Die Katholische Grundschule NRW Öffentliche Grundschule im konfessionellen Gewand

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

TEIL IIDeskription

Schule lässt sich aus sehr unterschiedlichen, nicht immer voneinander abgrenzbaren wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Disziplinen und damit Perspektiven beschreiben. Sie kann betrachtet werden aus pädagogischem, didaktischem, soziologischem, juristischem, psychologischem, medizinischem, (bildungs)politikwissenschaftlichem, historischem oder auch – denkt man an die einzelnen Unterrichtsfächer – dem der jeweiligen Fachwissenschaft zugrunde liegenden Blickwinkel.190 Jeder dieser wissenschaftlichen Zugriffe muss zudem auf drei Ebenen von Grundschule – die Makro-, Meso- und Mikroebene – abheben und dort jeweils ihre Theoriegrade (1., 2. oder 3. Ordnung) reflektieren. Denn: die Theorie der Schule bzw. der Grundschule gibt es nicht. So ist es an dieser Stelle zwingend erforderlich, eine Präzisierung der untersuchungstheoretischen Grundlegung vorzunehmen.

Dazu kann hier der von Werner Wiater vorgestellten wissenschaftlichen Betrachtungsweise einer „Theorie der Schule“ gefolgt und Grundschule zunächst aus einer Makroperspektive heraus betrachtet werden als „eine organisierte gesellschaftliche Erziehungsund Bildungsinstitution mit Verpflichtungscharakter und bestimmten Strukturen, Prozessen und Ergebnissen191. Diese Betrachtungsweise erlaubt einen Blick auf das Bedingungsgefüge, das sich aus den rechtlichen Vorgaben und Grundlagen zweier Rechtsträger ergibt: Die KGS als öffentliche Regelschule katholischer Schulart bewegt sich an der Schnittstelle staatsrechtlicher, schulrechtlicher und kirchenrechtlicher Regularien. Der Zusammenschau der für diese Untersuchung relevanten Rechtstexte wird sich daher das anschließende Kapitel 3 zunächst widmen.

Auf der Basis dieses rechtlichen Bedingungsgefüges wird in Annäherung an pädagogische und religionspädagogische Problemstellungen dann die Frage zu stellen sein, was „Unterricht und Erziehung“ in der Grundschule auf der „Grundlage des katholischen Bekenntnisses“ bedeuten muss und kann (Kapitel 4). Die Fragen nun, ob und inwiefern diese multiperspektivisch ermittelten Grundlagen in eine Kohärenz im Sinne einer widerspruchsfreien Logik192 gebracht werden können und ob sie in einer modernen, pluralen Gesellschaft überhaupt zu einem Konsens führen können, erfordern schließlich einen Blick auf die Akteursebene von Grundschule.

3Rechtliche Grundlagen

Die Katholische Grundschule nimmt im Vergleich zu den andersgearteten Grundschulsystemen der Bundesrepublik Deutschland eine Sonderrolle ein. Aus der Perspektive anderer Bundesländer könnte sie – ohne Kenntnis der nordrhein-westfälischen Schulgeschichte (vgl. Teil I) – tatsächlich als „sonderbar“ wahrgenommen werden: Eine staatliche, also öffentliche Schule in einem konfessionellen Gewand? Eine Annäherung an diese außer-gewöhnliche Ausprägung der Grundschule macht an dieser Stelle einen kurzen Vorgriff auf die diese Schulart definierende staatliche Rechtsquelle (Landesverfassung) nötig, um daran anschließend eine Spezifizierung der Fragestellung vornehmen zu können. Sie stellt aufgrund ihrer Vorrangstellung gleichsam die Folie dar, auf der alle weiteren, korrespondierenden Rechtstexte in Schulrecht und Kirchenrecht untersucht werden:

„In Bekenntnisschulen werden Kinder des katholischen oder des evangelischen Glaubens oder einer anderen Religionsgemeinschaft nach den Grundsätzen des betreffenden Bekenntnisses unterrichtet und erzogen.“193

Aus dieser verfassungsrechtlichen Grundlegung einer Bekenntnisgrundschule ergeben sich sowohl Fragen nach der Definition und nach der Definitionshoheit der benannten Termini „Bekenntnis“, katholisch“, „Unterricht“ und „Erziehung“ als auch nach der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche bzw. nach den Rechten und Pflichten der beteiligten Akteure – der Eltern, Lehrer und Kinder – im Feld grundschulischer Erziehung und grundschulischen Unterrichts. Es sind dabei verschiedene Rechtsquellen unterschiedlicher Rechtsträger zu befragen und schließlich in Beziehung zu bringen.

