Homer und Vergil im Vergleich

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Aus der Reihe: Classica Monacensia #52
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4.2 Parthenios und Homer als polare Bezugsgrößen für die Bewertung Vergils (Gell. 13, 27)

Zwei Abschnitte in den Noctes Atticae thematisieren das Verhältnis zwischen Vergil und seinem Vorbild Homer. In einem, dem kurzen 27. Kapitel des 13. Buches, behandelt Gellius unter dem Titulus De versibus, quos Vergilius sectatus videtur, Homeri ac Partheni zwei nur entfernt vergleichbare Vergilstellen nach verschiedenen griechischen Modellen.1 Bei beiden Stellenpaaren sind jeweils zwei bzw. drei Götternamen, z.T. mit Attribut erweitert, in einem Vers zusammengefasst:

Partheni poetae versus est:Partheniosfrg. 36 ‘Γλαύκῳ καὶ Νηρεῖ καὶ εἰναλίῳ Μελικέρτῃ.’ <frg. 36 Lightfoot = SH 647> Eum versum Vergilius aemulatus est itaque fecit duobus vocabulis venuste inmutatis parem: ‘Glauco et Panopeae et Inoo Melicertae.’Vergilgeorg. 1, 437 <georg. 1, 437> Sed illi Homerico non sane re parem neque similem fecit; esse enim videtur Homeri simplicior et sincerior, Vergilii autem νεωτερικώτερος et quodam quasi ferumine inmisso fucatior: ‘Ταῦρον δ’ Ἀλφειῷ, ταῦρον δὲ Ποσειδάωνι.HomerIl. 11, 728’ <Il. 11, 728> ‘Taurum Neptuno, taurum tibi, pulcher Apollo.’VergilAen. 3, 119 <Aen. 3, 119>

Wenn Gellius gerade Verse von Parthenios und Homer aus dem Kanon möglicher vergilischer Referenztexte2 wählt, so geschieht dies nicht willkürlich, sondern um des exemplarischen Charakters der präsentierten Beispiele willen, der zunächst einmal durch die zeitlichen Verhältnisse gegeben ist: Homer gilt ja als der erste Dichter der Griechen, Parthenios – der angebliche Lehrer Vergils3 – gehört in die unmittelbare Zeitgenossenschaft des Römers. Gellius wählt also die beiden zeitlich am weitesten voneinander entfernten Modelle, auf die Vergil zurückgreifen konnte.

Dass es sich aber nicht nur in zeitlicher, sondern auch in ästhetischer Hinsicht um „Extremfiguren“ handelt, ergibt sich aus einigen Hinweisen auf literaturkritische Diskussionen, wie sie wenige Jahrzehnte vor Abfassung der Noctes Atticae geführt wurden.4 Parthenios erlebte nämlich in der Zeit Hadrians mit ihrer Vorliebe für neoterische Dichtung eine Renaissance.5 Die poetae novelli des 2. bzw. 3. Jhdt. n. Chr.6 optierten ganz nach den Prinzipien der Neoteriker für den feinen, „modernen“ Parthenios und damit gegen großepische Dichtung, wie sie in Gestalt der kyklischen Ependichter seit dem Hellenismus zum literaturkritischen Klischee geworden war. Homer selbst wird dabei zwar nicht kritisiert, homerisierende Großdichtung aber durchaus. Greifbar wird diese Haltung etwa in einem Epigramm der Anthologia Palatina, das dem Dichter Pollianos7 zugeschrieben wird:Anthologia Palatina11, 130

Τοὺς κυκλίους τούτους τοὺς ‘αὐτὰρ ἔπειτα’ λέγοντας | μισῶ, λωποδύτας ἀλλοτρίων ἐπέων. | καὶ διὰ τοῦτ’ ἐλέγοις προσέχω πλέον· οὐδὲν ἔχω γὰρ | Παρθενίου κλέπτειν ἢ πάλι Καλλιμάχου. | ‘θηρὶ μὲν οὐατόεντι’ γενοίμην, εἴ ποτε γράψω, | εἴκελος, ‘ἐκ ποταμῶν χλωρὰ χελιδόνια.’ | οἱ δ’ οὕτως τὸν Ὅμηρον ἀναιδῶς λωποδυτοῦσιν, | ὥστε γράφειν ἤδη ‘μῆνιν ἄειδε, θεά.’ (Anth. Pal. 11, 130 = test. 5 Lightfoot)

