Soziologie der Migration

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1.3 Migration als Selektionsprozess des Humankapitals und das Problem des „Brain Drain“

Der Vorgang der weitgehend vereinzelten Migrationsbewegungen in der modernen Welt ist in mehrerer Hinsicht ein Selektionsvorgang, der sowohl durch die aktive Rolle der Migranten selbst als auch durch die spezifischen Aufnahmekriterien der Zielländer in Gang gesetzt wird.

Unabhängig von den individuellen Migrationsmotiven ist generell zu beobachten, dass die Menschen, die sich zur Migration entschließen, überwiegend aus mittleren Alterskohorten stammen. Es sind überwiegend junge Männer und Frauen im gesunden und produktiven Alter, die Mut zum Risiko haben und von den Zielländern unter arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Gesichtspunkten bevorzugt werden. Eine der neuesten Entwicklungen bei den weltweiten Migrationsbewegungen besteht darin, dass der Anteil junger Frauen kontinuierlich steigt und fast die Hälfte aller Migranten ausmacht (vgl. IOM, 2008, 32). Vor diesem Hintergrund ist von der „Feminisierung der Migration“ (feminization of migration) die Rede (vgl. Stephen Castles, Mark J. Miller, 1993, 8; IOM/UN, 2000, 7, 49; Petrus Han, 2003, 57-60). In den Migrationsbewegungen findet somit eine geschlechts- und altersspezifische Selektion statt (vgl. W. A. V. Clark, 1986, 21; J. A. Jackson, 1986, 79). Dabei kommt die altersspezifische Selektion der Arbeitskräfte durch die Migration wirtschaftlich primär den Aufnahmeländern zugute, weil sie für diese eine Vergrößerung der produktiven Bevölkerung (Erhöhung des Produktionsfaktors der Arbeit) bedeutet, die umittelbar zur wirtschaftlichen Wertschöpfung und Vermehrung des Wohlstandes beiträgt. Dagegen bedeutet die Migration junger Menschen für die Herkunftsländer einen wirtschaftlichen Verlust, da die produktiven Arbeitskräfte verloren gehen und die ältere und konsumtive Bevölkerung zurückbleibt (vgl. Alfred Kruse, 1961, 511).

In den Migrationsbewegungen erfolgen oft weitere Selektionen der Migranten nach rassischen, ethnischen und religiösen Kriterien, die die Einwanderungspolitik der einzelnen Aufnahmeländer aufstellen. Ein Beispiel rassischer Selektion ist in der Einwanderungsgeschichte Australiens zu finden. Die überwiegend britischen Einwanderer Australiens haben bis in die 1960er Jahre hinein die Einwanderungspolitik unter rassistischem Gesichtspunkt beeinflusst. Das erste Gesetz zur Einschränkung der Einwanderung (The Immigration Restrict Act von 1901) und die damit zusammenhängende „Politik des Weißen Australiens“ (White Australia Policy) gehen auf den Einfluss der Mehrheit der Bevölkerung mit britischer Herkunft zurück. Dies führte zur rassischen Selektion der Einwanderer, so dass bis 1966 die Einwanderer aus Nordeuropa bevorzugt aufgenommen, während Einwanderer aus Südeuropa und Asien kaum zugelassen wurden (vgl. Stephen Castles, 1990, 45-46).

Ähnliche Muster der rassischen, ethnischen und religiösen Selektion der Migranten sind auch in der Einwanderungsgeschichte und -politik der USA zu finden. Von 1820 bis 1983 sind insgesamt 51,4 Mio. Menschen aus allen Teilen der Welt in die USA eingewandert. 71 % dieser Einwanderer (36,5 Mio.) waren Europäer (vgl. Luciano Mangiafico, 1988, 6). Von 1880 bis 1892 wanderten allein von Deutschland fast 1,8 Mio. Menschen in die USA aus. Bei dieser Massenemigration der Europäer markiert das Jahr 1882 insofern einen Wendepunkt, als die zahlenmäßige Dominanz der Einwanderer aus Nord- und Westeuropa (England, Irland, Deutschland, Frankreich, Holland und skandinavische Länder), die sog. „old migration“, durch die neu einsetzende zahlenmäßige Dominanz der Einwanderer aus Süd- und Osteuropa (Italien, Portugal, Polen, Griechenland, slawische Länder und Juden), die sog. „new migration“, abgelöst wurde (vgl. J. W. Vander Zanden, 1966, 29). Diese Wende sorgte in den USA für große soziale Spannungen und religiös-ethnisch begründete Unruhen, weil die Einwanderer aus Nord- und Westeuropa eine Verdrängung der überwiegend protestantischen und anglo-teutonischen Grundelemente in den USA durch überwiegend katholische und alpin-mediterrane Einflüsse befürchteten. Auf diesem Hintergrund entstanden in den USA nativistische Bewegungen (siehe S. 284-285) unter der Organisation „The American Protectiv Association“, die den Kongress zur restriktiven Einwanderungspolitik mit entsprechenden Gesetzgebungsinitiativen veranlassten (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 97). 1921 wurde die Quotenregelung (the national quota system) eingeführt, die anfänglich die Einwanderung von Nord- und Westeuropäern begünstigen sollte, jedoch unter dem Druck der öffentlichen Diskussion mehrmals novelliert werden musste (vgl. J. W. Vander Zanden, 1966, 31).