Ein Blick auf die thematisch relevante Literaturlage zeigt, dass die Rechtstexte selbst gut dokumentiert und kommentiert sind, weshalb hier auf eine entsprechend gesicherte Literaturlage zurückgegriffen werden kann. Zu nennen sind exemplarisch die beiden Rechtskommentare zum nordrhein-westfälischen Schulrecht, die von Rainer Ernst sowie von Christian Jülich / Werner van den Hövel herausgegeben wurden.194

Implizite Zugriffe ergeben sich aus Untersuchungen, die sich mit der rechtlichen Verfasstheit des Katholischen Religionsunterrichts und der Schulen in freier Trägerschaft der Katholischen Kirche195 befassen. Auch aus Abhandlungen zu Fragen der Verhältnisbestimmung von „Staat – Kirche – Religion“ lassen sich Erkenntnisse ableiten. Aus der Sicht der Katholischen Kirche (hier: die fünf nordrhein-westfälischen [Erz-]Bistümer liegt beispielsweise als Dokument jüngeren Datums die bereits erwähnte Informationsschrift „Die Katholische Grundschule“ vor,196 die insbesondere den rechtlichen Rahmen der KGS darstellt und kommentiert. Darüber hinaus wurden seitens der Katholischen Kirche verschiedentlich Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, die sich mit bestimmten juristischen Einzelfragen auseinandersetzen.197 Auch auf den Internetseiten der Bistümer finden sich Hinweise zu rechtlichen Fragen der KGS,198 die sich der besonderen Verfasstheit dieser Schulform (Grundschule als Regelschule) in ihrer spezifischen Ausprägung (Schulart) widmen, nämlich der einer öffentlichen staatlichen Schule katholischer Prägung.

So zeigt sich deutlich: Da sich im Feld der KGS zwei Rechtsträger (Staat und Kirche) begegnen, muss in diesem Teil der Untersuchung eine Zusammenschau sowohl des staatsrechtlichen als auch des kirchenrechtlichen Rahmens geleistet werden – stets in enger Anbindung an die Ausgangsfrage dieser Untersuchung. Fragen der allgemeinen Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche werden nur dann berührt, wenn sich daraus funktionale und materiale Bestimmungen einer KGS ergeben. Ein perspektivischer Schwerpunkt wird dabei vor allem jenen Fragestellungen zukommen, die aus kritischen Rückfragen an die Legitimität von Katholischen Grundschulen resultieren. Auch wird ein besonderes Augenmerk auf rechtliche Interpretationsspielräume gerichtet sein, aus denen sich im dritten Teil dieser Untersuchung zu entfaltende „Performationsperspektiven“ ergeben werden.

Fokussiert werden in diesem Kapitel demnach Fragestellungen

•nach der Aufnahme von Schülerinnen und Schülern in eine KGS, weil sich daraus zwingend Anfragen an die Zeitgemäßheit einer konfessionsgebundenen, staatlichen Regelschule ergeben und weil diese Fragen immer wieder im Fokus der öffentlichen Diskussion stehen;

•nach der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit als positives und negatives Recht im Zuschnitt auf eine „Neutralität des Staates“, weil sich daraus Aufforderungen und Pflichten ergeben könnten, nämlich auch staatlicherseits Sorge dafür zu tragen, dass Menschen in positiver Weise von diesem Recht überhaupt Gebrauch machen können;

•nach dem Elternrecht, zum einen aus historischen Gründen (vgl. Kap. 2), drängender aber, weil sich daraus aktuell Fragen einer staatlichen Selbstbeschränkung hinsichtlich elterlicher Priorität in der Erziehung ihrer Kinder ergeben.