(„Wie ich es hasse, dies kyklische Volk mit dem ‘Aber darauf nun’! | Fledderer sind sie am Werk anderer epischer Kunst. | Lieber nehm ich darum die elegische Dichtung; da stehl ich | dem Parthenios nichts, nichts dem Kallimachos fort. | Eher wünschte ich selbst zum ‘ohrigen Tiere’ zu werden, | ehe ich schreibe: ‘Vom Fluss das Chelidionion gelb.’ | Solch ein Gesell aber fleddert so schamlos am großen Homeros, | dass er am Ende noch schreibt: ‘Singe mir, Muse den Zorn!’“ ÜS Beckby)

Bezeichnenderweise wird die kyklische Dichtung in ihrer kaum verhohlenen Homernachfolge hier mit Diebstahls-, d.h. mit Plagiatsvorwürfen in Verbindung gebracht. Als Elegiker folgt Pollianos stattdessen den Prinzipien des Kallimachos und des Parthenios – solchen Dichtern also, bei denen sich wegen der sorgsamen Durcharbeitung ihrer Werke leichtfertiges Plagiieren verbietet.

Die bei Pollianos formulierte Kritik an den Kyklikern wurde einige Jahrzehnte zuvor bereits von Erykios in einem Epigramm gegen Homer selbst gerichtet. Hier treten nicht die Anhänger der beiden Dichter gegeneinander an, sondern Parthenios selbst wird als Homerverächter präsentiert8:Anthologia Palatina7, 377

Εἰ καὶ ὑπὸ χθονὶ κεῖται, ὅμως ἔτι καὶ κατὰ πίσσαν | τοῦ μιαρογλώσσου χεύατε Παρθενίου, | οὕνεκα Πιερίδεσσιν ἐνήμεσε μυρία κεῖνα | φλέγματα καὶ μυσαρῶν ἀπλυσίην ἐλέγων. | ἤλασε καὶ μανίης ἐπὶ δὴ τόσον, ὥστ’ ἀγορεῦσαι | πηλὸν Ὀδυσσείην καὶ πάτον Ἰλιάδα. | τοιγὰρ ὑπὸ ζοφίαισιν Ἐρινύσιν ἀμμέσον ἧπται | Κωκυτοῦ κλοιῷ λαιμὸν ἀπαγχόμενος. (Anth. Pal. 7, 377 = test. 2 Lightfoot)

(„Liegt auch Parthenios schon mit der schmutzigen Lästererzunge | unter der Erde, so gießt trotzdem noch Pech über ihn. | Hat auf die Musen er doch so oft die Flut seines Geifers | und seiner Spottelegien unreine Bosheit gespien. | Ja, er trieb seine Tollheit so weit, dass Homers Odyssee er | einen Morast, dass er Mist die Iliade genannt. | Darum würgten ihn auch mit dem Halsring die finstern Erinnyen | und umketteten ihn mitten im Schlamm des Kokyts.“ ÜS Beckby)

Homer und Parthenios konnten also sowohl zeitlich wie auch ästhetisch als Antipoden gelten, auch wenn sich hinsichtlich der Bewertung Homers und der Kykliker Unterschiede zeigen.

Welchen ästhetischen Kriterien folgt nun aber der knappe Literaturvergleich in Gell. 13, 27? Das erste griechische Zitat mit der Aufzählung von Meeresgottheiten entstammt wohl dem Propemptikon des Parthenios.9 Gellius stellt die Nachahmung als künstlerisch gleichwertig hin: Die beiden als „anmutig“ (vgl. venuste) bewerteten Modifikationen des Partheniosverses durch Vergil, die von Gellius für die ästhetische Äquivalenz der beiden Stellen geltend gemacht werden (itaque fecit … parem), betreffen Einzelwortersetzungen. Statt des Meergottes Nereus erscheint eine seiner Töchter, Panopea, und an die Stelle des Attributs εἰνάλιος tritt das Matronymikon Inous ein. Die metrische Gestaltung des vergilischen Verses zeigt einige „gräzisierende“ Besonderheiten.10 Die Verwendung möglichst vieler (griechischer) Eigennamen in einem Vers galt als Ausweis dichterischer Fertigkeit; in der Ersetzung εἰναλίῳ/Inoo kann man daher wohl eine Überbietungsabsicht Vergils erkennen. Richard Thomas11 hat plausible Gründe dafür vorbringen können, dass beide Änderungen – die auffällige Form Panopea (Πανόπεια) statt des homerischen Πανόπη12 und Inoo13 – durch Kallimachos angeregt worden sind. Damit läge in den Georgica die Verbindung zweier Modelle – Parthenios und Kallimachos – vor, was freilich von Gellius nicht eigens erwähnt wird.

