Soziologie der Migration

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Die differenzierte Zuordnung der Menschen in die hierarchisch eingeteilten Klassen auf der vertikalen Dimension des sozialen Raumes bezeichnet er als soziale Stratifikation (social stratification). Sie besteht wesentlich aus drei Einzelstratifikationen, aus der politischen, der ökonomischen und der beruflichen Stratifikation (vgl. Pitirim A. Sorokin, 1964, 11).

Er thematisiert die territoriale Mobilität bzw. territoriale Migration (territorial mobility/territorial migration) als eine besondere Form der horizontalen Mobilität (vgl. Pitirim A. Sorokin, 1964, 381-382). Mit anderen Worten ist für ihn die Veränderung sozialer Positionen innerhalb der sozialen Stratifikation der Gesellschaft kein Thema bei der Behandlung der territorialen Mobilität. In seiner Konzeption der horizontalen Mobilität geht er nur von der räumlichen Veränderung der Menschen aus, die ohne Veränderung ihrer sozialen Position bleibt. Er thematisiert lediglich die Folgen des mit der territorialen Mobilität verbundenen Wohnsitzwechsels auf die Psyche des Menschen (vgl. Pitirim A. Sorokin, 1964, 508).

Zusammenfassend kann Folgendes festgehalten werden: Pitirim A. Sorokin bezeichnet zwar die horizontale und vertikale Mobilität als zwei Hauptformen der sozialen Mobilität, er setzt aber seinen theoretischen Schwerpunkt auf die vertikale Mobilität. Für ihn ist daher der Begriff der sozialen Mobilität fast ein Synonym für die vertikale Mobilität. Der Kernaspekt der sozialen Mobilität ist die Veränderung der sozialen Position in der sozialen Stratifikation der Gesellschaft (vgl. Kurt Horstmann, 1976, 104).

Im Mittelpunkt der Migration steht dagegen der Wohnortwechsel und nicht der Wechsel der sozialen Position der Migranten innerhalb der sozialen Stratifikation der Gesellschaft. Es wäre daher irreführend, wollte man die Migration als eine Form der sozialen Mobilität bezeichnen. Die Migration bewirkt jedoch oft die vertikale Aufwärts- bzw. Abwärtsmobilität der Migranten innerhalb der Sozialstruktur der Aufnahmegesellschaft, weil sie zwangsläufig zur Neubewertung der beruflichen Qualifikationen führt. Die Zugangschancen zum Arbeitsmarkt und die neue soziale Position innerhalb der sozialen Stratifikation der Aufnahmegesellschaft hängen entscheidend von dieser Neubewertung ab (vgl. Günther Albrecht, 1972, 139, 141). Berücksichtigt man jedoch die Vielzahl von unfreiwillig erfolgenden Formen der Migration, bei der die Veränderung sozialer Positionen nur einen Nebeneffekt darstellt, dürfte die primäre Zielsetzung der Migration nicht generell und nicht immer in der beabsichtigten Veränderung unbefriedigender sozialer Positionen der Migranten gesehen werden. Diese kann als Folge der Migration eintreten, ohne von den Migranten direkt intendiert zu werden. Die Migration als geographische Mobilität mit einem dauerhaften Wohnortwechsel ist daher von der sozialen Mobilität im Sinne der vertikalen Mobilität nach Pitirim A. Sorokin zu unterscheide