Das Vorgehen im ersten Abschnitt dieses Kapitels (3.1) gliedert sich dementsprechend nicht über die Hierarchie der Rechtsquellen, sondern ergibt sich aus den oben benannten Aspekten einer Befragung des staatlichen Rechts. Im zweiten Kapitel (3.2) wird dann zu untersuchen sein, inwieweit kanonisches Recht auf den Spezialfall einer KGS Anwendung finden kann und ggf. Anwendung finden muss.

3.1Staatliches Recht: Die Katholische Grundschule als öffentliche Schule

Die im Vergleich zu den anderen Bundesländern ungewöhnliche „Gliederung“ der Grundschule NRW in verschiedene Schularten verweist in einem ersten Schritt auf die Schulträgerfrage.

In der Bundesrepublik Deutschland besteht ausdrücklich kein staatliches Schulmonopol,199 wie aus Artikel 7,4 GG (Recht auf Gründung von privaten Schulen) hervorgeht: Grundsätzlich unterscheidet das Grundgesetz – und auf dessen Grundlage die weiteren Rechtsbestimmungen – zwischen öffentlichen und privaten Schulen, wenngleich die öffentliche Schule im Laufe der Schulgeschichte die Regelschule geworden ist. Öffentliche Schulen sind solche Schulen, die von sogenannten Gebietskörperschaften – wie etwa Stadt und Gemeinde – getragen werden, private Schulen befinden sich in der Trägerschaft von „Einzelpersonen, Personenvereinigungen oder Stiftungen des bürgerlichen Rechts“200. Aber auch Korporationen des öffentlichen Rechts, insbesondere die Kirchen, können Träger von Privatschulen, „Schulen in freier Trägerschaft“, sein.201

Die Grundschule als die für alle Kinder verbindliche und gemeinsame Schulstufe bildet die erste Pflichtschule innerhalb des bundesdeutschen Schulsystems. Sie umfasst in Nordrhein-Westfalen die Jahrgänge eins bis vier. In ihrer weltanschaulichen und religiösen Ausrichtung gliedert sie sich in drei verschiedene Schularten. Grundlage für diese Gliederung der öffentlichen Grundschulen nach Schularten in NRW bildet Artikel 12 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen insbesondere in den Abschnitten (2) und (3) 202:

 

„(2) Grundschulen sind Gemeinschaftsschulen, Bekenntnisschulen oder Weltanschauungsschulen. Auf Antrag der Erziehungsberechtigten sind, soweit ein geordneter Schulbetrieb gewährleistet ist, Grundschulen einzurichten.

(3) In Gemeinschaftsschulen werden Kinder auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen gemeinsam unterrichtet und erzogen.

In Bekenntnisschulen werden Kinder des katholischen oder des evangelischen Glaubens oder einer anderen Religionsgemeinschaft nach den Grundsätzen des betreffenden Bekenntnisses unterrichtet und erzogen.

In Weltanschauungsschulen, zu denen auch die bekenntnisfreien Schulen gehören, werden die Kinder nach den Grundsätzen der betreffenden Weltanschauung unterrichtet und erzogen.“203

Die Katholische Bekenntnisgrundschule ist demnach also eine von drei Schularten innerhalb des Grundschulsystems des Landes Nordrhein-Westfalen, dem die Kulturhoheit obliegt. Sie ist demnach

1.eine öffentliche Schule. Als solche fußt sie auf staatlichem Recht, vorrangig dem Grundgesetz, der Landesverfassung und der Schulgesetzgebung, die ihren äußeren und inneren Rahmen definieren.

Und sie ist

2.eine auf das Katholische Bekenntnis ausgerichtete Grundschule, womit sie in diesem Bereich in die „Definitionshoheit“ der Kirche fällt, denn die staatliche Neutralitätsverpflichtung zwingt den Staat da zur Zurückhaltung, wo es um substanzielle bzw. materiale Fragestellungen geht, die das Innere, die Selbstdeutung, der Kirchen berühren: Dem Staat ist es auf der Grundlage des Verbots der Staatskirche (Art. 137 GG) untersagt, auf kirchliche Inhalte Einfluss zu nehmen oder diese gar zu bestimmen.204

Das staatliche Recht ist nun danach zu befragen, in welcher Weise sich aus der Perspektive des „neutralen“ Staates Unterricht und Erziehung auf der Grundlage des katholischen Bekenntnisses in der öffentlichen Grundschule manifestieren und manifestieren dürfen. Wie ist es bestellt um die Legitimität einer öffentlichen Schule in konfessionellem Gewand?