Migration stellt weiterhin in dem Sinne einen Selektionsprozess dar, in dem die Migranten streng nach den beruflichen Qualifikationen ausgewählt werden, die für die Aufnahmeländer nützlich sind. Das Einwanderungsgesetz und das Ausländerrecht einzelner Aufnahmeländer enthalten durchgehend Bestimmungen, nach denen die Einwanderung nur erlaubt wird, wenn sie für die allgemeinen wirtschaftlichen, kulturellen und öffentlichen Interessen des jeweiligen Landes nützlich ist, bzw. die Belange des Aufnahmelandes nicht beeinträchtigt. Diese positiv oder negativ formulierten Gesetze entscheiden dann im Einzelfall über die faktische Erteilung von Einreisevisa und Aufenthaltsgenehmigungen.

Im Mittelpunkt der Einwanderungspolitik der USA steht das Prinzip der weltweiten Bewegungsfreiheit aller Menschen (the principle of the free flow of people across the borders). Um dieses politische Ideal besser verwirklichen zu können, war die Einwanderungspolitik in den USA darum bemüht, die Einwanderungsgesetze durch sukzessive Novellierungen zu verbessern. 1965 wurde die im Jahre 1921 eingeführte „Quotenregelung“ (the national quota system), die zuvor über drei Jahrzehnte Rassendiskriminierungen in der Einwanderungspolitik legalisiert hatte, aufgegeben und durch die neue und liberale Gesetzgebung „The Immigration and Nationality Act“ ersetzt. Damit sollten die Diskriminierungen in der Einwanderungspolitik endgültig beseitigt werden, die in den rassisch bevorteilten nationalen Quotenzuweisungen an die Länder der westlichen Hemisphäre (Western Hemisphäre) bestanden. Nach dem Quotensystem machten die Einwanderer aus Großbritannien, Irland und Deutschland 70 % aller Einwanderungen in die USA aus (vgl. Thomas L. Bernard, 1970, 31).

Bis zum 1. März 2003 war der „Immigration and Naturalization Service“ (INS) der USA für die Erteilung von Einreisevisa zuständig. Dieser unterschied sieben verschiedene Präferenzgruppen. Der ersten Präferenzgruppe („relative preference“) wurden diejenigen zugeordnet, die amerikanische Staatsbürger als nahe oder weite Verwandte hatten. Sie wurden bei der Einwanderung in die USA vorzugsweise berücksichtigt, so dass eine nach Verwandtschaftsbeziehungen vorgenommene Selektion stattfand. Der dritten und sechsten Präferenzgruppe („occupational preference“) wurden die sog. „qualified immigrants“ bzw. „persons of exceptional ability in the sciences and arts“ zugeordnet, deren berufliche Qualifikation den Anforderungen des Arbeitskräftebedarfs der USA (berufliche Selektion) entsprach. Dabei galt für die einwanderungswilligen Fachkräfte und Wissenschaftler aller Fachrichtungen, unabhängig von ihrer Herkunft, das Prinzip: „first come, first served“ (vgl. Philip M. Boffey, 1968, 284; Hans P. Schipulle, 1973, 228, 237). So trat an die Stelle der einstigen Diskriminierung der Einwanderer nach ihrer nationalen Herkunft eine „Diskriminierung“ nach ihrer Ausbildung und beruflichen Qualifikation ein, wobei der selektive Charakter der Einwanderungspolitik unverändert bleibt (vgl. Thomas L. Bernard, 1970, 32).

