Soziologie der Migration

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

1.5 Transmigranten und Transnationalismus als neue Themen der Migrationsforschung

Das zentrale Thema der Migrationsforschungen war bis in die 1980er Jahre hinein die Eingliederung der Migranten in die Aufnahmegesellschaft. Die deskriptiv-klassifikatorischen Sequenz- und Zyklenmodelle, die mit der Institutionalisierung der Migrationssoziologie als Fachdisziplin an der Universität Chicago/USA in den 1920er Jahren nach und nach entwickelt wurden, sind in ihren unterschiedlichen Phasen- und Zykleneinteilungen weitgehend von einem linear-progressiv verlaufenden Eingliederungsprozess der Migranten in die Aufnahmegesellschaft ausgegangen. Die darauf folgenden Migrationstheorien der 1960er Jahre (z.B. die von Shmuel N. Eisenstadt und Milton M. Gordon) waren inhaltlich umfassender angelegt (z.B. theoretische Berücksichtigung der in der Realität oft vorkommenden Diskontinuitäten und Regressionen des Eingliederungsprozesses der Migranten) als die Sequenz- und Zyklenmodelle. Ihre zentralen Interessen waren ebenfalls auf die Eingliederung der Migranten in die Aufnahmegesellschaft gerichtet. Im Mittelpunkt der Migrationsforschungen im deutschsprachigen Raum steht seit den 1980er Jahren auch die Eingliederung der Migranten.

Gemeinsam für die genannten Migrationsforschungen war die Vorstellung der bipolaren Verhältnisse, die zwischen den Sende- und Empfängerländern generell zu beobachten waren (vgl. Roger Rouse, 1992, 26-27). Erkenntnisleitend war dabei die historische Realität des einseitig fließenden Migrationsstroms von den Sende- zu den Empfängerländern (z.B. Siedlungsmigration von Millionen verarmter Menschen aus Europa in traditionelle Einwanderungsländer). Unter diesem bipolaren Denkmodell machten unter anderem die Probleme der Entwurzelung (uprooted), der soziokulturellen Entfremdung (alienation) und des unvermeidlichen Abbruches (rupture) der Migranten von bzw. mit ihren Herkunftsländern einerseits und ihrer schwierigen und mühevollen Niederlassung (settlement), Akkulturation, Integration und Assimilation/Absorption in die Aufnahmeländer andererseits die zentralen Fragestellungen der Migrationsforschungen aus (vgl. Nina Glick-Schiller, Linda Basch, Cristina Blanc-Szanton, 1992, 1).

Zu Beginn der 1990er Jahre thematisierten zunehmend Anthropologen und Soziologen in den USA einen neuen Typus von Immigranten aus karibischen Ländern, Mexiko und den Philippinen, der sich grundlegend von dem traditionellen Typus der Immigranten unterscheidet. Dieser neue Typus zeichnete sich durch die Tatsache aus, dass er, abweichend von dem traditionellen Bild der Immigranten, aus den zirkulierenden (circulation) Migranten bestand, die sich ständig zwischen ihrer Residenz- und Herkunftsgesellschaft hin und her bewegten (the constant back and forth flow of people). Sie waren damit weder permanente noch temporäre Einwanderer im herkömmlichen Sinn bzw. „sojourners“, die nur für einige Jahre ihr Glück im Ausland versuchten und dann als Remigranten in ihre Heimat zurückkehrten. Sie entwickelten Aktivitäten und multilokale soziale Beziehungen (multi-stranded social relations) über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg und erhielten ihre Bindungen zu ihrem Heimatland aufrecht. Um die Erfahrungen dieses neuen Typus von Immigranten theoretisch zu erfassen, wurde eine neue Konzeption des Transnationalismus (transnationalism) für notwendig gehalten, weil die herkömmlichen Begriffe und Konzepte der Migrationssoziologie nach Auffassung der Forscher nicht geeignet waren. Der Transnationalismus wurde dabei als ein Prozess definiert, in dem die Immigranten soziale Felder (social fields) erschließen, die ihr Herkunftsland mit ihrem Aufnahmeland verbinden. Die Immigranten, die solche sozialen Felder erschließen und dadurch mehrfache Beziehungen (multiple relations) familialer, wirtschaftlicher, sozialer, religiöser, politischer und organisatorischer Art entwickeln und aufrechterhalten, die die nationalstaatlichen Grenzen überspannen, wurden als Transmigranten bezeichnet. Diese unternehmen Aktionen, treffen Entscheidungen, artikulieren Interessen und bilden Identitäten innerhalb ihrer sozialen Netzwerke, die gleichzeitig zwei oder mehrere Gesellschaften verbinden (vgl. Nina Glick-Schiller, Linda Basch, Cristina Blanc-Szanton, 1992, 1-2, 5; 1997, 121).