Zwei spätere Varianten bzw. Zitate des Partheniosverses sind erhalten, die in einem komplexeren Verhältnis zu ihren Vorlagen stehen. Der unter Nero schreibende Epigrammatiker Lukillios beginnt eines seiner Epigramme mit den Worten: Γλαύκῳ καὶ Νηρῆι καὶ Ἰνοῖ καὶ Μελικέρτῃ.14Anthologia Palatina6, 164 Hier ist ein klarer Bezug auf Parthenios intendiert, doch hat auch eine der Änderungen Vergils – der Ersatz von εἰναλίῳ durch Inoo – bei Lukillios eine Entsprechung. – Die Vergil-Parthenios-Parallele zitiert auch Macrobius, allerdings mit einer auffälligen Variante im griechischen Text: versus est Parthenii quo grammatico in Graecis Vergilius usus est: Γλαύκῳ καὶ Νηρῆι καὶ Ἰνώῳ Μελικέρτῃ. hic ait: ‘Glauco et Panopeae et Inoo Melicertae’.15MacrobiusSat. 5, 17, 18 Es dürfte außer Frage stehen, dass Gellius den Partheniosvers so gelesen hat, wie er in den modernen Ausgaben erscheint: Gellius benennt ja eindeutig die beiden Stellen, an denen Vergil Änderungen vorgenommen hat (Νηρεῖ/Panopeae; εἰναλίῳ/Inoo).16 Nimmt man also an, dass der Wortlaut bei Gellius authentisch ist, so ist damit zu rechnen, dass Lukillios zu seiner Ersetzung (Ἰνοῖ καὶ anstelle von εἰναλίῳ) durch Vergils Versschluss Inoo Melicertae angeregt worden ist. Die Änderung bei Macrobius ist dann am Einfachsten als nachträgliche Angleichung der Vorlage an den Wortlaut der vergilischen Nachahmung zu erklären.17

Zum zweiten Verspaar: Die Kritik an Vergils Homeranleihe in Aen. 3, 119, die Gellius im Anschluss übt, wird durch die polaren Doppelausdrücke simplicior/sincerior vs. νεωτερικώτερος/quodam quasi ferumine inmisso fucatior eingeleitet. Mit dieser Opposition ist ein Gegensatz von alt und modern gemeint, den Gellius – ohne dies eigens hervorzuheben – wohl vor allem an der Verwendung des Attributs pulcher festmacht.18 Aeneas berichtet in diesem Vers von dem Stieropfer, das Anchises auf Delos vor der Abreise nach Kreta den Göttern Neptun und Apollo dargebracht hat. Verglichen mit dem homerischen Vorbild aus der Erzählung des Nestor im 11. Buch der Ilias unterscheidet sich Vergils Vers nämlich – sieht man von der Ersetzung der Götternamen ab – nur in zwei Punkten, nämlich der Apostrophe tibi19 und, wie bereits erwähnt, dem Attribut pulcher.

Es wäre denkbar, dass Gellius bei seiner kontrastiven Vergilkritik in 13, 27, 3 an einen der frühen Vergilkritiker – vielleicht Probus20 – gedacht hat, den er entweder direkt oder durch einen Kommentar vermittelt kennen konnte. Durch Servius sind noch Spuren der Kritik an Aen. 3, 119 kenntlich:

et quidam ‘pulcher Apollo’ epitheton datum Apollini reprehendunt; pulchros enim a veteribus exsoletos dictos; nam et apud Lucilium <frg. 27 Krenkel = frg. 23 Marx> Apollo pulcher dici non vult. (DServ ad Aen. 3, 119 = I 364, 27–28 Thilo-Hagen)

Die von Servius zitierten anonymen Kritiker beanstandeten Vergils Wortwahl, indem sie sich auf den zur Entstehungszeit der Aeneis geltenden usus beriefen, der dem Adjektiv einen anzüglichen Nebensinn unterlegt (pulcher ~ exoletus).21 Dieser beim Satiriker Lucilius durch den Gott Apollo persönlich gerügte Wortgebrauch lässt sich etwa auch beim Neoteriker Catull beobachten.22 Tatsächlich wird das Attribut, wenn von Apollo die Rede ist, in der lateinischen Dichtung in der Regel vermieden – die bei Servius dokumentierte Kritik an Vergils Vers ist also wohl zutreffend.23

 

