Soziologie der Migration

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1.4.3 Migrationstheorie von Milton M. Gordon

Ausgangspunkt der Assimilationstheorie von Milton M. Gordon sind die Probleme der Vorurteile und Diskriminierungen, denen Einzelne und Gruppen aufgrund ihrer Rassen- und Religionszugehörigkeit sowie nationalen Herkunft ausgesetzt sind (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 3, 233). Der Bezugsrahmen dieser Theorie ist die amerikanische Gesellschaft mit ihren eingewanderten ethnischen Minderheiten. Dabei geht es Gordon um die Strukturen des Gruppenlebens (structure of group life) der Menschen in „subsocieties“ und die interethnischen Gruppenbeziehungen im sozialen und kulturellen Kontext der amerikanischen Gesellschaft. Der Gruppenkontext stellt für ihn den soziokulturellen Rahmen dar, in dem die Einzelnen mit ihren psychosozialen Verfassungen eingebettet sind (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 233, 18).

Ausgehend von der Vorstellung, dass der Mensch sich als Angehöriger eines Volkes (peoplehood) bzw. einer ethnischen Gruppe versteht, durch Rasse, Religion und Nationalität definiert (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 24, 27-29), hebt Gordon hervor, dass die amerikanische Gesellschaft aus einer Vielzahl von „ethnic subsocieties“ zusammengesetzt ist, die jeweils ihre eigenen sozialen Strukturen und Subkulturen sowie ethnische Identität besitzen (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 37-39). Die ethnischen Gruppen sind dabei als soziale Statusgruppen (social status group) in einem hierarchischen Gefüge der sozialen Klasse (social class) eingefügt. Soziale Klasse als hierarchische Zuordnung von Menschen nach ihrer ökonomischen, politischen und statusmäßigen Macht bestimmt somit die Gruppenidentität ethnischer Gruppen mit (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 40-41, 46).

Im Zusammenhang mit der Entstehung sozialer Klassen und ethnischer Gruppen führt Gordon den Begriff „ethclass“ ein, um die Folgen ethnischer Differenzierungen in der amerikanischen Gesellschaft aufzuzeigen. Die „ethclass“ entsteht im Schnittpunkt der horizontalen Differenzierung nach Ethnien und der vertikalen Differenzierung nach Klassenzugehörigkeit. Dabei nimmt er an, dass Menschen gleicher sozialer Klassen sich ähnlich verhalten und miteinander mehr oder minder ähnliche Wertvorstellungen teilen, so dass die Klassenzugehörigkeit für die kulturellen Verhaltensweisen wichtig wird. Dagegen hält er die ethnische Zugehörigkeit für die sozialen Beteiligungen (social participation) für bedeutsam, da die Einwanderer ihre sozialen Beziehungen und Kontakte zunächst auf den Primärgruppenbereich ihrer ethnischen Gruppe beschränken (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 51-52). Hiernach werden Menschen gleicher Klassenzugehörigkeit und unterschiedlicher ethnischer Herkunft in ihren Verhaltensweisen ähnlich sein, jedoch kein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Volk (peoplehood) empfinden. Umgekehrt werden Menschen gleicher ethnischer Zugehörigkeit und unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit zwar ein ethnisches Zugehörigkeitsgefühl haben, jedoch keine klassenbezogenen Verhaltensweisen zeigen.