3.1.1Aufnahme von Schülerinnen in die Grundschule

Artikel 12 Abschnitt 3 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, der besagt, dass Grundschulen auf Antrag der Erziehungsberechtigten als Gemeinschaftsschulen, Bekenntnisschulen oder Weltanschauungsschulen einzurichten sind, findet seine weitere Konkretisierung in § 26 des Schulgesetzes des Landes NRW (SchulG). Darin greifen die Abschnitte (2) und (3) die Formulierung der Landesverfassung auf und konkretisieren diese:

„(2) In Gemeinschaftsschulen werden die Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen gemeinsam unterrichtet und erzogen.

(3) In Bekenntnisschulen werden Kinder des katholischen oder des evangelischen Glaubens oder einer anderen Religionsgemeinschaft nach den Grundsätzen des betreffenden Bekenntnisses unterrichtet und erzogen. Zum evangelischen Bekenntnis im Sinne dieser Vorschrift gehören auch die bekenntnisverwandten Gemeinschaften.“

Bekenntnisschulen und Gemeinschaftsschulen sind also de jure verschiedene Arten von Schule innerhalb einer öffentlichen Schulform, zwei Gesichter einer Medaille. Beide Schularten zielen ab auf die Bildung und Erziehung aller schulpflichtigen Kinder, die sich in unterrichtlichen Kontexten realisieren. Zugleich aber sind die Gemeinschaftsschule und ihr Pendant, die Bekenntnisschule, in ihrer erzieherischen und bildungsmäßigen Ausrichtung und Konkretion deutlich unterscheidbar – zumindest was ihre rechtlichen Definitionen betrifft. Eine solche Unterscheidbarkeit drückt sich sowohl in materialen (Unterricht und Erziehung nach den Grundsätzen eines Bekenntnisses) als auch in formalen (Zusammensetzung der Schüler- und Lehrerschaft) Kriterien aus. So realisiert die Gemeinschaftsschule Unterricht und Erziehung der ihr anvertrauten Schülerinnen und Schüler dadurch, dass sie als eine solche schulische Einrichtung definiert wird, in der die Kinder in Offenheit für die christlichen und andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen erzogen und unterrichtet werden. In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1975 wurde diese Ausrichtung ausdrücklich bestätigt und damit für verfassungsgemäß erklärt.205 Dadurch ergibt sich zugleich eine deutliche Unterscheidbarkeit zur Bekenntnisschule, insofern es von der Gemeinschaftsschule noch genauerhin heißt: „Die Schule darf daher keine missionarische Schule sein und keine Verbindlichkeit christlicher Glaubensinhalte beanspruchen; sie muß auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein. Das Erziehungsziel einer solchen Schule darf - außerhalb des Religionsunterrichts, zu dessen Besuch niemand gezwungen werden kann – nicht christlich-konfessionell fixiert sein. Die Bejahung des Christentums in den ‚profanen’ Fächern bezieht sich in erster Linie auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat, nicht auf die Glaubenswahrheit, und ist damit auch gegenüber dem Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gegebenheiten legitimiert. Zu diesem Faktor gehört nicht zuletzt der Gedanke der Toleranz für Andersdenkende.“206 Die Offenheit für (verschiedene und unterschiedliche) christliche Bekenntnisse und andere Religionen drückt sich im Respekt und in der Honorierung derjenigen ins Allgemeingut übergegangenen kulturellen Werte und Normen aus, die ursprünglich ihre Heimat in religiösen Kontexten hatten. So beschreibt Ernst207 in seinem Kommentar zum soeben zitierten Text christliche Bildungs- und Kulturwerte als solche Werte, die einer Gesellschaft in langer Tradition und Geschichte zum Allgemeingut geworden sind, die also ihre Wurzeln in der abendländisch-christlichen Kultur haben, über die aber inzwischen – unabhängig von ihrem historisch konfessionell geprägten Ausgangspunkt – religionsunabhängig bzw. religionsübergreifend ein gesellschaftlicher Konsens herrscht.