Transmigranten und Transnationalismus sind somit wissenschaftliche Konstruktionen, die helfen sollen, die strukturell bedingten Veränderungen von Einstellungen, Aktivitäten, Erfahrungen, Identitäten und Lebensentwürfen des neuen Migrantentypus theoretisch erklärbar und erfassbar zu machen. In den Publikationen, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen, werden unterschiedliche strukturelle Bedingungen genannt, die ursächlich für diese Veränderungen sind:

a) Globalisierung der Wirtschaft

Die Energiekrise zu Beginn der 1970er Jahre hat nicht nur die 20jährige Wachstumsperiode der Wirtschaft (1950-1973) in den westlichen Industrieländern nach dem Zweiten Weltkrieg abrupt beendet, sondern grundlegende Strukturkrisen ausgelöst. Die Industrieländer waren zur grundlegenden Restrukturierung ihrer Wirtschaft gezwungen. Diese bestand im Wesentlichen in der massiven Kostensenkung durch die Einführung neuer Produktionstechniken und durch die Rationalisierung der Produktionsverfahren, in der generellen Verkürzung der Produktionszyklen und in der erhöhten Flexibilität der Produktion, um den sich schnell verändernden Marktbedingungen und Nachfragen gegenüber besser und flexibler reagieren zu können (vgl. Elisabeth Hagen, Jane Jenson, 1988, 9-11; Petrus Han, 2003, 83). Um 1990 tritt der Strukturwandel der Weltwirtschaft in eine qualitativ neue Phase der grundlegenden und akzelerierenden ökonomischen Globalisierung (economic globalization) ein. Zunehmend wurden Staatsunternehmen privatisiert und Arbeitskräfte in Privatunternehmen durch internationale Fusionen reduziert (downsizing). Die Zahl der transnationalen Unternehmen und die damit zusammenhängenden Auslandsdirektinvestitionen (foreign direct investments) stiegen kontinuierlich an (vgl. A. G. Kenwood, A. L. Lougheed, 1999, 247-250).

Die USA, aber auch andere Industrieländer, haben ihre exportorientierten Manufakturindustrien (z.B. im Produktionsbereich der Elektronik, Textil, Schuhe, Nahrungsmittel, Spielzeug) und die kommerzielle Landwirtschaft, deren Standorte unter dem besonderen Aspekt des Klimas und Transportes ausgewählt wurden, in die sog. „off-shore“-Länder der karibischen Region und nach Asien verlagert, um einerseits die billigen Arbeitskräfte (low-wage labor force) zu nutzen, andererseits gegen die Forderungen der organisierten einheimischen Arbeiterschaft druckvoll vorgehen zu können (vgl. Saskia Sassen-Koob, 1984, 1145-1151; Monica Boyd, 1989, 658-659). Diese Verlagerung, vergleichbar mit der Entwicklung in Deutschland, hat unter anderem die lokale Wirtschaftsstruktur zerstört und Arbeitskräfte freigesetzt, die migrieren mussten, um Beschäftigung zu finden. Unter den veränderten Lebensbedingungen konnten sie jedoch kaum eine sichere wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lebensgrundlage schaffen, so dass sie sich auf eine transnationale Existenz einstellen mussten (vgl. Nina Glick-Schiller, Linda Basch, Cristina Blanc-Szanton, 1992, 8-9).