Ausgehend von dem Begriff „core group“ von August B. Hollingshead und von den Begriffen „core society“ und „core culture“ von Joshua Fishman glaubt auch Milton M. Gordon an die Existenz der „core society“ und „core culture“ der amerikanischen Gesellschaft, die die dominante Mehrheit der weißen Einwanderer aus nordeuropäischen Ländern mit überwiegend angelsächsischer Herkunft und protestantischer Religionszugehörigkeit bilden. Die anderen ethnischen Einwanderergruppen sind angehalten, sich an diese „core culture“ und „core society“ der dominanten Mehrheit anzupassen (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 72). Die Fragen, ob diese Anpassung der Einwanderer, die nicht angelsächsischer Herkunft und protestantischer Religionszugehörigkeit sind, bei der jeweiligen „ethclass“ beendet, oder ob diese bis in die „core society“ und „core culture“ hinein fortgesetzt wird, ob ihre Anpassung überhaupt so weit geht, dass die ethnischen Vorurteile und Diskriminierungen, die die dominante Mehrheit gegen sie hat, generell ausgeschlossen werden können, machen die einzelnen Aspekte bzw. Variablen dieser Assimilationstheorie aus (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 75).

Gordon benutzt den Begriff Assimilation, um den gesamten Anpassungsprozess, den die Einwanderer in der amerikanischen Gesellschaft durchlaufen, modellhaft zusammenzufassen und theoretisch zu generalisieren. Nach seiner Auffassung sind bei dem Assimilationsprozess sieben Teilprozesse zu unterscheiden, die jeweils als einzelne Phasen des Assimilationsvorganges (particular stage of the assimilation process) zu verstehen sind (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 70). Dabei hebt er die Unterscheidung zwischen der kulturellen und strukturellen Assimilation als für seine Theorie besonders wichtig hervor (vgl. Milton M. Gordon, 1975, 84).

Der Assimilationsprozeß beginnt mit der kulturellen Assimilation (cultural assimilation), wie Milton M. Gordon am Beispiel der amerikanischen Einwanderungsgeschichte aufzeigt. Alle Einwanderer haben, unabhängig von ihrer Herkunft und unabhängig davon, ob sie Vorurteilen und Diskriminierungen ausgesetzt sind oder nicht, damit beginnen müssen, sich Sprache und Verhaltensweisen anzueignen. Kulturelle Assimilation bildet immer den Anfang eines Assimilationsprozesses und tritt auch dann ein, wenn andere Teilprozesse, aus welchen Gründen auch immer, nicht stattfinden können (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 77; 1975, 84).

Damit macht Gordon im Gegensatz zu den allgemeinen Annahmen der Phasen- und Zyklenmodellen zur Assimilation deutlich, dass der Prozess der Assimilation keineswegs ein mechanischer und unumkehrbar sich fortsetzender Prozess ist. Er ist eher der Auffassung, dass die erfolgreiche Akkulturation der Einwanderer oft weder ihren Zugang zur „core society“ der weißen protestantischen Bevölkerung Amerikas noch die Abschaffung von Vorurteilen und Diskriminierungen gegenüber deprivierten Minderheiten bewirkt hat. Die räumliche Isolation und soziale Deprivation im Bereich von Berufs- und Bildungsstrukturen haben viele Einwandererminderheiten in ihrer untersten Klassenzugehörigkeit verfestigt (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 78).

Die strukturelle Assimilation bildet den zweiten Teilprozess und besteht darin, dass Einwanderer nach und nach in die strukturellen Bereiche der Aufnahmegesellschaft eindringen und zunehmend am Leben sozialer Cliquen, Organisationen und Institutionen partizipieren. Gordon weist besonders darauf hin, dass die kulturelle Assimilation nicht notwendigerweise zur strukturellen Assimilation führen muss, dass aber umgekehrt die strukturelle Assimilation unvermeidbar (inevitably) zur Akkulturation bzw. kulturellen Assimilation und damit zu weiteren Phasen der Assimilation führt (vgl. Milton M. Gordon, 1975, 84). Die strukturelle Assimilation bildet damit die grundlegende Voraussetzung für den gesamten Assimilationsprozesses: „it need hardly be pointed out that while acculturation, as we have emphasized above, does not necessarily lead to structural assimilation, structural assimilation inevitably produces acculturation. Structural assimilation, then, rather than acculturation, is seen to be the keystone of the arch of assimilation“ (Milton M. Gordon, 1964, 81). Die Begriffe Akkulturation und kulturelle Assimilation sind Synonyme bei Gordon: „cultural assimilation, or acculturation, is likely to be the first of the types of assimilation to occur when a minority group arrive on the scene“ (Milton M. Gordon, 1964, 77).