Was bedeutet dies mit Blick auf unsere Fragestellung nach möglichen Propria einer Katholischen Grundschule neben denen einer Gemeinschaftsgrundschule?

Der Befund ist mehrdeutig: Zum einen sichert die Gemeinschaftsgrundschule eine Erziehung und Bildung, die Orientierung an christlichen Kulturwerten nehmen kann. Diese – wenn man so will „Grundwerte“ (z. B. die Nächstenliebe) – haben Eingang in den allgemeinen Wertekanon dieser Gesellschaft gefunden, so dass sie kein religiöses Spezifikum (mehr) darstellen, sondern eben eine allgemeine Wertehaltung der Gesellschaft, unabhängig von einem religiösen Bekenntnis. Da sich Werte in bestimmten Verhaltensnormen und hier speziell in religiöser Praxis ausdrücken, stellt sich theologisch und religionspädagogisch dann allerdings die Frage nach der Herstellbarkeit einer Verbindlichkeit und Verlässlichkeit religiöser Wertehaltungen ohne Bezug auf eine konkrete Religion oder Konfession. Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass es in der Regel sechs- bis zehnjährige Kinder sind, die eine Grundschule besuchen, so dass Fragen des spezifischen Zugangs zu beachten sind: Stellt eine Orientierung an christlichen Bildungs- und Kulturwerten bereits eine religiöse Erziehung dar? Oder umgekehrt: Bildet eine Orientierung an „christlichen Werten“ bereits ein hinreichendes Merkmal aus, so dass die Existenz zweier Schularten sogar ungerechtfertigt sein könnte?

Diese letztere Frage wird an späterer Stelle nochmals aufzugreifen sein, weil sie sich zwar aus einer juristischen Betrachtung ergibt, sich aber einer rein auf dieser Ebene angesiedelten Klärung entzieht.

3.1.2Der Staat als Träger einer Katholischen Grundschule

Die wesenhafte Trennung von Staat und Kirche in Deutschland lässt kritisch anfragen, ob sich der Staat mit den materialisierten Ausdrucksformen solcher allgemeinen Werte – wie die zur konkreten Ausgestaltung einer Gemeinschaftsgrundschule – überhaupt identifizieren darf oder ob und inwiefern eine Orientierung an konfessionellen Ausdrucksformen ausschließlich in solchen Einrichtungen Realisierung finden darf, die dies in ihrer Ausrichtung erkennbar verkörpern. Diese Frage verschärft sich noch, wirft man einen Blick auf statistische Werte:

Im Jahr 2013 waren in Deutschland 30,2 % der Bevölkerung Katholiken (davon rund 1,5 % Mitglieder orthodoxer Kirchen), 29,2 % waren Protestanten, 2-5% bekannten sich zum Islam, ungefähr 1 % gehörte anderen Religionsgemeinschaften an, und ca. 30,3 % waren konfessionslos.208 Angesichts dieser Diversität religiöser Bekenntnisse und der großen Zahl konfessionsloser Bürgerinnen und Bürger stellt sich die Frage nach staatlicher Neutralität und dem Verhältnis von Religion und Staat im Kontext von Grundschule vehement. Ein Blick in die Grundrechtsartikel zeigt, dass eine Annäherung an diese – zugegeben komplexe Frage – vielfältiger Bezüge bedarf.

Zunächst regelt Art. 4 GG die individuellen Rechte des einzelnen Bürgers: „(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“209

Art. 4 erklärt das Individuum zum Subjekt religiöser Entscheidung, und zwar auch im Sinne einer „Glaubensentscheidung“, deren Ergebnis positiv (Freiheit zur Religion) und auch negativ (Freiheit von Religion)210 ausfallen darf.