Freilich ist von einem anzüglichen Nebensinn bei Gellius nicht die Rede. Wenn er Aen. 3, 119 als νεωτερικώτερος bezeichnet, so rückt er zunächst einmal die zeitliche Distanz zu Homer in den Vordergrund. Die Metapher von der geschminkten Rede (fucata oratio), die Gellius bei seiner Erläuterung des Sachverhalts bringt, ist ganz in diesem Sinn gebraucht: Sie lässt sich seit Seneca in der lateinischen Literatur nachweisen und impliziert eine diachrone Komponente, nämlich die Abgrenzung des verkommenen modernen vom natürlichen alten Stil.24 Tacitus verwendet sie etwa ganz ähnlich wie Gellius, wenn er im Dialogus Messalla die Impulsivität bzw. würdevolle Reife (impetum aut … maturitatem) von früheren Rednern wie C. Gracchus oder L. Crassus der verfeinerten Künstelei und dem Versgeklingel (calamistros … aut tinnitus)25 der Modernen – Maecenas oder Gallio – gegenüberstellen lässt.26

Rechnet Gellius Vergil in 13, 27, 3 unter die Neoteriker im heutigen Sinn, wenn er Aen. 3, 119 als νεωτερικώτερος bezeichnet? Ein Blick auf die Verwendung des Terminus bei Servius führt hier weiter. Grundsätzlich ist hier von der ursprünglichen relationalen Bedeutung des Begriffs auszugehen – die neoterici sind diejenigen Autoren, die nach Vergil geschrieben haben. Servius verknüpft diese relationale Bedeutung freilich auch mit einer bestimmten Wertung:27

Namentlich werden bei Servius die Autoren Persius, Juvenal und Lucan unter die neoterici gerechnet, also allesamt Dichter, die nach Vergil geschrieben haben.28 Die drei Autoren werden angeführt, um chronologisch nach Vergil liegende sprachliche Entwicklungen in Abgrenzung zur jeweils besprochenen Stelle zu belegen. An einem Punkt scheint aber eine Unterscheidung zwischen posteriores im Allgemeinen und neoterici gemacht zu sein, und zwar in dem Sinn, dass Servius den Sprachgebrauch der als neoterici qualifizierten Autoren nicht zur Nachahmung empfiehlt.29 Wie richtig bemerkt wurde, hat der Begriff bei Servius aber keine streng klassifizierende Bedeutung, sondern kann bei Gelegenheit verwendet werden, um die grundsätzlich nicht in Frage gestellte auctoritas nachvergilischer Autoren wie Persius, Lucan oder Juvenal an der betreffenden Stelle vorübergehend zu relativieren. An einer Stelle kontrastiert Servius etwa den Sprachgebrauch der nachzuahmenden Autoren (auctores idonei) und der – folglich also nicht nachzuahmenden – neoterici.30 Konkret geht es um zwei morphologische Alternativen, von denen die eine empfohlen, die andere abgelehnt wird. „Neoterischer“ Sprachgebrauch kann auch als Argument dienen, eine bestimmte Lesart zu verwerfen.31 An anderen Stellen ist die – mit putant bzw. putatur als Zitat aus früheren Kommentatoren markierte – Ablehnung der als „neoterisch“ qualifizierten Stellen zwar nicht explizit gemacht, lässt sich aber wegen der jeweils vorliegenden sprachlichen Gewagtheiten erschließen.32 An einer weiteren Stelle wird deutlich, dass Servius unter „neoterisch“ auch das versteht, was überflüssig ist und gegen die gravitas des Gedichts verstößt.33 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass neoterici bei Servius – im Gegensatz zu neutralen Relationsbegriffen wie recentiores – in der Regel mit einer negativen Wertung verbunden wird.34 Wie die Verwendung des Begriffes neoterici bei Probus35 und in den anonym zitierten Vergilkommentaren zeigt, dürfte sich die damit verbundene negative Wertung bei den antiken Vergilphilologen eingebürgert haben und kann somit auch für die Noctes Atticae angenommen werden.

Da es keine Anhaltspunkte gibt, dass Gellius Aen. 3, 119 wegen des möglichen obszönen Nebensinns von pulcher kritisiert und den Vers deshalb als „neoterisch“ geißelt, so bleibt als die wahrscheinlichere Deutungsmöglichkeit, dass er den Zusatz eines Adjektivs selbst als eine Abweichung vom alten, d.h. einfachen und unverfälschten homerischen Stil (vgl. simplicior et sincerior) betrachtet. Diese Betrachtungsweise, d.h. die Frage nach der Notwendigkeit eines bestimmten sprachlichen Ausdrucks, hat eine Entsprechung in den ästhetischen Grundsätzen der Homerphilologen, dürfte also von dort in die Vergilphilologie übernommen worden sein.