Dem Teilprozess der strukturellen Assimilation schließt sich der Teilprozess der „marital assimilation“ an, in dem die Assimilation auf der Basis der interethnischen Heirat von Einwanderern mit Angehörigen der „core society“ stattfindet. Die dabei stattfindende biologische Angleichung bezeichnet Gordon als Prozess der Amalgamierung. Mit dieser biologischen Vereinigung geht, so die Auffassung von Gordon, die spezifisch ethnische Identität verloren, so dass die identifikative Assimilation als nächster Teilprozess eintritt. Mit ihrem Eintreten soll die Voraussetzung zum Abbau von Vorurteilen und Diskriminierungen geschaffen sein. Nach der identifikativen Assimilation treten die restlichen Phasen des Assimilationsprozesses sukzessiv, relativ problemlos und zügig ein, so dass Wertkonflikte weitgehend ausgeschlossen sind (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 80-81).

1.4.4 Migrationstheorie von Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny

Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny versteht seine Migrationstheorie als Anwendung der „Theorie struktureller und anomischer Spannungen“ von Peter Heinz auf das Phänomen der Migration. Der Ausgangspunkt seiner Analyse der Migration ist die Existenz „struktureller und anomischer Spannungen“ im Rahmen sozietaler Systeme bzw. Kontexte. Die Theorie struktureller und anomischer Spannungen geht unter anderem von den Postulaten aus, dass Macht und Prestige als die zentralen Dimensionen sozietaler Systeme differentiell zugänglich, ungleich und ungleichgewichtig verteilt sind, und dass in sozietalen Systemen ein Konsens über die zentralen Werte sowie eine Tendenz zur Angleichung von Macht an Prestige besteht (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1970, 35). Macht wird dabei als „der Grad, zu dem ein Anspruch des Akteurs auf Teilhabe an zentralen sozialen Werten durchgesetzt werden kann“ definiert, während Prestige als „der Grad, zu dem der Anspruch von Akteuren auf Teilhabe an zentralen sozialen Werten oder ihr Besitz als legitim angesehen wird“, definiert wird. Prestige hat die Funktion, Machtansprüche und -besitz zu legitimieren (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1970, 26, 29).

Strukturelle Spannungen im sozietalen System, Hoffmann-Nowotny verwendet anstelle des Begriffes „soziales System“ den Begriff „sozietales System“, treten durch Ungleichheit von Macht und Prestige auf. Die sozietalen Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass auf den unteren Positionen - gemessen am Prestige - tendenziell ein Machtdefizit und auf den oberen Positionen tendenziell ein Machtüberschuss zu verzeichnen ist. Strukturelle Spannungen können in drei unterschiedlichen Spannungstypen auftreten: In Ungleichgewichtsspannung (wenn die Balance in der Einheit der Macht-Prestige-Relation beim einzelnen Akteur so gestört wird, dass Machtüberschuss bzw. Machtdefizit die Folge ist, d.h. „soziale Spannung“ eintritt), in Rangspannung (ungleiche Teilhabe an einem zentralen machtrepräsentierenden Wert) und in Unvollständigkeitsspannung (wenn eine der beiden Dimensionen von Macht und Prestige nicht besetzt wird). Strukturelle Spannungen sind zentrale Determinanten des Wandels sozietaler Systeme. Anomische Spannungen treten als Konsequenz struktureller Spannungen mit dem Ziel auf, die Letzteren abzubauen bzw. auszugleichen (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1970, 31-33, 36).