b) Entstehung von transnationalen Familien

Zwischen den USA und Mexiko, den karibischen Ländern sowie den Philippinen bestehen seit dem 19. Jahrhundert enge kolonialhistorisch bedingte politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen. Diese historischen Beziehungen haben zur Entstehung eines einzigartigen Migrationssystems (migration system) zwischen diesen Ländern beigetragen (vgl. Monica Boyd, 1989, 641-642), innerhalb dessen zirkulierende und temporäre Arbeitsmigrationen fast zur Normalität geworden sind. Die meisten Menschen in den karibischen Ländern haben ihren Arbeitsplatz außerhalb ihres Herkunftslandes. So ist für sie die Arbeitsmigration in die USA selbstverständlich. Es gibt kaum eine Familie in dieser Region, die keine Migrationserfahrungen hat (vgl. Rosina Wiltshire, 1992, 176, 182-183). Zur Arbeitsmigration von Mexiko in die USA ist festzustellen, dass sie vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein relativ kontinuierlich stattfindet. Die Knappheit an Arbeitskräften in den USA beim Bau von Eisenbahnstrecken, die den Südwesten mit dem Markt im Osten verbinden sollten, oder die vorübergehende Verknappung der Arbeitskräfte während des Zweiten Weltkrieges, waren Anlässe für die USA, die temporäre Immigration mexikanischer Arbeiter zuzulassen. Das „Bracero Programm“, das die USA 1942 mit Mexiko vereinbarten, um die Knappheit an Arbeitskräften während des Zweiten Weltkrieges auszugleichen, und das aufgrund der wirtschaftlichen Interessen der amerikanischen Bauernbevölkerung im Süden mehrmals verlängert werden musste, hat es ermöglicht, zwischen 1942 und 1964 insgesamt 4,6 Mio. mexikanische Arbeitsmigranten (Braceros) in der Landwirtschaft zu beschäftigen (vgl. Douglas S. Massey, 1988, 402-404). Die Immigration von den Philippinen in die USA beginnt ebenfalls im 19. Jahrhundert, nachdem die USA die Philippinen 1898 mit 20 Millionen US-Dollar von Spanien erworben haben. Die USA errichteten dort Militärstützpunkte in „Subic Bay“, „Olangapo“ und Luftwaffenstützpunkte in „Angeles“ (vgl. Agisra, 1990, 166).

Vor diesem skizzierten Hintergrund sind in Mexiko, auf den Philippinen und in den karibischen Ländern viele Familien zu finden, deren Angehörige in den USA arbeiten. Diese Familien sind deswegen als transnationale Familien (transnational families) zu bezeichnen, weil sie durch häufige grenzüberschreitende Mobilität (z.B. Besuche zu familiären Anlässen, wie Taufe, Einschulung der Kinder, Hochzeit, Todesfall) geprägt sind, und weil ihre Entscheidungen immer die Gegebenheiten von zwei Ländern berücksichtigen müssen (vgl. Bela Feldman-Bianco, 1992, 157). Die Existenz solcher transnationalen Familien ist die Grundvoraussetzung für die Entstehung von transnationalen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Netzwerken zwischen den Emigranten und den Menschen im Heimatland. Der Begriff „transnational“ wird zur Beschreibung der Tatsache gebraucht, dass Migranten ihr Alltagsleben zunehmend über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg gestalten und dabei ihre Bindungen zu ihrem Herkunftsland weiterhin aufrechterhalten (siehe hierzu Nina Glick-Schiller, Linda Basch, Cristina Blanc-Szanton, 1992, IX). Solche transnationalen Familien haben mehrfache Familienbasen (multiple home bases) und entwickeln mehrfache nationale Loyalitäten (multiple national loyalties), die nationalstaatliche Grenzen überspannen (vgl. Rosina Wiltshire, 1992, 175).