Die antiken Homerkommentatoren befassten sich – abgesehen von den vielen semantischen Problemen, die sich auf diesem Gebiet ergaben; vgl. dazu Nünlist (2009), S. 299 – hauptsächlich mit der Frage, ob Homer seine Epitheta glücklich gewählt hat oder nicht.36 Man unterschied in problematischen Fällen zwischen dem aktuellen Kontext (τότε), der bei der Wahl nicht unbedingt berücksichtigt werden musste, und einer „generellen“ Gültigkeit eines Beiworts (φύσει); vgl. Nünlist (2009), S. 300–305. Im Zuge der intensiven Forschungen über homerische Epitheta, die in der Antike betrieben wurden, wurden in manchen Kontexten Epitheta auch als „überflüssig“ (περισσός) kritisiert; vgl. Nünlist (2009), S. 303. Vergils Verwendung von pulcher kann also vor diesem Hintergrund ebenfalls als περισσός bzw. superfluus bezeichnet werden; demgegenüber hebt sich die Zurückhaltung Homers positiv ab.37

Gell. 13, 27 stellt also eine literaturhistorische Miniaturbetrachtung dar, in der Vergil zu zwei diachron weit entfernten Bezugsautoren ins Verhältnis gesetzt wird. Das Ergebnis der kontrastiven Gegenüberstellung fällt – zumindest an dieser Stelle, doch scheint die Einschätzung Allgemeingültigkeit zu beanspruchen – ambivalent aus: Im unmittelbaren literaturgeschichtlichen Umfeld glückt Vergils Versuch der aemulatio, an Homers archaische Schlichtheit reicht er hingegen nicht heran. Eine solche Gegenüberstellung fügt sich in die nach Quintilian bis auf Domitius Afer zurückgehende Vorstellung, wonach Vergil als der „ewige Zweite“ zwar alle anderen Dichter übertrifft, an Homer aber nur schwerlich heranzureichen vermag.38 Bei Quintilian findet sich im Nachsatz wie bereits erwähnt dieselbe scharfe Opposition ästhetischer Grundkategorien – sorgfältige Ausarbeitung bzw. ars vs. natürlich-einfache Schöpfung bzw. ingenium –, die auch der Gegenüberstellung Vergils mit Parthenios und Homer in Gell. 13, 27 zugrunde liegt.

4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido (Gell. 9, 9, 12–17)

Der andere längere Abschnitt, in dem Gellius einen Beitrag zur Synkrisis zwischen Homer und Vergil liefert, findet sich am Ende des neunten Kapitels im neunten Buch der Noctes Atticae. Obwohl der Homer-Vergil-Vergleich nicht das einzige Thema des Kapitels ist, rechnet es dennoch zu den synkritischen Kapiteln der Noctes Atticae i.e.S. Die drei Vergleiche von Modell und Nachahmung, die Gellius in 9, 9 präsentiert, sollen nämlich allesamt das Problem der gelungenen Übersetzung bzw. imitatio griechischer sententiae illustrieren. Dass dabei die Kategorie der Wörtlichkeit variabel gefasst wird, macht Gellius in den Eingangssätzen deutlich:

Quando ex poematis Graecis vertendae imitandaeque sunt insignes sententiae, non semper aiunt enitendum, ut omnia omnino verba in eum, in quem dicta sunt, modum vertamus. Perdunt enim gratiam pleraque, si quasi invita et recusantia violentius transferantur. (Gell. 9, 9, 1–2)

Gellius bzw. seine anonymen Autoritäten (aiunt) stellen also den ästhetischen Wert der Wörtlichkeit nicht grundsätzlich in Frage; als Regelfall wird hier die Übertragung ad verbum vorgestellt. Nur für Fälle, in denen ein Konflikt zwischen den Prinzipien der Wörtlichkeit und der Anmut (gratia) in der Übertragung besteht, sind anstelle eines allzu strengen Festhaltens am Wortlaut des Originals gewisse Veränderungen am Modell vorzunehmen. Das Streben nach Wörtlichkeit wird in derartigen Fällen mit Ausdrücken der gewaltsamen Anstrengung (enitendum; violentius), die Widerstände im Material mit solchen der persönlichen Renitenz (invita; recusantia) umschrieben.1 Vergil habe die Änderungen an seinen Vorlagen2 unter diesen Umständen wissentlich (scite) und überlegt (considerate) vorgenommen.

