zu leben.“).

Castricius erkennt einen Gegensatz zwischen der von ihm zugrunde gelegten Definition der laetitiaexultatio quaedam animi gaudio efferventior eventu rerum expetitarum (Gell. 2, 27, 3) – und der Situation des Sertorius: Der Verlust von Körperteilen könne, so ist zu ergänzen, keinesfalls unter die res expetitae fallen, deren Eintritt die Voraussetzung für die exultatio animi darstellt. Aus diesem gleichsam logischen Widerspruch ergibt sich ein moralischer Vorwurf gegen Sertorius, der in den Augen des Castricius das „rechte Maß“, d.h. die von der Natur vorgegebenen Grenzen der laetitia, überschreitet: nonne … ultra naturae humanae modum est dehonestamento corporis laetari?21

Castricius überträgt den moralischen Vorwurf gegen Sertorius nun bezeichnenderweise auf die Ebene des Autors bzw. Redners, wenn er Sallust indirekt eine Unstimmigkeit bzw. Unglaubwürdigkeit der Darstellung – also eine technische, keine moralische Schwäche – vorwirft, indem er einleitend zu dem oben zitierten Schlusssatz des Demosthenespassus urteilt: Quanto illud sinceriusque et humanis magis condicionibus conveniens (Gell. 2, 27, 4). Sincerius kann in diesem Zusammenhang nur auf die historische Glaubwürdigkeit der Charakterzeichnung Philipps durch Demosthenes gehen. Die Stoßrichtung des Vorwurfs bleibt in 2, 27 also in der Schwebe: Der moralische Tadel an einer Figur, die sich contra naturam verhält, wird zum Vorwurf gegen den Autor selbst umgemünzt. Es wäre demnach in den Entscheidungsspielraum des Historikers Sallust gefallen, den merkwürdigen Charakterzug des Sertorius psychologisch glaubwürdiger darzustellen bzw. auf die Erwähnung seiner naturwidrigen laetitia zu verzichten.22