 

c) Politik der Herkunftsländer zur Reintegration ihrer Emigranten in die nationale Kultur und Wirtschaft

Die Nationalstaaten, die durch gezielte politische Maßnahmen die Bindungen ihrer im Ausland lebenden ehemaligen Staatsbürger zu fördern und zu stärken versuchen, nehmen seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in ihrer Gesamtzahl zu. Sie verfolgen dabei überwiegend nationalstaatlich orientierte kulturelle und wirtschaftliche Zielsetzungen. Um dies zu verdeutlichen, sind zum einen die ehemaligen Kolonialländer zu nennen, die ihre Staatsbürger, die verstreut in verschiedenen Kolonialgebieten leben, in ihren postkolonialen Staat zu integrieren versuchen. Der postkoloniale Staat Portugal hat z.B. 1980 „eine globale portugiesische Nation“ (a global Portuguese nation) ausgerufen, die unabhängig vom Territorium als „the imagined political community“ existiert. Die portugiesische Nation wurde dadurch ent-territorialisiert und erfasst nun alle Portugiesen, die in der Welt verstreut leben. Der portugiesische Staat ermöglicht danach allen Auslandsportugiesen das doppelte Staatsbürgerrecht (dual citizenship rights) mit dem politischen Wahlrecht. Auf dieser rechtlichen Grundlage können die Auslandsportugiesen zwischen Residenzgesellschaft und Mutterland hin und her reisen und dadurch ihre kulturelle Verbundenheit intensivieren (vgl. Bela Feldman-Bianco, 1992, 146-149, 152). Jamaika und Kuba gewähren ihren Emigranten ebenfalls die doppelte Staatsbürgerschaft, um die kulturellen Bindungen zum Herkunftsland im politischen und wirtschaftlichen Interesse nicht abreißen zu lassen (vgl. Palmira N. Rios, 1992, 225).

In ähnlicher Form versuchen auch Italien und Mexiko die ethnischen Heimatbindungen ihrer Emigranten im Ausland politisch zu fördern und im wirtschaftlichen Interesse dauerhaft zu erhalten. 1912 hat Italien seine Staatsangehörigkeitsgesetze so verändert, dass alle Italiener, die durch den Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit ihre italienische verloren haben, durch die Rückkehr nach Italien ihre verlorene Staatsangehörigkeit ohne Schwierigkeit und Kosten zurückerhalten können. Mexiko hat auch in seiner Verfassung den Passus entfernt, nach dem die Mexikaner bisher automatisch ihre mexikanische Staatsangehörigkeit verlieren, wenn sie eine andere erwerben. Damit hat Mexiko die rechtliche Bedingung geschaffen, dass seine Staatsangehörigen auch im Falle des Erwerbs einer anderen Staatsangehörigkeit (z.B. die der USA) ihre bisherige beibehalten können (vgl. Robert Smith, 1992, 208).

Ein weiteres Interesse der Herkunftsländer besteht darin, das Kapital und die im Ausland erworbenen technischen und unternehmerischen Qualifikationen der ehemaligen Staatsbürger für die Entwicklung des Heimatlandes zu nutzen. Zu diesem Zweck wird die ethnische Heimatbindung politisch und gesetzlich gefördert. Durch patriotische Appelle an nationale Gefühle und an die kulturelle Identität werden die Emigranten an ihre dualen kulturellen und nationalen Loyalitäten erinnert und als willkommene Fachleute und Investoren angeworben. Diese Politik zielt aktiv auf die Umkehrung des „Brain Drain“ (to reverse the brain drain). Sie geht damit weit über die traditionelle Form der individuellen Geldüberweisungen (remittances) zur finanziellen Unterstützung der zurückgebliebenen Familien hinaus. Indien konnte aufgrund einer solchen Politik die Entstehung einer transnationalen „business class“ von Auslandsindern erreichen (derzeit weltweit etwa 10 Mio., davon 650.000 in den USA), die von 1984 bis 1988 insgesamt ein Kapital in Höhe von 240 Mio. US-Dollar in Indien investierten (vgl. Johanna Lessinger, 1992, 53-57, 65-67, 71-72).

d) Soziale und rassische Diskriminierungen und Segregationen der Immigranten im Aufnahmeland