Diese einleitende Bemerkung und die ersten beiden Stellenvergleiche sind wichtig, um das folgende Probusreferat und Gellius’ Haltung zu den wiedergegebenen Bewertungen richtig einzuschätzen. Zunächst werden nämlich Beispiele für gelungene Nachahmung von Einzelstellen aus Theokrit besprochen. Die Szenerie ist, wie ein knapper Hinweis zu verstehen gibt, diejenige einer Unterhaltung beim Mahl, also ein symposiastischer Kontext, in dem griechische und lateinische Eklogen vorgetragen werden.3 Beim ersten Beispiel (9, 9, 4–6) habe Vergil eine wegen ihrer Süße gelobte griechische Stelle (mire quam suave) abgeändert und stattdessen etwas Anmutigeres gesetzt (non abest, quin iucundius lepidiusque sit). Wie aus dem Vergleich der beiden Textstellen4 hervorgeht, soll hier insbesondere der Umstand hervorgehoben werden, dass Vergil in seiner Nachahmung das – in dieser Form nur bei Theokrit belegte – Wort ποππυλιάζειν ausgelassen hat. Wie ein Eintrag im Lexikon des Hesychios belegt, erkannte man in dieser Vokabel schon in der Antike einen onomatopoietischen Ausdruck und verband damit einen besonders gefälligen akustischen Eindruck.5 Auch Gellius streicht in 9, 9, 4 hervor, dass der Ausdruck auf Griechisch eine besondere, ins Lateinische nicht übertragbare Lieblichkeit besitze (quod Graecum quidem mire quam suave est, verti autem neque debuit neque potuit). Vergils Änderung war demnach berechtigt, wenn er – statt sich an Unmöglichem zu versuchen – ein gefälligeres und heitereres Detail setzte (iucundius lepidiusque), indem er das neckische Versteckspiel der Galathea beschrieb – den klanglichen Effekt also durch einen inhaltlichen ersetzte. – Im zweiten Beispiel (9, 9, 7–11) wird eine sprachlich auffällige Junktur bei Theokrit, die als solche nur im Griechischen möglich ist, als ungewöhnlich (verba … non translaticia) bezeichnet.6 Die Wirkung dieses Ausdrucks erkennt Gellius in seiner natürlichen Süße.7 Wieder tut Vergil gut daran, die Phrase unübersetzt zu lassen, was ihm auch nicht als Fehler angerechnet wird. Einen Fehler begeht er stattdessen, wenn er sich an eine Übersetzung wagt und diese misslingt, wie in 9, 9, 9–11 am Beispiel der unglücklichen Wiedergabe von ἐνόρχης (Theokr. eid. 3, 4) durch caper (ecl. 9, 25), das nach Varro8 nur für kastrierte Böcke in Frage kommt, gezeigt wird.

Wichtig ist im ganzen Abschnitt die Feststellung, dass die griechische Dichtung Qualitäten – in den besprochenen Fällen auf akustischer und lexikalisch-grammatischer Ebene – hat, die im Lateinischen nicht wiederzugeben sind. Den lateinischen Dichter zeichnet es demnach aus, wenn er diese Stellen als solche erkennt und bei seiner Übertragung in bewusster Vorsicht (caute) unberücksichtigt lässt. Stattdessen ist er nach Gellius gehalten, ein ästhetisches Äquivalent zu schaffen, indem er auf andere Gestaltungsmöglichkeiten zurückgreift.

Das Probusreferat in Gell. 9, 9, 12–179, das in unserem Zusammenhang besonders interessiert, schließt eher lose an die zuvor geschilderte Szene beim Mahl an. Die Verbindung wird über das Thema der Übersetzung bzw. imitatio im dargelegten Sinne hergestellt (quoniam de transferendis sententiis loquor). Gellius habe durch Schüler des berühmten Philologen10 von seinem Urteil über eine berühmte Homer-imitatio Vergils erfahren. Es handelt sich um das Dianagleichnis, mit dem Dido im ersten Buch der Aeneis eingeführt wird. Aeneas und Achates betrachten, von Venus unsichtbar gemacht, voller Bewunderung die kunstvoll gearbeiteten Türen am eben entstehenden Tempel in Karthago. Da erscheint Dido in strahlender Schönheit, umringt von einer großen Schar junger Männer (Aen.VergilAen. 1, 498–504 1, 498–504):

Qualis in Eurotae ripis aut per iuga Cynthi | exercet Diana choros, quam mille secutae | hinc atque hinc glomerantur oreades; illa pharetram | fert umero, gradiensque deas supereminet omnis: | Latonae tacitum pertemptant gaudia pectus: | talis erat Dido, talem se laeta ferebat | per medios, instans operi regnisque futuris.