1.2 Multikausale Determinanten der Migration und Typologisierung ihrer Formen

Die Vorstellung, dass Menschen sesshaft sind, ist nur im oberflächlichen Sinn zutreffend. In der Realität bleiben sie selten ein Leben lang dort, wo sie geboren sind. Sie sind in Bewegung und ständig auf der Suche nach neuen und besseren Lebensbedingungen und Lebensoptionen. Der amerikanische Soziologe Robert E. Park hat bereits in den 1920er Jahren die These vertreten, dass die Fortschritte in der Geschichte und die Prozesse der Zivilisation nur durch kontinuierliche Migrationsbewegungen von Menschen und die dadurch eintretenden Vermischungen von Völkern und Kulturen möglich geworden sind. Er bezeichnet die Migrationsbewegungen, die einschneidende Veränderungen und Fortschritte in Kultur und Zivilisation brachten, als historische Bewegungen (the historical movement). Zivilisation ist dabei das Ergebnis von Kontakt und Kommunikation der Menschen, die im Zuge solcher historischen Migrationsbewegungen zusammenkamen und gezwungen waren, zu konfrontieren und zu kooperieren. Für ihn ist daher die Untersuchung der Migrationsprozesse identisch mit der Verfolgung von Spuren der Kultur und Zivilisation (vgl. Robert E. Park, 1928, 883; Petrus Han, 1990, 129).

Eine der schwierigsten Aufgaben der Migrationsforschung ist jedoch die theoretische Erfassung und Systematisierung der Gründe von Migrationsentscheidungen und der dadurch ausgelösten Migrationsbewegungen. Mehrere Gründe machen diese Schwierigkeiten aus. Zuerst ist der Migrationsvorgang ein hochkomplexer Vorgang (vgl. Kurt Horstmann, 1969, 141), der selten monokausal verursacht wird. Die genaue Identifizierung der einzelnen Determinanten der Migration aus einer Vielzahl von kausalen Bedingungsfaktoren ist kaum möglich. Sie würde dazu noch eine schwierige methodische Herausforderung darstellen. Zweitens lässt die Veränderung der historischen Kontexte, die die jeweiligen epochalen Migrationsschübe einzelner Weltregionen auslösen, kaum allgemeingültige Aussagen zu, die über die singuläre Analyse hinausgehen. Letztlich muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass der Migrationsvorgang oft nicht rational begründet werden kann. Dies ist häufig dann der Fall, wenn sich die Migration zu einer sozialen Massenbewegung entwickelt, so dass sich Menschen auch ohne triftige individuelle Gründe von einer allgemeinen Stimmung mitreißen lassen.

Die im 17. und 18. Jahrhundert beginnende transatlantische Emigration von Deutschland nach Nordamerika, die anfänglich in kleinen Familienverbänden begonnen hatte, entwickelte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer Massenauswanderung. Zwischen 1820 und 1930 wanderten etwa 5,9 Mio. Deutsche in die USA aus. Zwischen 1846 und 1857 und zwischen 1864 und 1873 sind jeweils mehr als 1 Mio. Deutsche nach Nordamerika ausgewandert. Die größte Welle der Massenauswanderung fand zwischen 1880 und 1893 statt, mit dem Spitzenwert von 1,8 Mio. deutschen Auswanderern (vgl. Klaus Bade, Hrsg., 1992, 148). Diese Massenauswanderung ist ein anschauliches Beispiel für die hier postulierte These der Multikausalität des Migrationsvorganges. Im Folgenden soll dieses Beispiel näher beschrieben werden, um die komplexen Zusammenhänge und Bedingungfaktoren des Phänomens der Migration exemplarisch zu analysieren.

Die oben erwähnte Massenauswanderung von Deutschland nach Nordamerika hatte ihre Ursachen unter anderem in der bedrückenden Armut und Not im gesamten bäuerlich-handwerklichen Bereich, die durch die Uberbevölkerung verursacht wurde. Die Bevölkerung in Deutschland war seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durch die stetig steigende Geburtenrate und sinkende Sterberate kontinuierlich gewachsen. Die Bevölkerungszahl betrug 1740 etwa 18 Mio., vermehrte sich bis 1800 auf 24 Mio., bis 1856 auf 36 Mio. und erreichte 1900 bereits 56 Mio. Sie betrug 1939 etwa 69 Mio. Während in Großbritannien um 1800 nur jeder dritte Beschäftigte in der Landwirtschaft tätig war, arbeiteten im gleichen Zeitraum in Deutschland sieben bis acht von zehn Beschäftigten in der Landwirtschaft (vgl. Rolf Engelsing, 1973, 100, 107).