Die sozialen und rassischen Diskriminierungen und Segregationen der Immigranten, die nicht der weißen Rasse und protestantischen Religion angehören, durch die dominante Mehrheitsgesellschaft der USA schaffen strukturelle Bedingungen für die Entstehung transnationaler Einstellungen und Lebensweisen bei den Immigranten. Dies ist sowohl bei denen der Fall, die aufgrund ihrer niedrigen sozialen Herkunft besondere Schwierigkeiten bei der Integration in die Aufnahmegesellschaft der USA haben, als auch bei denen, die sich aufgrund ihrer höheren Bildung und ihres ansehnlichen Kapitals relativ schnell an die Standards der materiellen Kultur der amerikanischen Gesellschaft anpassen können. So ist zu beobachten, dass die Arbeiterklasse der portugiesischen Bevölkerung in der Stadt „New Bedford“/USA (größte portugiesische Kolonie), intensivere transnationale familiale Netzwerke zum Mutterland Portugal entwickelt und aufrechterhält als die aufstiegsorientierten Portugiesen, die sich schneller in die amerikanische Gesellschaft assimilieren. Die Arbeiterklasse konstruiert dadurch eine erdachte politische Gemeinde (imagined political community), die an die Vorstellung der erfolgreichen luzitanischen Rasse der Vergangenheit und deren Überseebesitzungen anknüpft (vgl. Bela Feldman-Bianco, 1992, 170).

Die reichen Hongkong-Chinesen, die seit den 1970er Jahren ihr Kapital in dem „The San Francisco Bay Area“/USA investieren, um an der globalen Wirtschaft (global economy) der USA teilzunehmen, stellen ein weiteres Beispiel dar. Allein im Jahr 1990 sind ca. 9.000 von ihnen in die USA eingewandert. In „The San Francisco Bay Area“ angekommen wurden sie jedoch von den „upper class“-Amerikanern nicht angenommen, obwohl sie aufgrund ihres Reichtums mühelos den Anforderungen der „upper class“ entsprechen konnten. Diese bestanden in den Statussymbolen (z.B. Haus im Villenviertel, Luxusautos, Konsum von Luxusgütern), die in den Medien und in der populären Kultur der USA als „the american way of life“ der „upper class“ als selbstverständlich vermittelt wurden. Für die weiße Oberschicht der USA sind die reichen Hongkong-Chinesen dennoch nur Weltbürger zweiter Klasse (a second class world citizens). Eine der möglichen Erklärungen für diese soziale Ausgrenzung ist das historisch entstandene Bild der Chinesen in den USA. Die armen chinesischen Immigranten, die aus der Arbeiterklasse stammten und keine Ausbildung mitbrachten, hatten in den USA überwiegend als Lastenträger (coolies) beim Bau von Eisenbahnstrecken, in Minenbergwerken oder als Hilfsarbeiter in Wäschereien und Restaurants gearbeitet. Dieses Bild der Chinesen prägt nach wie vor die kollektive Erinnerung (collectiv memory) der Amerikaner, insbesondere in höheren sozialen Schichten. Vor diesem Hintergrund wird den reichen chinesischen Investoren und Unternehmern aus Hongkong „the cultural citizenship“ der USA vorenthalten. Diese setzt über den materiellen Reichtum hinaus kulturelle Kompetenzen (cultural competence) voraus, die nur durch langjährige Investitionen in die Bildung von „symbolic capital“ anzueignen sind. Der enttäuschte Rückzug in ihre exklusiven und transnationalen sozialen Netzwerke und Klubs ist damit die logische Konsequenz (vgl. Aihwa Ong, 1992, 132-140).

e) Entwicklungen der Informations-, Kommunikations- und Transporttechnologien

Die rasanten Entwicklungen der modernen Informations-, Kommunikations- und Transporttechnologien haben weltweit die Mobilität, Kontaktmöglichkeiten und die Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches von Menschen in einem ungeahnten Ausmaß erleichtert und vergrößert. Sie tragen zur Entstehung von transnationalen sozialen Netzwerken bei, weil Menschen schnell und relativ unabhängig von der geographischen Entfernung notwendige Informationen und nützliche Erfahrungen miteinander austauschen und sich nach Bedarf kostengünstig und mit geringem zeitlichen Aufwand hin und her bewegen können. Der Eindruck, dass sich die Welt zu einem „globalen Dorf“ (global village) entwickelt (vgl. Arjun Appadurai, 1990, 2), ist nicht von der Hand zu weisen. Für die Migranten wächst damit die Einsicht, dass eine völlige Inkorporation in die Residenzgesellschaft für sie weder möglich noch wünschenswert ist (vgl. Nina Glick-Schiller, Linda Basch, Cristina Blanc-Szanton, 1997, 126). In diesem globalen Kontext nehmen die transnationalen ökonomischen, politischen und kulturellen Netzwerke zwischen der Herkunfts- und Residenzgesellschaft der Migranten zu. Das Leben der Migranten hat damit über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus multilokale Bezugspunkte, zwischen denen sie sich hin und her bewegen (vgl. Rosina Wiltshire, 1992, 176).