 

Gellius zitiert – die Reihenfolge entspricht den Theokrit-Vergil-Beispielen – vorab das griechische Modell, nämlich das Artemisgleichnis aus dem sechsten Buch der Odyssee, mit dem Homer die am Strand mit ihren Gefährtinnen spielende Nausikaa näher beschreibt (Od. 6, 102–108): 11HomerOd. 6, 102–108

οἵη δ’ Ἄρτεμις εἶσι κατ’ οὔρεα ἰοχέαιρα, | ἢ κατὰ Τηύγετον περιμήκετον ἢ Ἐρύμανθον, | τερπομένη κάπροισι καὶ ὠκείῃσ’ ἐλάφοισι· | τῇ δέ θ’ ἅμα Νύμφαι, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο, | ἀγρονόμοι παίζουσι· γέγηθε δέ τε φρένα Λητώ· | πασάων δ’ ὑπὲρ ἥ γε κάρη ἔχει ἠδὲ μέτωπα, | ῥεῖά τ’ ἀριγνώτη πέλεται, καλαὶ δέ τε πᾶσαι …

(„… und wie Artemis über die Berge schreitet, die pfeilschüttende, über den gar langen Taygetos oder den Erymanthos, sich erfreuend an Ebern und schnellen Hindinnen, und zusammen mit ihr spielen Nymphen, die Töchter des Zeus, des Aigishalters, die im freien Felde walten, und es freut sich in ihrem Sinne Leto: über sie alle hinaus hat jene Haupt und Stirn, und leicht herauszuerkennen ist sie, doch schön sind alle…“ ÜS Schadewaldt)

Die beiden epischen Situationen sind – wie bereits vielfach bemerkt12 – grundverschieden: Hier der verborgene Beobachter Aeneas, dort der schlafende Odysseus; hier die mit dem Bau der Stadt beschäftigte Königin, dort die sorglos spielende Tochter des Alkinoos; hier der Tempelbereich als Schauplatz, dort die Szenerie in freier Natur. Die Applikation des homerischen Modells auf einen ganz anderen Kontext musste förmlich zu einem kritischen Abgleich herausfordern, wie ihn Probus in exemplarischer Weise vollzogen hat. Es lassen sich im Referat des Gellius vier Kritikpunkte unterscheiden:

 Die Detailzuordnung der einzelnen Elemente des Gleichnisses unterscheidet sich bei beiden Dichtern hinsichtlich der Proprietät, d.h. der inhaltlichen Entsprechung; vgl. Gell. 9, 9, 14 (Primum omnium id visum esse dicebant Probo, quod aput Homerum quidem virgo Nausicaa ludibunda inter familiares puellas in locis solis recte atque commode confertur cum Diana venante in iugis montium inter agrestes deas, nequaquam autem conveniens Vergilium fecisse, quoniam Dido in urbe media ingrediens inter Tyrios principes cultu atque incessu serio, ‘instans operi’, sicut ipse ait, ‘regnisque futuris’, nihil eius similitudinis capere possit, quae lusibus atque venatibus Dianae congruat …).

 Homer habe Artemis klar und deutlich (aperte) in schicklicher Weise (honeste) geschildert, Vergils andeutende Darstellung hingegen sei unklar und verstoße gegen die Würde der Göttin, die in der Aeneis ihr Jagdgerät selbst tragen muss; vgl. Gell. 9, 9, 15a (tum postea, quod Homerus studia atque oblectamenta in venando Dianae honeste aperteque dicit, Vergilius autem, cum de venatu deae nihil dixisset, pharetram tantum facit eam ferre in humero, tamquam si onus et sarcinam …).

 Homer zeige Letos tief empfundene Freude über den Anblick der Tochter, die Freude Latonas bei Vergil sei hingegen nur oberflächlich; vgl. Gell. 9, 9, 15b (… atque illud impense Probum esse demiratum in Vergilio dicebant, quod Homerica quidem Λητώ gaudium gaudeat genuinum et intimum atque in ipso penetrali cordis et animae vigens, siquidem non aliud est: γέγηθε δέ τε φρένα Λητώ, ipse autem imitari hoc volens gaudia fecerit pigra et levia et cunctantia et quasi in summo pectore supernantia; nescire enim sese, quid significaret aliud ‘pertemptant’…).

 Vergil lasse den „besten Vers“ (flos) der homerischen Vorlage, wonach Artemis inmitten ihrer schönen Nymphen hervorsticht und leicht zu erkennen sei, bei seiner Bearbeitung aus; vgl. Gell. 9, 9, 16–17 (praeter ista omnia florem ipsius totius loci Vergilium videri omisisse, quod hunc Homeri versum exigue secutus sit: ῥεῖά τ’ ἀριγνώτη πέλεται, καλαὶ δέ τε πᾶσαι, quando nulla maior cumulatiorque pulchritudinis laus dici potuerit, quam quod una inter omnis pulchras excelleret, una facile ex omnibus nosceretur).