 

Wie Robert K. Merton verschiedene Lösungsmöglichkeiten des anomischen Devianzdrucks aufzeigt, gibt auch Hoffmann-Nowotny verschiedene Varianten anomischen Verhaltens vor, die zum Ausgleich von Macht und Prestige führen können. Eine dieser Varianten ist die Veränderung der Position auf den gegebenen Macht- und Prestigelinien, die er mit dem Begriff „Mobilität“ umschreibt. Erfährt ein Mitglied eines Systems anomische Spannung, kann es versuchen, diese durch einen lokalen Wechsel zu einem anderen sozietalen System (Emigration), dessen strukturelle Spannung geringer ist als die des Herkunftssystems, auszugleichen (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1970, 37). Migration ist eine Form dieser Mobilität, die der Migrant als Instrument zur Veränderung seiner Position auf Statuslinien einsetzt, um die strukturellen Spannungen, denen er in einem sozietalen System ausgesetzt ist, auszugleichen bzw. abzubauen (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1970, 98).

Auf individueller Ebene ist die Migration ein rationaler Entscheidungsprozess in kleinen Schritten, in dessen Verlauf der Einzelne seine bisherige Mitgliedschaft zu einem spannungsreichen Kontext aufgibt und eine andere in einem spannungsärmeren Kontext anstrebt. Dieser Entscheidungsprozess zielt damit auf die dauerhafte Veränderung des Aufenthaltsortes, die durch geographische Mobilität erreicht wird. Die Migration ist damit eine Form der geographischen Mobilität, die der Migrant als geeignete Möglichkeit für die Lösung seiner strukturellen Spannungen in Betracht zieht. Der Einzelne strebt dabei nach einer positiven Veränderung seiner Position auf den Statuslinien. Die Migration als geographische Mobilität soll damit eine vertikale Aufwärtsmobilität des Einzelnen in einem neuen sozietalen Kontext herbeiführen, um hier den Begriff von Hoffmann-Notwotny zu gebrauchen, (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1970, 95-119). Somit werden die strukturellen Spannungen des Herkunftsortes, ähnlich wie bei Shmuel N. Eisenstadt, zu den entscheidenden strukturellen Determinanten der Migration.

Mit dieser Migrationstheorie verfolgt Hoffmann-Nowotny, wie er selbst konstatiert, die Intention, das Phänomen der Migration im Rahmen einer umfassenden soziologischen Theorie einzuordnen und es nicht länger als singuläre Erscheinung zu erklären (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1970, 82, 143). Seine eher individualistisch angelegten Definitionen von Macht und Prestige als zentralen Determinanten und Konzepten sozietaler Systeme scheinen jedoch dieser Intention zu widersprechen (vgl. Bernhard Nauck, 1988, 19).

Hoffmann-Nowotny baut in einem Aufsatz mit dem Titel „World Society and the Future of International Migration: A Theoretical Perspective“ (1997) seine von der strukturellen und anomischen Spannung ausgehende migrationssoziologische Theorie zu einer makrosoziologischen Theorie der Weltgesellschaft (world society) aus. Dabei betont er, dass er die Gegensätze zwischen dem mikro- (z.B. Migration als individuelle Entscheidung) und makrosoziologischen Forschungsparadigma des Migrationsphänomens (z.B. Migration als Folge kultureller und struktureller Bedingungen) überwinden will, indem er die beiden Forschungsansätze als komplementär behandelt. Für seine Theorie ist die Unterscheidung der Fragen wesentlich, unter welchen soziostrukturellen und soziokulturellen Bedingungen der Mensch sesshaft oder mobil wird, weniger die grundsätzliche Diskussion darüber, ob der Mensch von Natur aus eher sesshaft oder eher mobil ist (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1997, 96-98).