Bei der differenzierten Analyse des Phänomens der Transmigranten und des Transnationalismus, dessen Existenz durch das Zusammenspiel der genannten strukturellen Bedingungsfaktoren begründet wird, wird eine Vielzahl neuer Begriffe gebraucht, die die einzelnen Teilaspekte des Phänomens erklären. Zum zusammenfassenden Überblick der erkenntnisleitenden Interessen der neuen Forschungsrichtung wird im Folgenden die Zuordnung dieser Begriffe in einer Systematik (siehe die folgende Übersicht 5) versucht, die hier aufgrund der subjektiven Bewertung vorliegender Publikationen vorgenommen wird und daher nur vorläufigen Charakter hat.

Die Migration in der modernen Gesellschaft, insbesondere die Arbeitsmigration, ist unter anderem eine Funktion der Mobilität des Kapitals. Wo Kapital investiert wird, dort entsteht in der Regel Nachfrage nach Arbeitskräften. Diese Nachfrage spiegelt die gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbeziehungen wider, die durch die jeweiligen Machtverhältnisse zwischen dem Kapital und der Arbeitskraft bestimmt werden (vgl. Carolle Charles, 1992, 102; Palmira N. Rios, 1992, 226). Die Globalisierung der Wirtschaft bedeutet, dass der Transfer von Kapital, Waren, Technologien, technischem und unternehmerischem Wissen sowie qualifizierten und unqualifizierten Arbeitskräften relativ unabhängig von den nationalstaatlichen Grenzen stattfindet. Dieser Transfer erfolgt dabei flexibel nach der sich schnell verändernden Nachfrage und den Erfordernissen des Marktes. Die Globalisierung verändert damit zwangsläufig den Typus der Migranten und die Formen der Migration, weil sich diese den veränderten Formen der Wirtschaft anpassen müssen. Transnationale Migration und Transmigranten entstehen daher, wie in der folgenden Übersicht 5 zu sehen ist, durch die Globalisierung der Wirtschaft. Indem jedoch die Transmigranten gezwungen werden, insbesondere bedingt durch die global veränderte und kurzfristig angelegte Nachfrage nach Arbeitskräften, sich ständig zwischen ihrer Herkunfts- und Residenzgesellschaft hin und her zu bewegen, spielt sich ihr Leben zunehmend in einem transnationalen sozialen Raum (transnational social space) ab, der nicht an die nationalstaatlichen Grenzen gebunden ist (vgl. Luin Goldring, 1992, 179).


Der Begriff des transnationalen sozialen Raumes ist dabei als der vom geographischen Territorium unabhängige und über die nationalstaatlichen Grenzen hinausreichende Lebenskontext der Transmigranten zu verstehen, innerhalb dessen alle Aktivitäten stattfinden, die bei der Bewältigung des Alltagslebens individuell und kollektiv zu unternehmen sind (vgl. Luin Goldring, 1992, 179). Der transnationale soziale Raum in diesem umfassenden begrifflichen Sinn bleibt diffus und inhaltlich nicht konkret. Er kann nicht a priori vorausgesetzt, sondern erst im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Aktivitäten, die die Transmigranten in ihrem konkreten Alltag unternehmen, a posteriori erdacht bzw. vorgestellt („imagined“ im Sinne von Benedict Anderson) werden. Er ist somit als ein vorgestellter Gesamtrahmen für eine Reihe von konkreten Aktivitäten der Transmigranten zu verstehen. Die Zusammenfassung dieser Aktivitäten unter der Rubrik „transnational social space“ in der Übersicht 5 ist ein Versuch, die diesbezüglich in der Literatur angewandten Begriffe in einer Systematik aufzulisten. Die Reihenfolge der Nennungen der einzelnen Begriffe gibt dabei die theoretisch denkbare zeitliche Abfolge wieder, in der die Transmigranten ihre Aktivitäten sukzessiv entwickeln und ausbauen.