Die Terroranschläge auf das „World Trade Center“ und auf das Pentagon am 11.9.2001 hat zur Aufteilung der Einwanderungsbehörde INS in zwei Behörden geführt. 1.) „Bureau of Immigration Enforcement“ für den Grenzschutz und die Grenzkontrolle, 2.) „Bureau of Immigration Services and Adjudications“ für die Einreisevisa, Einbürgerung und Asylanträge. Seit dem 1. März 2003 sind beide Behörden dem Ministerium für nationale Sicherheit (Department of Homeland Security) unterstellt (vgl. MuB, 5/2002).

Die Rekrutierung von hochqualifizierten Wissenschaftlern und Arbeitskräften aus dem Ausland gehört zu einem flexibel angewandten arbeitsmarktpolitischen Instrument der USA, das den „manpower-input“ in Schlüsselbereichen der Industrie, der Forschung und des Gesundheitsdienstes steuert. Die USA beschreiten mit ihren Selektionskriterien nach beruflicher Qualifikation keinen Sonderweg. Alle traditionellen Einwanderungsländer (z.B. Kanada, Australien, Großbritannien) betreiben eine ähnlich selektive Einwanderungspolitik. Sie gehen von der Erfahrung aus, dass die eigene wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung substanziell von der kontinuierlichen Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aller Fachrichtungen abhängt.

Die Migration von qualifizierten Arbeitskräften bedeutet für die Aufnahmeländer einen Gewinn von Humankapital, während sie für die Herkunftsländer einen Verlust von Investitionen in das „manpower-resource“ bedeutet. Die zu Beginn der 1960er Jahre einsetzende wissenschaftliche und politische Diskussion über den „Brain-Drain-Vorgang“ ist vor diesem Hintergrund zu verstehen.

Zu Beginn der 1960er Jahre stellte man zunächst in Europa und seit Mitte der 1960er Jahre auch in den Entwicklungsländern fest, dass unter den Emigranten in den USA zunehmend Fachkräfte aller Fachrichtungen (z.B. Naturwissenschaftler, Mediziner, Ingenieure, Techniker, Krankenschwestern) zu finden waren. In den betroffenen Herkunftsländern entstand die Sorge, dass der Massenexodus von hochqualifizierten Akademikern und Fachkräften ihre eigene Entwicklung und Modernisierung gefährden könnte. Statistische Zahlen begründeten diese Sorge: Von 1949 bis 1965 emigrierten allein aus Großbritannien, Deutschland und Kanada insgesamt ca. 97.000 hochqualifizierte Wissenschaftler und Fachkräfte in die USA. Zwischen 1961 und 1980 emigrierten mehr als 500.000 Wissenschaftler und Fachkräfte aus den Entwicklungsländern in die USA (vgl. Stanislav Simanovsky, 1994, 17).

 

Die Emotionen, die bei den wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen über Ausmaß und Auswirkung des Massenexodus von hochqualifizierten Arbeitskräften (migration of talents and skills) mitschwangen, kommen in dem dafür geprägten Begriff „Brain Drain“ (Abfluss der Gehirne) anschaulich zum Ausdruck, ein Begriff, der als „Elitenmigration“ ins Deutsche übersetzt wird (vgl. Hans P. Schipulle, 1973, 21, 24).

In der weltweiten Diskussion über das Problem des „Brain Drain“ sind zwei kontroverse theoretische Positionen zu finden. Die erste Position sieht im „Brain Drain“ einen Prozess der Abwanderung des Humankapitals zum großen Nachteil der Herkunftsländer. Die andere bewertet die Auswirkungen des „Brain-Drain-Vorgangs“ für die Herkunftsländer nicht negativ, sondern als entlastend, weil sie darin den sog. „overflow“-Effekt, d.h. die Abwanderung überflüssiger Arbeitskräfte sieht. “The less developed countries are not being stripped of manpower they badly need.” (vgl. George B. Baldwin, 1970, 359). Der „Drain“ (Abfluss) bedeutet in diesem Sinne keinen Verlust von Humankapital für die Herkunftsländer, sondern ein Ventil für diejenigen Arbeitskräfte, die nicht in den Produktionsprozess eingesetzt werden können und möglicherweise soziale Spannungen erzeugt hätten.