Diese Individualrechte zur Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und der ungestörten Religionsausübung211 korrespondieren mit den inkorporierten Artikeln der Weimarer Reichsverfassung (Art. 136-139 und 141), der deutschen Verfassung vom 11. August 1919, die in Art. 140 GG nicht im Sinne eines Anhangs, sondern als volle, gleichberechtigte Glieder der Verfassung Aufnahme gefunden haben.212 Art. 137 definiert eindeutig: „Es besteht keine Staatskirche.“ Dem Staat ist es damit nicht gestattet, sich mit einer Religion oder Religionsgemeinschaft zu identifizieren. Stefan Mückel, Rechtswissenschaftler der Universität Freiburg, schreibt in seiner Auseinandersetzung zum Verhältnis von Staat und Kirche: „Dem Staat als ‚Heimstatt aller Staatsbürger‘ ist die inhaltliche Identifikation mit einer Religion, einer Kirche, Religionsgemeinschaft oder Weltanschauung untersagt. Der moderne, säkulare Staat stellt die religiöse Wahrheitsfrage nicht (mehr); er kann nur dann Rechtsgehorsam einfordern und Integration vermitteln, wenn er im (gesellschaftlichen) Widerstreit religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen nicht Partei ergreift. So konsensfähig die Grundaussage ist, so sehr bedarf sie im konkreten Einzelfall der Prüfung, ob sich der Staat dergestalt kirchlichen oder religiösen Bezügen öffnet, daß er sich mit ihnen materiell identifiziert.“213

Die Frage um die Neutralität des Staates führte auch im Hinblick auf die staatlichen Schulen in der Vergangenheit zu sehr unterschiedlichen juristischen Auseinandersetzungen und Urteilen. Verwiesen sei hier exemplarisch auf die Urteile zur Anbringung von religiösen Symbolen in Unterrichtsräumen (Kruzifixurteile214), zum Tragen religiöser Kleidung (Kopftuchverbot215), zur Befreiung vom Schwimmunterricht („Burkini-Urteil“216) oder zur Frage nach dem Schulgebet217. Sie zeigen, dass der Begriff der Neutralität schillernd ist und der Präzisierung bedarf, ohne innerhalb dieser Untersuchung auf die staatskirchenrechtlich äußerst schwierige Problematik der religiösweltanschaulichen Neutralität des Staates eingehen zu können und zu müssen. Das Grundgesetz jedenfalls favorisiert nicht etwa den laizistischen Staat, sondern präferiert vielmehr eine positive, aktiv-kooperative Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften, eine wohlwollende Hinwendung in gleicher Förderung, damit auf diese Weise der Einzelne von seinem Grundrecht auf Religionsfreiheit Gebrauch machen kann.218

 

An dieser Stelle kann die komplexe Debatte zum Religionsverfassungsrecht nicht nachgezeichnet werden, wenngleich zu konstatieren ist, dass die Auseinandersetzungen um die Katholische Grundschule – und auch die um den (konfessionellen) Religionsunterricht an staatlichen Schulen - an diese Debatte anknüpfen. Sie mündet letztlich in der Frage, wie es der Staat in einer religionspluralen Gesellschaft mit der Religion hält. Eine „Privatisierung“ von Religion wird dabei schon allein wegen der Gefahr einer möglichen Radikalisierung (man denke an den Terroranschlag vom „9/11/2001“) keine Lösung darstellen. Die Trennung von Staat und Kirche, die im Verbot der Staatskirche ihren impliziten Ausdruck findet, bildet letztlich die Voraussetzung für die Erklärung freiheitlicher Rechte (auch) in der Religionsausübung. Erst ein auch in religiöser Hinsicht „neutraler“ Staat kann die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG), das Verbot der Benachteiligung aufgrund religiöser Überzeugungen (Art. 3 GG), die Freiheit des Glaubens und des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und deren Ausübung (Art. 4 GG) sowie das Verbot des Zwangs zur Religionsausübung (Art. 140 GG) garantieren.219 Staatliche Garantie und die damit verbundene Möglichkeit einer Machtausübung, die mit der Androhung und ggf. auch Ausübung von Zwangsmaßnahmen verbunden ist, bedürfen aber in einem demokratisch verfassten Staat der Legitimierung durch Zustimmung seiner Bürgerinnen und Bürger, die diesen Staat bilden.220 Religiöse und weltanschauliche Pluralität minimieren ein solches allgemeines Einverständnis. Schon daraus ergibt sich die Notwendigkeit staatlicher Neutralität, eben auch in Fragen der Religion, d. h. des religiösen Bekenntnisses und der Religionsausübung. Gerade in der Frage, ob der Staat als „Heimstatt aller Bürger“ überhaupt favorisierte Einrichtungen bereithalten darf und/oder sollte, wie dies mit der Einrichtung und Bereithaltung Katholischer Grundschulen der Fall ist, muss hier als ein staatsrechtlich und kanonisch juristisches Desiderat auch dieser Arbeit markiert werden. Die, um der Freiheit willen notwendige, staatliche Selbstbeschränkung, provoziert die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirchen und wirft die Frage nach einer Definition von Kirchen als „Körperschaften öffentlichen Rechts“ auf.