Im Folgenden sind drei Gesichtspunkte zu prüfen: Auf welche ästhetischen Grundannahmen stützt sich der Kritiker bei den einzelnen Punkten? Wie berechtigt ist die Kritik, insbesondere im methodischen und philologischen Horizont der antiken Homerphilologie? Welche Haltung verrät Gellius gegenüber den Ausstellungen des Probus? – Zunächst zum ersten Kritikpunkt. Um seinen Vorwurf zu bekräftigen, gibt Probus einen Katalog von Detailzuordnungen, die er bei Homer als besonders gelungen herausstellt:


verglichene Aspekte: Erzählebene: Bildebene:
persönliche Eigenschaften virgo Nausicaa Diana (scil. ‘die jungfräuliche Göttin’)
Beschäftigung ludibunda venante
Begleitung inter familiares puellas inter agrestes deas
Schauplatz in locis solis in iugis montium

Entsprechend wurde auch das Artemisgleichnis von den antiken Homerphilologen analysiert. Ein Scholion vermerkt pauschal, dass sich bei Homer Erzähl- und Bildebene in allen Details entsprechen: κατὰ πάντα ἀπαράλλακτος ἡ εἰκών.13 Probus ist in diesem Punkt genauer, wenn er anstelle der Quantität der Einzelentsprechungen deren Proprietät, also den Grad der Entsprechung, in den Vordergrund rückt (recte atque commode confertur): Von einer Detailzuordnung aller Details kann man bei Homer auch schwerlich sprechen.14

Im Falle Vergils ergibt sich augenscheinlich ein etwas anderes Bild. In allen Einzelkategorien, in denen Homer einen engen Bezug von Erzähl- und Bildebene herstellen konnte, versagt Vergil nach der Einschätzung des Probus:


verglichene Aspekte: Erzählebene: Bildebene:
persönliche Eigenschaften Dido (scil. ‘eine ehemals verheiratete Frau’) Diana (scil. ‘die jungfräuliche Göttin’)
Beschäftigung cultu atque incessu serio, ‘instans operi’, sicut ipse ait, ‘regnisque futuris’ venante
Begleitung ingrediens inter Tyrios principes inter agrestes deas
Schauplatz in urbe media in iugis montium

Wird Probus mit seiner Kritik den Absichten Vergils gerecht? Eine Brückenstellung in der Rezeptionsgeschichte des homerischen Artemisgleichnisses nimmt Apollonios von Rhodos ein, der Medea im dritten Buch der Argonautika ebenfalls mit Diana vergleicht und dabei, wie später auch Vergil, auf Homer zurückgreift (Apoll. Rhod. 3, 875–886):15Apollonios3, 875–886

οἵη δέ, λιαροῖσιν ἐν ὕδασι Παρθενίοιο | ἠὲ καὶ Ἀμνισοῖο λοεσσαμένη ποταμοῖο, | χρυσείοις Λητωὶς ἐφ’ ἅρμασιν ἑστηυῖα | ὠκείαις κεμάδεσσι διεξελάῃσι κολώνας, | τηλόθεν ἀντιόωσα πολυκνίσου ἑκατόμβης· | τῇ δ’ ἅμα νύμφαι ἕπονται ἀμορβάδες, αἱ μὲν ἀπ’ αὐτῆς | ἀγρόμεναι πηγῆς Ἀμνισίδες, αἱ δὲ λιποῦσαι | ἄλσεα καὶ σκοπιὰς πολυπίδακας, ἀμφὶ δὲ θῆρες | κνυζηθμῷ σαίνουσιν ὑποτρομέοντες ἰοῦσαν – | ὧς αἵγ’ ἐσσεύοντο δι’ ἄστεος, ἀμφὶ δὲ λαοί | εἶκον ἀλευάμενοι βασιληίδος ὄμματα κούρης.

(„Wie die Tochter der Leto, nachdem sie in den warmen Wassern des Parthenios oder auch des Amnisos gebadet hat, auf goldenem Wagen stehend, mit schnellen Hindinnen die Hügel durchfährt, um, von fernher kommend, ein rauchendes Hundertopfer entgegenzunehmen; ihr aber folgt eine Schar von Nymphen – die einen versammeln sich von der Quelle des Amnisos her, die anderen verlassen die Wälder und quellenreichen Höhen –, ringsum aber winseln und schmeicheln die wilden Tiere vor Angst, wenn sie vorbeikommt: So eilten diese durch die Stadt, und rings wichen die Leute, um den Blick der Königstochter zu meiden.“ ÜS Glei/Natzel-Glei)