Der von der „overflow“-These hergestellte Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Abwanderung von überflüssigen Arbeitskräften scheint teils richtig und teils falsch zu sein. Er ist insofern richtig, als arbeitslose Fachkräfte und hochqualifizierte Wissenschaftler tatsächlich nach Beschäftigungsmöglichkeiten im Ausland suchen und zwecks beruflicher Umorientierung emigrieren. Auf der anderen Seite ist er falsch, weil er unterstellt, dass alle qualifizierten Arbeitskräfte, die emigrieren, Arbeitslose wären. Die Realität zeigt oft das Gegenteil. Die türkischen Arbeitsmigranten in Deutschland sind ein Beispiel dafür. 1972 arbeiteten in der Bundesrepublik Deutschland 500.000 türkische Arbeitsmigranten, von denen ca. 82 % der Männer und 21 % der Frauen in der Türkei eine reguläre Beschäftigung hatten, bevor sie in die Bundesrepublik kamen (vgl. Ali Nahit Babaoglu, 1982, 111-112).

Als weiteres Beispiel kann die Auswanderung von medizinischem Fachpersonal aus Indien in die USA genannt werden. Die Migration von Ärzten und Krankenschwestern aus Indien in die USA war in ihrem Ausmaß auffallend hoch, obwohl diese selten von Arbeitslosigkeit betroffen waren (vgl. Hans P. Schipulle, 1973, 135, 142). Sie wanderten aus, nicht weil sie arbeitslos waren, sondern weil sie nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen suchten. “In fact, brains go where brains are“ (Thomas L. Bernard, 1971, 355).

In den 1960er und 1970er Jahren waren die traditionellen Einwanderungsländer weitgehend auf die Einwanderung von Ärzten aus den Entwicklungsländern angewiesen, um den Ärztebedarf für die medizinische Versorgung ihrer Bevölkerung zu sichern. Die Ausbildungskapazität der medizinischen Hochschulen im eigenen Land war für den Bedarf nicht ausreichend (vgl. O. Gish, 1970, 398; Hans P. Schipulle, 1973, 201). Die Ärzte gehörten daher zu den Immigranten, die bevorzugt aufgenommen wurden. Die Kehrseite dieser Einwanderungspolitik waren die hohen Verlustraten an medizinischem Fachpersonal, die von 1968 bis 1971 z.B. in einigen asiatischen Ländern zu beobachten waren: In China um 93 %, in Indien um 830 % und in Südkorea um 1400 % (vgl. Hans P. Schipulle, 1973, 208). Für die USA bedeutete die Einwanderung von Ärzten einen Gewinn an Humankapital, während sie für die Herkunftsländer einen schmerzlichen „Brain Drain“ darstellten. Einige Zahlenbeispiele machen diese Gewinn- und Verlustrechnung deutlich.

1967 entsprach die Zahl der in die USA eingewanderten Ärzte aus Entwicklungsländern in etwa der der gesamten Jahreskapazität der 15 größten amerikanischen Medizinhochschulen. Im selben Jahr wurden die jährlichen Betriebskosten einer solchen Hochschule auf etwa 8 Mio. US-Dollar geschätzt. Dies bedeutete, dass die USA ohne diese eingewanderten Ärzte rein rechnerisch jährlich rund 120 Mio. US-Dollar zusätzlich nur für die Betriebskosten von 15 Medizinhochschulen hätten aufbringen müssen, wenn sie eine entsprechende Anzahl von Ärzten selbst ausgebildet hätten. 1966 wurden in den USA die Kosten der medizinischen Ausbildung eines Arztes auf etwa 82.200 US-Dollar geschätzt. Wollte man die gesamten Kosten der medizinischen Ausbildung ermitteln, so wären zu den genannten Betriebs- und Ausbildungskosten auch die Verlustkosten („earnings foregone“) am Sozialprodukt hinzu zu rechnen, die durch die Nichtbeteiligung der Auszubildenden am direkten Produktionsprozess während ihrer Ausbildungszeit entstehen (vgl. Hans P. Schipulle, 1973, 336).