Der Ausgangspunkt seiner erweiterten makrosoziologischen Migrationstheorie ist die Feststellung, dass die Welt im Zuge des Globalisierungsprozesses zu „einer Welt“ (one world) bzw. zu „einer Weltgesellschaft“ (a world society) zusammenwächst. Eine der Folgen dieser Entwicklung sowie der anhaltenden Bevölkerungsexplosion ist das kontinuierlich wachsende internationale Migrationspotential. Die Frage, ob dieses Potential tatsächlich Migrationsbewegungen auslösen wird oder nicht, hängt nach seiner Auffassung weitgehend von den strukturellen und kulturellen Bedingungen (structural and cultural characteristics of world society) der neu entstehenden Weltgesellschaft ab. Dabei ist er der Überzeugung, dass das internationale Migrationspotential letztendlich von zwei zentralen Charaktermerkmalen der Weltgesellschaft bestimmt sein wird. Diese sind zum einen die entwicklungsmäßigen Disparitäten (developmental disparities) zwischen den nationalen Einheiten innerhalb der Weltgesellschaft auf der strukturellen Ebene und zum anderen die wertmäßige Integration (value integration) der Gesellschaften auf der kulturellen Ebene, die die soziale Mobilität auslöst und legitimiert (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1997, 103).

Die entwicklungsmäßigen Disparitäten in der Weltgesellschaft sind ein Ausdruck der sozialen Ungleichheit, die für die Entstehung sozialer Stratifikationen ursächlich ist. Diese Disparitäten sind als quantifizierbare strukturelle Distanzen (structural distaces) zwischen den Nationen anzusehen, die jeweils an ökonomischen, sozialen und demographischen Indikatoren gemessen werden können. Damit bleibt die Weltgesellschaft prinzipiell für die soziale Mobilität (z.B. Auf- und Abstieg) offen, die oft auch mit der geographischen Mobilität (z.B. Emigration) verbunden sein kann. Die Konzeption einer Weltgesellschaft setzt an sich die gemeinsame Teilhabe aller Menschen an Wohlstand, Wohlfahrt, Mobilität und sozialer Gerechtigkeit als erstrebenswerte Ziele voraus. Die grenzüberschreitende Migration ist ein Mittel für die aufstiegsorientierte soziale Mobilität (upward social mobility), die diese Teilhabe ermöglichen soll. Damit die entwicklungsmäßigen Disparitäten tatsächlich internationale Migrationen auslösen können, muss jedoch auf der kulturellen Ebene die wertmäßige Integration (value integration) als zweite unerlässliche Bedingung hinzukommen. Dies bedeutet, dass die Homogenisierung und Diffusion der kulturellen Wertvorstellungen westlicher Prägung durch die Sozialisation (z.B. die Vermittlung der Wertvorstellungen, wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Freizügigkeit der Bewegungen von Personen, Waren, Kapital und Technolgie) erst die bewusstseinsmäßigen Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen die soziale Stratifikation und Ungleichheit tatsächlich als Hindernisse für die Chancengleichheit wahrnehmen. Die Entwicklung individueller und kollektiver Aspirationen zur Teilhabe an den kulturellen Werten der Weltgesellschaft wird erst durch diese Wertintegration möglich (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1997, 103-105).

Ausgehend von den genannten zwei zentralen Charaktermerkmalen der Weltgesellschaft, d.h. zum einen die entwicklungsmäßigen Disparitäten (strukturelle Distanzen) und zum anderen die ungleiche wertmäßige Integration (kulturelle Distanzen), die das internationale Migrationspotential bestimmen werden, kommt Hoffmann-Nowotny zu folgenden neun denkbaren Konstellationen des internationalen Migrationspotentials.

Hoffmann-Nowotny betrachtet das internationale Migrationspotential als Funktion des Wandels der strukturellen und kulturellen Distanzen zwischen den nationalen Einheiten innerhalb der Weltgesellschaft. Dabei geht er davon aus, dass die Veränderungen der kulturellen Distanzen einen wesentlich stärkeren Einfluss auf das Migrationspotential ausüben als die der strukturellen Distanzen (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1997, 111).