Während die Vollbauernhöfe durch die Realteilung des Bodens, d.h. die sukzessive Aufteilung des Bodens unter den Erben, immer mehr verkleinert wurden und kaum eine ausreichende Familienwirtschaft erlaubten, stand für den agrarischen Flächenausbau kein zusätzlicher Raum zur Verfügung. Die Ertragssteigerung durch die Dreifelderwirtschaft reichte zur Existenzsicherung der wachsenden Bevölkerung nicht aus. Darüber hinaus führten die Ablösegesetze zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die im Zuge des langwierigen Prozesses der Bauernbefreiung erlassen wurden, in Süd- und Westdeutschland zur hohen Verschuldung der bäuerlichen Betriebe. Das traditionelle Handwerk, wie Hausweberei, Glaserei und Druckerei, das einen Teil des Bevölkerungsüberschusses absorbierte, war, trotz der rigorosen Restriktionen der Zünfte, nicht nur hoffnungslos überbesetzt, sondern in seiner Existenz unmittelbar von der Nachfrage aus dem agrarischen Bereich abhängig. Die Krise der Landwirtschaft führte daher zur Krise des Handwerks. Die Situation verschlechterte sich zusätzlich durch die vermehrte Neugründung von Betrieben nach der Einführung der Gewerbefreiheit um 1850 und durch die Errichtung von Fabriken ab etwa 1860 (vgl. Friedrich Lütge, 1966, 433-453; Rolf Engelsing, 1973, 108-111; Peter Assion, 1989, 258-259).

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Überbevölkerung und des Pauperismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchten viele verarmte Menschen in Deutschland einen Ausweg durch die Emigration nach Nordamerika. Ab etwa 1825 stieg allmählich die Zahl der Emigranten, wobei die ersten Migrationswellen aus relativ vermögenden Bevölkerungsgruppen bestanden, die der Politik Fähigkeit und Kraft zur Problemlösung absprachen und durch ihre Emigration vor der drohenden Verarmung flüchteten. Ab etwa 1843/1844 begann dann die Armenauswanderung mit einer steil nach oben schnellenden Zahl. Die Armenauswanderung aus Teilen Nordwestdeutschlands setzte ein, als die Hausweberei, die für viele besitzlose Heuerlinge den Broterwerb sicherte, der aufkommenden Textilindustrie zum Opfer fiel. Ab den späten 1860er Jahren folgte dann die Emigration der armen Landbevölkerung aus dem Osten Deutschlands, als die bäuerlichen Kleinwirtschaften durch die Landabtretungen an den Adel (Bauernbefreiung) neben den großen Gutsbetrieben nicht mehr bestehen konnten und darüber hinaus Verdienstverluste durch die Mechanisierung der Landwirtschaft erlitten. Schließlich folgte die Emigration der Kleinbauern im Süden und Westen Deutschlands, die durch die Grundlastenablösung infolge der Ablösegesetze hoch verschuldet waren, als die Wein-, Getreide- und Kartoffelmissernten ihre Existenzgrundlage endgültig zerstörten. Bis in die 1850er Jahre hinein blieben somit Baden, Württemberg, die bayerische Pfalz und die hessischen Staaten Zentren der Emigrationsbewegung (vgl. Peter Assion, 1989, 259).

 

Wie skizziert, bildet die Migration den Endpunkt eines Zusammenspiels von demographischen (Bevölkerungswachstum, Überbevölkerung), soziokulturellen (Migration als soziale Massenbewegung und Amerikafieber), politischen (Bauernbefreiung, Ablösegesetze und Versagen der Politik), wirtschaftsstrukturellen (überwiegend landwirtschaftliche Monokultur, die keine Ausweichmöglichkeit zuliess) und produktionstechnischen (Mechanisierung der Landwirtschaft und Textilerzeugung) Faktoren. Wie aufgezeigt, ist es nicht möglich, aus diesen komplexen Beeinflussungsfaktoren nur einen einzigen Faktor herauszugreifen und für die Massenauswanderung dieser Zeit verantwortlich zu machen. Ein monokausaler Erklärungsversuch würde zu unvollständigen Teilerklärungen bzw. Verzerrungen der Realität führen.