Eine Gewinn- und Verlustrechnung des „Brain Drain“ kann auch am Beispiel Irans aufgezeigt werden. Die Revolution und die Gründung einer islamischen Republik im Iran (1979) haben etwa 3 Mio. Iraner, vorwiegend Studenten, Politiker und Intellektuelle, zur Emigration veranlasst. Nach der Statistik des „US Census Bureau“ lebten 1997 in den USA 165.000 Iraner im Alter von 25 Jahren, die im Iran ihre tertiäre Ausbildung abgeschlossen hatten. Geht man davon aus, dass die US-Regierung für jeden Schüler in der elementaren und sekundaren Ausbildung 7.000 US-Dollar ausgibt und das Studium an einem College in den USA im Studienjahr 1997/98 durchschnittlich 22.500 US-Dollar gekostet hat, dann bedeutet die Einwanderung von 165.000 Iranern mit Collegeausbildung für die USA, hier vorbehaltlich der Überprüfung der Gleichwertigkeit der Ausbildung und Vergleichbarkeit der Lebenshaltungskosten, eine Ersparnis in Höhe von 28,7 Mrd. US-Dollar (vgl. Akkbar E. Torbat, 2002, 276, 282-283).

Die genannten Beispiele lassen die Dimensionen des faktischen Gewinns für die USA erahnen, wenn die Einwanderung von hochqualifizierten Fachkräften aus allen Teilen der Welt andauert. Allein aus Südafrika wandern jährlich 30 bis 50 % aller Absolventen der Medizinhochschulen nach USA und Großbritannien aus, obwohl dort 2003 ca. 4.000 Stellen für Ärzte im öffentlichen Bereich unbesetzt blieben. 2003 sind aus der Republik Korea 8.800 Fachkräfte nach USA und Kanada ausgewandert (vgl. IOM, 2008, 412, 441-442). Die Problematik des „Brain Drain“ gehört keineswegs der Vergangenheit an. Seit den 1990er Jahren gewinnt die Diskussion darüber durch folgende Entwicklungen neue Aktualität:

a) Der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa, insbesondere der ehemaligen Sowjetunion, hat dazu geführt, dass der „Brain Drain“ aus Osteuropa zu einem ernstzunehmenden globalen Problem geworden ist. Von 1986 bis 1990 haben ca. 1,5 Mio. Menschen Osteuropa und die ehemalige Sowjetunion verlassen. Davon waren ungefähr 25 bis 30 % (ca. 450.000) Wissenschaftler und Ingenieure. Das Migrationspotential aus den GUS-Staaten wird jährlich auf bis zu 1,5 Mio. Menschen geschätzt, mit einem Anteil von Wissenschaftlern und Fachkräften in Höhe von 250.000. Dies bedeutet, dass diese Länder bis Ende der 1990er Jahre einen Verlust von ca. 1,5 bis 1,8 Mio. hochqualifizierten Wissenschaftlern und spezialisierten Fachkräften erlitten haben. Die Experten der UN gehen davon aus, dass für die GUS-Staaten mit jedem emigrierenden Wissenschaftler ein Humankapital im Wert von 300.000 US-Dollar bzw. insgesamt ein jährliches „manpower-resource“ im Wert von 60 bis 75 Mrd. US-Dollar verloren geht. Der Exodus von Atomphysikern ist politisch noch brisanter. Seit 1989 sind schätzungsweise 3.000-5.000 Atomphysiker bzw. Nuklearwissenschaftler aus den GUS-Staaten emigriert. Sie arbeiten überall dort, wo sie gebraucht werden, so z.B. in Algerien, Indien, Irak, Iran, Israel, Süd- und Nordkorea, Lybien. (vgl. Stanislav Simanovsky, 1994, 18-20).

b) Seit den 1990er Jahren entsteht in den USA eine große Nachfrage nach jungen Wissenschaftlern. Viele Universitätsprofessoren, die in den Boomjahren des Hochschulausbaus von 1950 bis 1960 nach USA angeworben wurden, sind bereits im Ruhestand oder werden in den nächsten Jahren das Pensionsalter erreichen. 1994 betrug die Zahl der Professoren im Alter um 50 Jahre, mit deren Emiritierung derzeit zu rechnen ist, 485.000. Die vakant werdenden Stellen an den Universitäten müssen sukzessiv neu besetzt werden. Solange dieser Nachfrage kein entsprechendes inländisches Angebot entgegen gesetzt werden kann, werden die USA eine weltweite Sogwirkung auf junge qualifizierte Wissenschaftler ausüben.