Christian Polke legt in seiner Untersuchung zu Fragen der weltanschaulichen Neutralität des Staates aus protestantisch-theologischer Sicht dar, dass Religion in doppelter Hinsicht der Öffentlichkeit bedarf. Er plädiert – gerade auch für das Bildungswesen – für ein Zusammenspiel von Religion und Politik als „aktive Religionspolitik“, die eine Herausforderung auf „beiden Seiten“ darstelle. Polke appelliert an ein politisch aktives Christentum und favorisiert ein (auch monetär) förderliches Verhältnis des Staates gegenüber den verschiedenen Religionsgemeinschaften. Die Neutralität des Staates realisiere sich so in einem Verhältnis auf Gegenseitigkeit. „In einem säkularisierten und mitunter bis zur Unkenntlichkeit religiös diffusen Klima kann Politik so einerseits die Bedingungen ihres eigenen Bestandes, nämlich das Vorhandensein und die öffentliche Kommunikation von ‚Ethos’ und ‚Kultur’ unter den sie tragenden Bürgern, erhalten und andererseits ihre staatliche Neutralität bewahren […]. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften haben gerade dann, wenn sie selbst Körperschaften öffentlichen Rechts sind, eine ethisch-moralische Pflicht zur Partizipation am öffentlichen Leben im Rahmen ihrer Wirkmöglichkeiten.“221 Polke sieht hierin keineswegs eine Instrumentalisierung der Kirchen seitens des Staates. Allerdings verbleibt er in seiner Argumentation auf der Ebene der Wertevermittlung und der sich daraus ableitenden Handlungsanforderungen. Mit Blick auf die hier verfolgte Fragestellung und fokussiert insbesondere auf die Problematik einer religiösen Erziehung und Bildung von Kindern, ist kritisch anzumerken, ob Polke das „Wesen“ von Religion dabei erfasst hat. Angesichts des oben bereits angezeigten Forschungsdesiderates um die KGS wäre daher – über die von Polke eingeschlagene Richtung einer Wertevermittlung als subsidiäre Aufgabe der Kirchen hinaus – weiter nach Klarheit in der Beschreibung des Verhältnisses von Staat und (katholischer) Kirche als Körperschaft öffentlichen Rechts zu suchen.

Welche Bedeutung hat dieser wenn auch unklare Befund für die beiden Schularten, in denen sich die Grundschule in NRW realisiert? Die zum Teil widersprüchliche Rechtsprechung in Fragen der religiösen Praxis in öffentlichen Gemeinschaftsgrundschulen ist angesichts der ungeklärten Neutralitätsdebatte so zu deuten, dass in dieser Schulart – in Abgrenzung zur KGS – im Zweifelsfall auf eine eindeutige religiöse „Materialisierung“ der normgebenden Bildungs- und Erziehungswerte verzichtet werden kann und ggf. auch muss. Um ein Beispiel anzuführen: In einem Urteil zum Tischgebet in der Offenen Ganztagsgrundschule, die als Gemeinschaftsschule geführt wird, hat das OVG NRW 2010 einen Vergleich angeboten, der angenommen wurde. Demnach darf dort zwar ein Tischgebet gesprochen werden, allerdings muss es einen gesonderten Tisch für jene Kinder geben, deren Erziehungsberechtigte nicht wünschen, dass ihr Kind ein Tischgebet spricht, und eine solche Platzierung schriftlich beantragt haben.222

Was also unter einer christlichen Erziehung zu verstehen ist, lässt sich aus rechtlicher Perspektive kaum ausmachen, denn die Rechtsprechung entsagt hier – wie gezeigt – einer eindeutigen Antwort. In dieser Frage spiegelt sich auch das ambivalente und plurale Verständnis der Gesellschaft in Fragen der Legitimität der Religionsausübung im öffentlichen Raum der Grundschule wider. Ulrich Rhode stellt in seiner Vorlesung „Religion und Religionsgemeinschaften im staatlichen Recht“ fest: „Insgesamt kann man die angebliche ‚Erziehung auf christlicher Grundlage‘ wohl weitgehend als toten Buchstaben ansehen.“223