Zu diesen objektiven Bedingungen kommen die subjektiven Faktoren der Emigranten hinzu. Die Briefe, die die Auswanderer den Zurückgebliebenen in Deutschland schrieben, machen deutlich, dass sie die komplexen Zusammenhänge zwischen demographischer Entwicklung und ökonomischer Krise sowie die Relation zwischen Verelendung und Bevölkerungskrise nicht durchschauen konnten. Die Verantwortlichkeit für die wirtschaftliche Misere wurde personalisiert und als selbstverschuldet bewertet. Nach einer durch die Emigration erreichten Verbesserung der Lebensbedingungen sprachen paradoxer Weise die Auswanderer diejenigen von der Verantwortung frei, die die desolaten Verhältnisse in Deutschland verursacht und zudem davon persönliche Vorteile hatten. Die Emigration der Armen wurde zu einer Massenbewegung, die einerseits Amerika als Land der Hoffnungen und Wünsche glorifizierte (Amerika-Utopie des 19. Jahrhunderts) und andererseits das Bild von Deutschland als Land der Armut, Unfreiheit, Sklaverei und des Elends negativ prägte (vgl. Peter Assion, 1989, 260, 263-264; Klaus Bade, Hg., 1992, 150-157).

Die theoretische Erfassung und Systematisierung der Migrationsgründe sind, wie oben aufgezeigt, allgemein schwierig. In der einschlägigen Literatur werden statt konkreter Kausalanalysen der Migration allgemeine und umfassende strukturelle Bedingungen jeweiliger Gesellschaften genannt. Diese Bedingungen sind im wesentlichen politische (z.B. Verfolgung, gesetzlich verankerte Diskriminierung), soziokulturelle (z.B. Vorurteile und Stereotypen gegenüber Angehörigen von Minderheiten und ihre soziale und institutionelle Ausgrenzung), wirtschaftliche (z.B. niedrigerer materieller Lebensstandard, Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, fehlende soziale Sicherung), ökologische (z.B. Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Dürren), religiöse (z.B. Verbot freier Religionsausübung und religiöse Verfolgung), ethnische (z.B. Spannungen zwischen ethnischen Gruppen, ethnische Homogenisierungspolitik wie „ethnische Säuberung“), kriegerische (z.B. Bürgerkriege, zwischenstaatliche Kriege) Bedingungen, die bei näherer Betrachtung letztendlich für die Entstehung des komplizierten Ursachenbündels der Migration sowie für ihre wechselseitigen „Push-Pull-Beziehungen“ verantwortlich sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Ursachenforschung überflüssig ist. Die Erfassung und Systematisierung der Migrationsgründe werden von der Migrationsforschung nach wie vor angestrebt, um das Phänomen der Migration analytisch differenzierter erforschen und dadurch Ansätze für Migrationstheorien gewinnen zu können. Im Folgenden wird exemplarisch eine Typologie der Migrationsformen von William Petersen (vgl. William Petersen, 1958, 256-266) mit dem Ziel vorgestellt, die unterschiedlichen Anlässe der Migrationsbewegungen in einer theoretischklassifikatorischen Zusammenfassung aufzuzeigen. Diese theoretischen Zusammenfassungen erleichtern die weitere fachliche Auseinandersetzung. Die Auswahl dieser Typologie erfolgt dennoch primär unter dem Aspekt der pragmatischen und illustrativen Brauchbarkeit und weniger unter dem ihrer theoretischen Gültigkeit.

William Petersen beginnt seine Abhandlung über die allgemeine Typologie der Migration mit einer Kritik an der Typologie von Henry P. Fairchild, der die Migrationen in folgende vier Typen einteilt (vgl. Henry P. Fairchild, 1925, 13 ff; William Petersen, 1958, 257):

a) „Invasion“: Die Überflutung eines höheren Kulturgebietes durch Krieger mit niedrigerer Kultur (z.B. der Einfall der Goten in Rom).

b) „Conquest“: Die gewaltsame Eroberung eines Gebietes durch Menschen mit höherer Kultur.

c) „Colonization“: Die Besiedlung eines neu entdeckten bzw. dünn besiedelten Gebietes durch ein etabliertes und forschrittliches Staatswesen.

d) „Immigration“: Die individuell motivierte und friedliche Migrationsbewegung der Menschen zwischen den Staaten, die eine annähernd gleich hohe Stufe der Zivilisation erreicht haben.