1.4.5 Migrationstheorie von Hartmut Esser

Entscheidend für die theoretische Position von Hartmut Esser ist seine von der kognitiven Theorie des Lernens und Handelns ausgehende Orientierung am methodischen Individualismus. Esser nimmt diese theoretische und methodische Position sehr bewusst in Anlehnung an Max Weber, Talcott Parsons und Alfred Schütz ein, wie er selbst konstatiert (vgl. Hartmut Esser, 1980, 1885-187). Alle sozialen Prozesse, Systemerfordernisse und Funktionen sind danach auf das Empfinden, interessengeleitete Handeln und Lernen von Individuen zurückzuführen (vgl. Hartmut Esser, 1980, 14). Er versucht daher unter Nutzung des „handlungstheoretisch-individualistischen Ansatzes“ theoretische Ansätze und empirische Ergebnisse der Migrationsforschungen zu interpretieren, zu ordnen und zu integrieren (vgl. Hartmut Esser, 1980, 16). Seine Aussagen zur Eingliederung und Integration der Migranten in die Aufnahmegesellschaft sind daher vor dem genannten theoretischen und methodischen Hintergrund zu verstehen.

Wie Shmuel N. Eisenstadt geht Esser auch davon aus, dass Migration die Desozialisation der Migranten (d.h. die Aufgabe der Bezugswelt, der Rollenverflechtungen und der Alltagsroutinen, wie im Kapitel 3.2 näher ausgeführt) beinhaltet, die zur Marginalität und zum Zusammenbruch der „relativ natürlichen Weltanschauung“ im Sinne von Max Scheler führt (vgl. Hartmut Esser, 1980, 107; zur „relativ natürlichen Weltanschauung“ siehe Kapitel 3.4). Die Migranten müssen daher ihre Beziehungen zum kulturellen und sozialen System ihrer Aufnahmegesellschaft insgesamt neu strukturieren und aufbauen, um dort individuelle Ziele erreichen zu können. Für diesen Prozess der Re-Sozialisierung und Re-Organisierung der Immigranten und für alle Aspekte ihrer zu entwickelnden Beziehungen zur Aufnahmegesellschaft benutzt Esser den Begriff der Eingliederung als zusammenfassenden Oberbegriff (vgl. Hartmut Esser, 1980, 14, 16-17, 19; 1981, 77, 80).

Esser analysiert die Gesamtheit der Beziehungen der Immigranten zum System der Aufnahmegesellschaft unter drei zentralen Teilaspekten der Eingliederung: Akkulturation, Integration und Assimilation. Im Folgenden sollen zunächst nur die ersten beiden Aspekte der Akkulturation und Assimilation dargestellt werden. Der Aspekt der Integration ist dem späteren Kapitel 5.2 zum Thema der Integration der Immigranten vorbehalten.

Akkulturation ist ein Prozess der Angleichung, der im kognitiven Bereich als Lernprozess stattfindet, in dessen Verlauf Personen oder Gruppen von Personen kulturelle Orientierungsmuster, Eigenschaften und Verhaltensweisen in den institutionalisierten Teilbereichen der Aufnahmegesellschaft übernehmen. Akkulturation ist dabei weder ein automatisch einsetzender noch ein in ihrer Verlaufsrichtung und ihren Ergebnissen unumkehrbar festgelegter Prozess. Eine bewusste partielle und teilidentifikative Anpassung ist denkbar und möglich (vgl. Hartmut Esser, 1980, 20).

Assimilation ist ein „Zustand der Ähnlichkeit“ in Handlungsweisen, Orientierungen und interaktiven Verflechtungen zum Aufnahmesystem. Dabei wird unterstellt, dass Kultur und Sozialsysteme nicht homogen und daher mit dem Erwerb sehr verschiedener subkultureller Eigenschaften vereinbar sind. Assimilation ist dabei der Zustand der Ähnlichkeit einer Person relativ zu den Teilbereichen der Aufnahmegesellschaft. Eine vollständige faktische Teilnahme, ist oft auch für Einheimische nicht möglich (vgl. Hartmut Esser, 1980, 22).