c) „The U.S. Immigration Act of 1990“, unterzeichnet am 29.11.1990 als „Public Law 101-649“ und im Oktober 1991 in Kraft getreten, lässt über die bisher bestehenden Quoten hinaus die Einwanderung von bis zu 40.000 Professoren und wissenschaftlich Forschenden in die USA zu. Diese neue Einwanderungspolitik, die die umfassendste Revision der Einwanderungspolitik seit 1965 darstellt, wird für viele migrationswillige Wissenschaftler aus aller Welt anziehend wirken.

d) Die Wachstumsschwäche der Wirtschaft und die dadurch bedingten Beschäftigungsprobleme in den westlichen Industrieländern haben unter anderem dazu geführt, dass sich die akademischen Arbeitsbedingungen durch die Kürzungen der Haushalts- und Forschungsetats der Hochschulen und Forschungsinstitute deutlich verschlechtert haben. Dies trifft die Hochschulen in den ehemals sozialistischen Staaten Ost- und Zentraleuropas besonders hart, so dass viele hochqualifizierte Wissenschaftler auf der Suche nach neuen und besseren Arbeitsmöglichkeiten sind (für die Punkte b bis d vgl. Jack H. Schuster, 1994, 437-438).

Zum anderen gewinnt die Diskussion über „Brain Drain“ seit den 1990er Jahren neue Aktualität, weil sich der Wettbewerb der Industrieländer bei der Anwerbung von hochqualifizierten Arbeitskräften durch folgende Entwicklungen verschärft hat (vgl. IOM, 2008, 51). Erstens steigt der Bedarf an Fachkräften im Bereich der Wissenschaft und Technologie in allen OECD-Ländern, weil die Zahl der jüngeren Fachkräfte geringer ausfällt als die der älteren, die das Pensionsalter erreichen (vgl. OECD, 2009, 162). Auf der anderen Seite hat die Globalisierung der Wirtschaft die Industrieländer veranlasst, ihre Produktionsstätten in Billiglohnländer zu verlagern (offshoring, outsourcing, global resourcing) und zu dezentralisieren. Dies macht jedoch notwendig, dass die Zirkulation und Mobilität des Kapitals gesteigert werden müssen, um die notwendigen Auslandsdirektinvestitionen tätigen zu können. Gleichzeitig müssen die Industrieländer dafür Sorge tragen, dass die dezentralisierten Produktionsstätten und die Arbeiterschaft trotz ihrer räumlichen Streuung (spatial dispersion) global kontrolliert und in einem zentralisierten Besitzverhältnis integriert werden. Zur Bewältigung dieser Aufgaben müssen viele produktionsorientierte Dienstleistungen (producer services) und spezialisierte Finanzdienstleistungen erzeugt und eingesetzt werden, die wiederum mit Hilfe der hochentwickelten Informations- und Telekommunikationstechnologien nur von hochqualifizierten Fachkräften zu leisten sind (vgl. Petrus Han, 2006, 250-259). Diese haben den Anforderungen an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zu genügen, um gegenüber den sich schnell verändernden Erfordernissen des globalen Marktes angemessen reagieren zu können. Die Nachfrage der Industrieländer nach hochqualifizierten Fachkräften wächst daher schneller als das Angebot auf dem internationalen Arbeitsmarkt. Die Folge ist der globale Wettbewerb bei der Gewinnung von hochqualifizierten Arbeitskräften (vgl. IOM, 2008, 38).


Die hochqualifizierten Arbeitskräfte unter den Migranten sind Personen mit abgeschlossener tertiärer Ausbildung, insbesondere junge Erwachsene, die eine zweijährige oder darüber hinausgehende Collegeausbildung abgeschlossen haben: „The most basic definition of highly skilled migrants tends to be restricted to persons with tertiary education, typically adults who have completed a formal two-year college education or more.“ (IOM, 2008, 52). Nach der Statistik findet die Migration dieser Arbeitskräfte überwiegend innerhalb ihrer Herkunftsregion statt. So ist festzustellen, dass 33 % der hochqualifizierten Immigranten in den USA aus Kanada und Mexiko kommen (vgl. IOM, 2008, 56), während 36,7 %, die sich in den europäischen Ländern niedergelassen haben, aus anderen europäischen Ländern kommen, wie den Angaben der obigen Tabelle 1 zu entnehmen ist.