Diese Typologie der Migration von Henry P. Fairchild basiert nach der Auffassung von William Petersen auf zwei Kriterien: Auf dem der Niveauunterschiede der Kultur und auf dem der friedlichen bzw. kriegerischen Art der Bewegung. Petersen kritisiert, dass Fairchild mit seinem ersten Kriterium faktisch die Gefahr des Ethnozentrismus herbeiführt. Weiterhin kritisiert er seine undeutliche und missverständliche Begriffsverwendung „friedlich bzw. kriegerisch“. Er ist entschieden gegen einseitige psychologische All-Aussagen (psychological universals), die entweder den Menschen „Wanderlust“ oder Sesshaftigkeit unterstellen. Er will vielmehr unter Berücksichtigung der individuellen Wunschvorstellungen (migrants level of aspiration) den Unterschied klären, warum bestimmte Menschen wandern und bestimmte nicht. Zu diesem Zweck führt er zwei Charakterisierungen der Migrationsziele (innovative und konservative) ein, um auf deren Grundlage seine Typologie der Migration zu entwickeln (vgl. William Petesen, 1958, 258):

a) „Innovating“: Wenn Migration als Mittel zur Erlangung von etwas Neuem unternommen wird: „Some persons migrate as a means of achieving the new. Let us term such migration innovating.“

b) „Conservative“: Wenn Migration als Reaktion auf Veränderung benutzt wird, um den alten Zustand wiederherzustellen: „Others migrate in responce to a change in conditions, in order to retain what they have had.“

Aufgrund dieser beiden Charakterisierungen entwickelt William Petersen 5 Migrationstypen (primitive, forced, impelled, free, mass migration):

1) „Primitive migration“

Diese bedeutet nicht die Migration primitiver Menschen, sondern die Migration, die durch das Unvermögen der Menschen, die Mächte bzw. Gewalt der Natur unter Kontrolle zu bringen, d.h. unter dem Druck der Natur (ecological push), ausgelöst wird. Aufgrund der engen Wechselbeziehung zwischen dem Niveau der technischen Entwicklung und der damit zusammenhängenden Kontrollmöglichkeit der Naturmächte ist dieser Typus der Migration besonders häufig bei primitiven Kulturen. Er ist überwiegend konservierend, weil Menschen hier vorrangig auf der Suche nach Plätzen waren, die die Beibehaltung ihrer alten Lebensgewohnheiten erlaubten (z.B. Suche nach Weideland für die Viehzucht). Die Völker- und Seewanderung, die Wanderung der Sammler und Nomaden zählen auch zu diesem Typus der Migration. Diese konservierende Migration trat in früheren Zeiten auch durch die Überbevölkerung ein, für die der begrenzte Ertrag des Bodens nicht ausreichte. Dagegen stellt z.B. die Landflucht (flight from land) der Menschen in die Städte in der modernen Zeit durchweg eine innovative Migration dar, weil die Migranten hier bewusst städtische Lebensräume suchen, um ihren Lebensstil grundlegend zu verändern.

2) „Forced and impelled migration“

Die Ursache primitiver Migration ist ökologischer Druck. Dagegen ist der Auslöser der Zwangsmigration der Staat bzw. die ihm funktional äquivalenten sozialen Institutionen. Dabei wird die Zwangsmigration als veranlasste Migration (impelled) bezeichnet, wenn die Migranten eine gewisse Entscheidungsmacht über ihre eigene Migration behalten konnten, während sie als erzwungene (forced) Migration bezeichnet wird, wenn die Migranten bezüglich ihrer Migration keine Entscheidungsmacht hatten. Als historisches Beispiel werden die durch antisemitische Gesetze und Aktivitäten veranlasste Emigration der Juden aus Nazideutschland in den Jahren 1933 bis 1938 sowie ihre erzwungene Deportation in die Konzentrationslager in den Jahren 1938 bis 1945 angeführt.