 

Die Entstehung eines transnationalen sozialen Raumes beginnt mit der Bildung von transnationalen Familien, die bestrebt sind, die Verbindung zu ihren emigrierten Familienangehörigen aufrecht zu erhalten. Sie sind Ausgangspunkt und Basis für die transnationalen sozialen Netzwerke. In dem Ausmaß jedoch, in dem solche transnationalen Netzwerke nach den Kriterien der gemeinsamen ethnischen Wertvorstellungen, Lebenspraktiken, Geschichte usw. ausgebaut werden, entstehen grenzüberschreitende ethnische Gemeindebildungen (transnational communities), in denen die Transmigranten ihre sozialen Positions- und Statusanprüche einbringen und zu behaupten versuchen. Die „transnationational community“ stellt dabei eine (konkretere) Form der Vergesellschaftung innerhalb des diffusen transnationalen sozialen Raumes dar, die nicht durch nationalstaatliche Grenzen eingeschränkt bleibt (vgl. Luin Goldring, 1997, 181). Der Begriff „transnational community“ kann daher nicht durch den Begriff „transnational social space“ ausgetauscht bzw. ersetzt werden, obwohl dies in einigen Publikationen vorgeschlagen wird (vgl. Ludger Pries, 1996, 466).

Transmigranten werden definiert als Migranten, die die transnationalen sozialen Felder (transnational social fields) erschließen, die ihre Herkunfts- und Residenzgesellschaften verbinden. Sie unterhalten durch diese Felder mehrfache Beziehungen (multiple relations) familialer, sozialer, wirtschaftlicher, politischer, religiöser und kultureller Art, die die nationalstaatlichen Grenzen überspannen (vgl. Nina Glick-Schiller, Linda Basch, Cristina Blanc-Szanton, 1992, 1, 4). Obwohl der inhaltliche Unterschied zwischen den beiden Begriffen „transnational community“ und „transnational social field“ nicht eindeutig ist, sprechen viele Anzeichen dafür, dass der Begriff „transnational social field“ im engeren und konkreteren Sinn zu verstehen ist als der Begriff „transnational community“. Mit anderen Worten können innerhalb einer transnationalen Gemeinde mehrere transnationale Felder (z.B. kulturelle, religiöse, wirtschaftliche, politische, persönlich-familiale) entstehen (vgl. Lloyd L. Wong, 1997, 333, 346) und auf jedem einzelnen sozialen Feld entsprechende spezifische transnationale soziale Organisationen (transnational social organizations) gebildet werden, deren Aktivitäten mehrere Gesellschaften überspannen (vgl. Luin Goldring, 1997, 181). Die transnationalen sozialen Netzwerke, die anfänglich durch die individuellen Initiativen aufgebaut werden, können auf der Gruppenebene der transnationalen Organisationen, die sich in fortgeschrittenen Entwicklungsphasen der transnationalen Gemeinde in den einzelnen transnationalen Feldern (z.B. Wirtschaft, Politik, Kultur) bilden, effektiver ausgebaut und intensiviert werden.

Auf allen Ebenen der sozialen Einheiten (transnationale Familie, Gemeinde, Felder und Organisationen), findet transnationales Leben (transnational life) der Migranten statt (vgl. Robert Smith, 1997, 198). So können traditionelle religiöse Feste des Heimatlandes in der transnationalen Gemeinde als fester Bestandteil des transnationalen Lebens weiter gefeiert werden. Inhalte und Gestaltungsformen mögen zwar von ihrem Ursprungssinn abgerückt und modifiziert worden sein, sie dienen dennoch der Stärkung der Beziehungen zwischen der Herkunfts- und Residenzgesellschaft und der kollektiven Erinnerung an die ethnisch-kulturelle Identität.