In Anlehnung an das Assimilationsmodell von Ronald Taft unterscheidet Esser (vgl. Hartmut Esser, 1980, 56) zwischen den absoluten (z.B. Fertigkeiten, Werte, Bräuche, Gewohnheiten) und den relationellen Eigenschaften (z.B. Interaktionen, Statuseinnahme, Rollenausübung), die die Individuen assimilativ erwerben. Danach ergeben sich vier verschiedene Assimilationsformen (vgl. Hartmut Esser, 1980, 22; 1981, 77; 1982, 282):

Bezogen auf die individuell-absoluten Eigenschaften

(1) Kognitive Assimilation in Wissen, Fertigkeiten und Mittelbeherrschung (Wissens-Dimension)

 

(2) Identifikative Assimilation in der kathektischen Hochschätzung von Elementen (Wert-Dimension)

Bezogen auf die individuell-relationellen Eigenschaften

(3) Soziale Assimilation (Interaktions-Dimension)

(4) Strukturelle Assimilation (Institutions-Dimension)

Ausgehend von den allgemeinen sozialpsychologischen Konzeptionen versteht Esser unter dem Handeln „alle motorischen und nicht-motorischen Aktivitäten (kognitiver oder evaluativer Art) einer Person, die die faktischen oder vorgestellten Beziehungen zwischen der Person und ihrer Umwelt (irgendwie) verändern.“ (vgl. Hartmut Esser, 1980, 182). Das so verstandene Handeln wird nach seiner Auffassung von einer bestimmten Handlungstendenz (Kraft) verursacht, die von den folgenden vier Variablen abhängt (vgl. Hartmut Esser, 1980, 182-185, 210):

a) Motivation (Anreizwert einer Zielsituation für den Akteur: Wertaspekt der Handlung),

b) Kognition (subjektive kognitive Erwartung, durch eine Handung die Zielsituation zu erreichen: Wissensaspekt der Handlung),

c) Attribution (generalisiertes subjektives Vertrauen des Akteurs in die Wirksamkeit des eigenen Tuns, in die Kontrollierbarkeit der Umgebung: Attribuierungsaspekt),

d) Widerstand (die vom Akteur eingeschätzten Kosten, Nebenfolgen und der Aufwand einer Handlung: Kostenaspekt der Handlung).

Diese Variablen sind die Determinanten des Handelns und die bestimmenden Elemente für die Person-Umgebung-Relation. Ein Akteur wählt in einer Ausgangssituation, unter Berücksichtigung dieser Variablen, aus allen möglichen Handlungen die Handlung aus, von der er annimmt, dass er die Zielsituation mit dem relativ höchsten Anreizwert am sichersten durch eigenes Handeln bei relativer Kostenminimierung erreichen wird. Somit bestimmen der vermutete Nettonutzen und die vermutete Wirksamkeit des eigenen Handelns die Handlungswahl. Ein Akteur setzt somit seine Handlung als Mittel für die angestrebten Ziele ein. Er wird dabei in seiner rationalen Handlungsentscheidung, im Sinne der kognitiven Theorie des Lernens und Handelns, von der „Kraft“ der Ziel-Mittel-Kosten-Kalkulation geleitet (vgl. Hartmut Esser, 1980, 194).