Ein weiteres Kriterium für die Bestimmung des Typus der „forced and impelled migration“ ist die Funktion der Migration, die nicht von den Migranten selbst, sondern von den die Migration auslösenden Institutionen bestimmt wird. So sind alle Arten der Flucht (flight) Formen der veranlassten (impelled) Migration, die wesentlich mit konservierender Zielsetzung stattfinden. Dagegen waren die Verschiffung afrikanischer Sklaven nach Nordamerika und die zwangsweise Rekrutierung von Arbeitskräften zur Kriegswirtschaft in Nazideutschland historische Beispiele der erzwungenen (forced) Migration, die unter innovativer Zielsetzung der Betreiber erfolgten. Diejenigen, die die erzwungene Migration überlebt haben, werden wegen ihrer passiven Rolle als „displaced person“ bezeichnet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Alliierten die Bezeichnung „Displaced Persons“ (DPs) eingeführt, um die ausländischen Zwangsarbeiter, die in der Kriegswirtschaft eingesetzt waren, zu bezeichnen. 1944 gab es insgesamt 10,5 - 11,7 Mio. DPs mit rund 20 Nationalitäten und über 35 verschiedenen Sprachen, die ohne alliierte Unterstützung nicht heimkehren oder eine neue Heimat finden konnten (vgl. Wolfgang Jacobmeyer, 1992, 368).

3) „Free migration“

Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Typen steht im Mittelpunkt der freien Migration die persönliche Entscheidung als zentrale Grundlage zur Migration. Die transatlantische Pioniermigration aus Europa nach Nordamerika im 18. und 19. Jahrhundert wird als ein historisches Beispiel für diesen Typus genannt.

4) „Mass migration“

Diese Migrationsform beginnt in kleinem Umfang und entwickelt sich zu einer sozialen Bewegung. Die Masse wird vom Migrationsfieber angesteckt. Wenn die Migration zum sozialen Muster wird, dann spielt die Frage nach der individuellen Motivation kaum eine Rolle, weil hier die Migration Anderer zum Grund der Migration wird. Dann genügt ein kleiner Anlass, jemanden zur Migration zu bewegen. Unmittelbare Folgen der so induzierten Massenmigration sind die Entvölkerung der Herkunftsregion und die Besiedlung (settlement) und Urbanisierung neuer Gebiete.

Die Massenmigration regt in der Regel die Verbesserung des Transportwesens an, die die Migration erleichtern soll. Neue Strassen und Häfen werden gebaut und Technologien für den Transport entwickelt. Dadurch werden sowohl die geographischen Entfernungen als auch die sozialen Distanzen kleiner. Proportional dazu nimmt die Angst vor dem Risiko der Migration ab. In dem Ausmaß, in dem immer mehr Menschen emigrieren und neue Siedlungen und Städte im Zielland errichtet werden, wird auch der Anpassungsdruck für neue Migranten niedriger. Die transatlantische Massenmigration von Europa nach Nordamerika im 19. Jahrhundert, die von dem sog. Amerikafieber begleitet wurde, ist ein Beispiel dafür.


Trotz einiger Kritik (vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, 1970, 60-64; Günther Albrecht, 1972, 29) gibt die Typologie der Migration von William Petersen eine gute Zusammenfassung der unterschiedlichen Formen und komplexen Gründe der Migration wieder (vgl. Charles Price, 1969, 195). Sie vermittelt in ihrer Zusammenfassung eine gute Orientierung.

Die weltweit deutlich zunehmenden Migrationsbewegungen seit 1945 zeigen in ihren vielfältigen Ursachen, strukturellen Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen einen grundlegenden Wandel an, für dessen theoretische Erfassung die von William Petersen aufgestellte klassifikatorische Einteilung nicht ausreicht. Eingehende Ausführungen zur angedeuteten Diversifizierung der Migrationsformen und ihrer strukturellen Entstehungsbedingungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgen im Kapitel 1.6 sowie im Kapitel 2.