Eine der Konsequenzen des transnationalen Lebens besteht in der dualen kulturellen Identität und Loyalität (vgl. Johanna Lessinger, 1992, 77-78). Die Transmigranten sind einerseits bemüht, ihre ethnisch-kulturelle Identität durch ihr transnationales Leben (z.B. religiöse Feste und Volksfeste) symbolisch zu reproduzieren (vgl. Bela Feldman-Bianco, 1992, 157-159), sie sind andererseits in ihre Residenzgesellschaft so integriert, dass sie auch eine auf der Residenzgesellschaft basierende kulturelle Identität entwickeln. Sie haben aufgrund ihrer gleichzeitigen plurilokalen sozialen Positionierung in beiden Gesellschaften „variierende und mehrfache Identitäten“ (varying and multiple identities), die persönliche Spannungen zwischen Anpassung und Widerstand auslösen können (vgl. Nina Glick-Schiller, Linda Basch, Cristina Blanc-Szanton, 1992, 4). Eine andere Konsequenz besteht in der Transformation der Denkweisen der Transmigranten von ihrer nationalstaatlichen Orientierung zum Transnationalismus. Dies bedeutet, dass sie auf den unterschiedlichen transnationalen sozialen Feldern gleichzeitig und kontinuierlich sowohl in das Geschehen ihrer Herkunfts- als auch in das ihrer Residenzgesellschaft involviert bleiben. Dieses gleichzeitige (simultaneously) Einbezogensein bzw. Involviertsein in das Geschehen von zwei Gesellschaften ist kennzeichnend für den Transnationalismus (vgl. Nina Glick-Schiller, Linda Basch, Cristina Blanc-Szanton, 1992, IX; 4).

Alle Aktivitäten der Transmigranten entspringen im Grunde den allgemeinen Anpassungsbemühungen an die sich globalisierende und ent-territorialisierende Welt (a globalized and deterritorialized world), deren Ursprung auf die Globalisierung der Wirtschaft zurückgeht und deren Fortentwicklung durch den rasanten technischen Fortschritt im Bereich von Information, Kommunikation und Transport begünstigt und beschleunigt wird (vgl. Nina Glick-Schiller, Linda Basch, Cristina Blanc-Szanton, 1997, 123). Dieser Prozess der Globalisierung lockert schrittweise die Bindungen der Menschen an territorial und räumlich gebundene Gruppen mit homogener Kultur. An deren Stelle tritt nach und nach die globale Kultur. Vor dem Hintergrund dieser globalen Entwicklung stellt die Konstruktion des ent-territorialisierten Nationalstaates (a deterritorialized nationstate) den Ausdruck politischer Bemühungen einzelner Staaten dar, ihre im Ausland lebenden ehemaligen Staatsbürger in die Nationenbildung voll zu integrieren.

Die nähere Betrachtung der konzeptionellen Einzelaspekte der neuen Migrationsforschung in den USA, die bisher dargestellt wurden, lässt folgende abschließende Anmerkungen zu. Bei der neuen Migrationsforschung ist der analytische Bezugsrahmen auffallend, der mehr die vielschichtigen kulturellen, wirtschaftlichen, politischen Verbindungen (links) zwischen den Sende- und Empfängerländern, die die Transmigranten herstellen, in den Mittelpunkt der Analyse stellt. Dies ist insofern neu, als die Forschung bisher die Migration überwiegend aus dem Blickwinkel der Empfängerländer thematisiert hat, obwohl die Migranten schon immer Beziehungen zu ihrem Herkunftsland gepflegt haben. Die Begriffe der neuen Migrationsforschung sind dennoch die gleichen geblieben wie die der traditionellen Migrationsforschung. Sie setzt lediglich jedem Begriff das Adjektiv „transnational“ vor. Dies wird besonders bei dem Begriff der „dualen kulturellen und nationalen Identität“ deutlich, der bereits in den 1920er Jahren von Robert E. Park und Everett V. Stonequist thematisiert worden ist (siehe S. 239).

Die wissenschaftliche Konstruktion des „transnationalen sozialen Raumes“ und der „Ent-Territorialisierung“ (deterritorialization) des Nationalstaates sowie der Nation ist bei der Forschung zur transnationalen Migration ebenfalls neu. Ihre Bedeutung wird vor dem Hintergrund der Diskussionen über die schleichende Auflösung der politischen Konstruktion des territorial gebundenen Nationalstaates mit homogener Kultur und über die Entstehung der globalen Massenkultur empirisch zu überprüfen sein.