 

Nach Angaben der Tabelle 1 erhält Nordamerika die überwiegende Mehrzahl ihrer hochqualifizierten Arbeitskräfte aus Lateinamerika (88,3 %) und Asien (73,1 %). Es ist auffallend, dass etwa 50 % der aus Europa stammenden Fachleute nach Nordamerika ausgewandert sind. Auf der anderen Seite arbeiten in Europa mehr hochqualifizierte Arbeitskräfte aus Afrika (47,8 %) als aus Nordamerika (44,5 %). Damit wird der anhaltende „Brain Drain“ aus Lateinamerika, Asien und Afrika nach Nordamerika und Europa offenkundig.


Die Angaben der obigen Tabelle 2 dokumentieren ebenfalls den anhaltenden „Brain Drain“ von Ärzten und Krankenschwestern aus den Entwicklungsländern in die traditionellen Aufnahmeländer von Migranten. So machte 2006 die Zahl der in den USA arbeitenden ausländischen Ärzte (213.333) einen Anteil von 27 % an der gesamten Ärzteschaft aus, dieser war jedoch kleiner als der in Großbritannien (33 %) und Neuseeland (34 %). Der Anteil der ausländischen Ärzte an der gesamten Ärzteschaft in Kanada und Australien erreichte jeweils 23 % und 21 %.

Viele Anzeichen sprechen dafür, dass der „Brain Drain“ von hochqualifizierten Arbeitskräften und Wissenschaftlern auch in Zukunft anhalten wird. Die Herkunftsländer des „Brain“ können diesen Vorgang kaum verhindern, weil seine Beweggründe nicht immer wirtschaftlicher Natur sind. Für die Wissenschaftler ist die fachliche Weiterentwicklung oft wichtiger bzw. genauso wichtig wie die materiellen Lebensbedingungen. Sie wollen weder unter den unzureichenden Forschungsbedingungen ihrer Herkunftsländer arbeiten noch von den fachlichen Entwicklungen abgekoppelt und dadurch isoliert werden (vgl. Markus Schlegel; Ludger Wiedemeier, 1994, 105). Die modernen computergestützten Kommunikationsmöglichkeiten können zwar ihre Isolation relativieren, diese aber nicht beseitigen. Es ist verständlich, dass sie sich zum Zentrum von Wissenschaft und Forschung hingezogen fühlen, um dort mit Fachkollegen von Rang zusammenzuarbeiten. Für die Wissenschaftler aus den GUS-Staaten ist die ethnische Diskriminierung oft ein zusätzlicher Beweggrund der Emigration (vgl. Stanislav Simanovsky, 1994, 19).

Diese Ausführungen lassen die Schlussfolgerung zu, dass die Länder, in denen „Brain Drain“ stattfindet, auf der Verliererseite stehen, während die Empfängerländer als Gewinner zu sehen sind. Der Gewinn für die USA als das größte Empfängerland von „Brains“ wird am Anteil der Wissenschaftler ausländischer Herkunft (foreign-born persons) an der Zahl der Nobelpreisträger deutlich. Er betrug in den Fachgebieten Chemie 26 %, Wirtschaftswissenschaft 31 %, Physik 32 % und Medizin 31 % (vgl. George J. Borjas, 1999, 88). Geht man von der Erkenntnis aus, dass die Wissenschaft heute die produktivste Kraft der Gesellschaft ist, so ist zu folgern, dass der Gewinn, den der „Brain Drain“ für seine Empfängerländer einbringt, über den ökonomischen Gewinn hinausgeht.

Die Herkunftsländer können jedoch vom „Brain Drain“ profitieren, wenn es ihrer Politik gelingt, die ausgewanderten Fachkräfte und Wissenschaftler zur Gründung einer Diaspora zu motivieren und deren Heimatbindung zu erhalten. Eine solche Diaspora würde dazu beitragen, den Transfer von Wissen, Technologie, Kapital und sozialen Netzwerken aktiv zu fördern. Davon können die Herkunftsländer kulturell und wirtschaftlich mehr profitieren als von einer restriktiven Verbotspolitik des „Brain Drain“ (vgl. IOM, 2008, 65-67).

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die bisher dargestellten Selektionsvorgänge bei der grenzüberschreitenden Migration in vergleichbarer Form auch bei der Binnenmigration stattfinden. Die Landflucht als eine Form der Binnenmigration ist ein Selektionsvorgang, in dem vornehmlich junge und produktive Arbeitskräfte für die wirtschaftliche Entwicklung städtischer Regionen selektiert werden, so dass in den dadurch betroffenen ländlichen Regionen die ältere, wenig produktive und überwiegend konsumtive Bevölkerung zurückbleibt.