Unter Lernen versteht Hartmut Esser „die Ausbildung und die Veränderung bestimmter Wert-Erwartungszusammenhänge, wie sie dem Handeln zugrunde liegen.“ (vgl. Hartmut Esser, 1980, 190). Zwei Formen des Lernens werden unterschieden. Die erste Form besteht in der Selektion von Reaktionen als umweltabhängigen Assoziationsbildungen. Die zweite Form besteht in der Selektion von Bewertungen und Erwartungen auf der Grundlage aktiver Kalkulation (vgl. Hartmut Esser, 1980, 190). Mit dieser Unterscheidung der Lernformen wird deutlich gemacht, dass Lernen und Handeln nicht ausschließlich akteurbestimmt werden können. Person und Umgebung stehen im Handeln und Lernen in wechselseitiger Interaktion. Die Umgebungsvariablen, die das Handeln und Lernen bestimmen, sind (vgl. Hartmut Esser, 1980, 211-213):

a) Opportunitäten (Gelegenheiten und Bedingungen, die assimilative Handlungen erlauben und unterstützen),

b) Barrieren (Faktoren, die den assimilativen Handlungen entgegenstehen, wie die materiellen und rechtlichen Beschränkungen, sozialen Vorurteile, Askriptionen und Diskriminierungen)

c) Alternativen (Handlungsmöglichkeiten nicht assimilativer Art).

Hartmut Esser formuliert nach den dargestellten Person-Umgebung-Variablen zwei Hypothesen bezüglich der assimilativen Handlungsentscheidung der Migranten:

Hypothese 1:

„Je intensiver die Motive eines Wanderers in bezug auf eine bestimmte Zielsituation; je stärker die subjektiven Erwartungen eines Wanderers sind, dass diese Zielsituation über assimilative Handlungen und/oder assimilative Situationen erreichbar ist; je höher die Handlungsattribuierung für assimilative Handlungen ist; und je geringer der Widerstand für assimilative Handlungen ist, um so eher führt der Wanderer - ceteris paribus - assimilative Handlungen (aller Art, einschließlich Bewertungen, Wahrnehmungen und Informationssuche) aus.“ (vgl. Hartmut Esser, 1980, 211).

Hypothese 2:

„Je mehr assimilative Handlungsopportunitäten dem Wanderer im Aufnahmesystem offenstehen; je geringer die Barrieren für assimilative Handlungen im Aufnahmesystem sind; und je weniger alternative Handlungsopportunitäten nicht assimilativer Art verfügbar sind, um so eher führt der Wanderer - ceteris paribus - assimilative Handlungen aus.“ (vgl. Hartmut Esser, 1980, 211).


Die assimilativen Handlungen der Migranten haben immer auch „externe Effekte“, die andere Akteure zur Reaktionshandlung veranlassen, die die Letzteren ohne die vorherigen Assimilationshandlungen der Ersteren unterlassen hätten. Die Reaktionshandlung bedeutet umgekehrt für die Migranten eine bedeutsame Veränderung ihrer Handlungsumgebung, die sie wiederum in ihrer weiteren rationalen Handlungswahl berücksichtigen müssen. So entsteht ein Ablauf von interessengeleiteten Handlungsketten bzw. „gesellschaftlichem Zwang“, dem sich sowohl die Migranten als auch andere Akteure gegenübersehen. Strukturelle Zwänge und Prozesse werden, so meint Esser, individualistisch deutbar (vgl. Hartmut Esser, 1980, 217). Die Strukturierung eines Sozialsystems wird somit als Folge von Handlungsentscheidungen der das System bildenden Individuen aufgefasst (vgl. Hartmut Esser, 1980, 14).

Im zeitlichen Verlauf des Eingliederungsprozesses stellt die Akkulturation die Anfangsphase dar, der die Phasen der Integration und Assimilation zwar nicht zwangsläufig, aber unter bestimmten Bedingungen folgen können (vgl. Hartmut Esser, 1980, 72-80). „Die identifikative Assimilation tritt erst nach Vorliegen der anderen Assimilationstypen ein. Die kognitive Assimilation geht sowohl der sozialen wie der strukturellen Assimilation voraus. Die strukturelle Assimilation geht dann ihrerseits der sozialen Assimilation voraus.“ (Hartmut Esser, 1980, 231; 1982, 283). Die identifikative Assimilation ist damit das Endstadium des gesamten Prozesses.