Während sich nun also in der Gemeinschaftsgrundschule Unterricht und Erziehung auf allgemeinen christlichen Grundsätzen, in Offenheit für andere Religionen realisieren, diese Orientierung im Streitfall eine Ausübung von Religion im öffentlichen Raum aber erschwert oder verhindert, muss die KGS in ihrer religiösen Ausrichtung eindeutig sein, denn dies verspricht sie ja. Aus diesem Befund ergibt sich nun für die KGS, dass die in ihr handelnden Akteure in besonderer Weise aufgerufen sind, Unterricht und Erziehung auf der Grundlage des Bekenntnisses zu gestalten. Dies muss in einer solch klar profilierten Eindeutigkeit erfolgen, dass Theorie und Praxis einer KGS eine allgemeine Wertehaltung auf christlicher Grundlage – im Sinne der historisch gewachsenen Bildungs- und Kulturwerte (GGS) – deutlich übersteigen und konkretisieren.

Allerdings sei bereits an dieser Stelle kritisch angefragt, ob angesichts einer religionspluralen und auch säkularen Gesellschaft, aus deren Mitte ihre Handlungsträger – Schulleitung, Lehrerinnen, Eltern, Schülerinnen und Schüler – kommen, eine Orientierung an den sogenannten christlichen Werten erstes und zentrales Kriterium für die KGS auch aus theologischen Gründen tatsächlich wegführend ist. Oder stellt nicht ferner die berühmte Gretchenfrage – „Wie hältst du es mit der Religion?“ – den Ausgangspunkt zu Überlegungen nach einer religiösen Orientierung der Grundschule im öffentlichen Raum für alle Kinder dar? Eine Frage, die zumindest nach christlichem Verständnis und in theologischer Reflexion ohne eine entsprechende Orthodoxie und Orthopraxie keine Beantwortung finden kann. Für den christlich-theologischen Bezugsrahmen kann und darf der Staat in seiner gebotenen Neutralität nicht eintreten. Er bleibt neutral, ohne allerdings indifferent oder gar gleichgültig zu sein. Das Verbot der Staatskirche, das die Kirchen nicht etwa einem wie auch immer gearteten privaten Raum, sondern als Körperschaft dem öffentlichen Raum zuweist, fordert den Staat gerade dazu auf, solche Räume zu garantieren, die es dem Einzelnen überhaupt erst ermöglichen, eine tatsächlich religiöse Orientierung ausbilden zu können. (Grundlegende) Bildung, wie sie die Grundschule (vgl. Kap. 4.2.1.1) intendiert, muss Möglichkeiten bereithalten, die es dem Kind in aller Freiheit erlauben, eine basale religiöse Kompetenz224 zu erwerben, eben eine solche, die es ihm überhaupt einmal ermöglichen wird, eine selbstständige religiöse Entscheidung zu fällen. Wenn Avenarius meint: „Mithin scheidet Art. 4 GG als Rechtsgrundlage für das Betreiben katholischer Schulen aus“225, so stelle ich eine Anwendung dieser Auffassung auf den Bereich der KGS jedenfalls in Frage. Artikel 7 (Fn 4) der Landesverfassung NRW erhebt ja gerade die Aufgabe, „(1) Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken“, zu den vornehmsten Zielen der Erziehung. Religion, definiert als „ein spezifischer Bezug zwischen dem ‚Transzendenten‘ einerseits und den Menschen andererseits“226, kann aber nicht allgemein, unabhängig von einer bestimmten, spezifischen Lehre gedacht und praktiziert werden. Das genannte Erziehungsziel ruft also geradezu dazu auf – in aller Freiheit –, Kindern einen Lern- und Lebensraum zu eröffnen, in denen sie zunächst einmal erfahren können, wer dieser Gott für den Menschen sein will, um so eine „Ehrfurcht“ entwickeln zu können. Dieser Gedankengang wird in Teil III aufgegriffen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?