Winger

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"Sie selbst hatten oft Ärger mit Rosa?"

"Na, sagen wir – sie duldete keinen anderen Herrn neben sich", sagte Eduardo nachdenklich. "Aber ich bin nun mal der Besitzer des Klubs."

"Und Elmonds Frau?"

"Ich nehme an, sie weiß nichts von Rosas Existenz."

"Rosas Arbeitskollegin sagte mir, sie sei mit Elmond in ein Jagdhaus irgendwo in der Nähe von Frankfurt gezogen?"

"Ja, mag schon sein. Elmond hatte seit langem ein ziemlich distanziertes Verhältnis zu seiner Frau. Frau Elmond handelt mit Kunst und Antiquitäten. Sie gingen sich aus dem Weg, wo immer es möglich war. Elmond war oft auf Reisen, das brachte seine Arbeit als Rechtsanwalt so mit sich."

"Und was ist an dem Gerücht dran, er wolle sich noch ein zweites Mal für eine Kandidatur als Oberbürgermeister bewerben?

"Ein paar Tage, nachdem er Rosa kennengelernt hatte, war er plötzlich wie verwandelt – ein anderer Mensch. Er sagte, es hätten sich ganz neue Perspektiven für ihn ergeben. Seine Chancen in der Politik seinen beträchtlich gestiegen."

"Und worauf führten Sie diesen Sinneswandel zurück?“, fragte Linda.

"Keine Ahnung – ich habe keinen Schimmer. Das müssen Sie mir einfach glauben. Elmond war nicht der Typ, der einem über ein paar beiläufige Bemerkungen hinaus viel anvertraute."

"Ziemlich wenig für ein so schönes Haus, finden Sie nicht?"

"Was kann ich Ihnen anderes sagen?" Eduardo hob bedauernd die Hände. "Oder warten Sie, da ist noch ein Punkt, der vielleicht von Interesse sein könnte ... Rosa war manchmal für ein paar Tage verschwunden."

"Verreist, meinen Sie?"

"Niemand wusste, wo sie sich aufhielt."

"Und was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?"

"Keine Ahnung."

"Verschwand Rosa auch, als sie mit Elmond zusammen war?"

"Da auch, ja, für zwei bis drei Tage."

"Fuhr Sie mit dem Zug oder mit dem eigenen Wagen?"

"Sie sagte immer nur, sie müsse jetzt wieder für kurze Zeit verreisen. Aber sie käme bestimmt zurück."

"Und Sie haben nie den kleinsten Hinweis darauf gefunden, wo sie stecken könnte?“, fragte Linda.

"Irgendwann nahm ich den Anruf eines Reisebüros entgegen. Das Mädchen sagte, Rosas Verbindung sei wegen eines Fahrplanwechsels geändert worden. Aber ich erinnere mich nicht mehr genau, worum es dabei ging."

"Sie erinnern sich nicht – wie bedauerlich für Sie, Eduardo."

"Nun machen Sie aber mal einen Punkt", sagte Eduardo sichtlich beleidigt. "Wir haben einen klaren Vertrag miteinander geschlossen. Vertrauen gegen Vertrauen. Vielleicht war es München, irgendein kleiner Ort bei München, ja. Aber ich erinnere mich nicht mehr genau. Und einmal sagte Rosa, sie müsse noch ein paar warme Anziehsachen besorgen. Alte Leute seien immer schrecklich schwierig. Aber das war ihr wohl nur so herausgerutscht, denn als ich fragte, um wen es sich handele, wurde sie plötzlich ganz ernst und behauptete, ich müsse mich verhört haben."

"Ein kleiner Ort bei München – alte Leute", wiederholte Linda. "Ein Ort mit Bahnanschluss?"

"Woher soll ich das wissen?"

"Hm, natürlich." Sie stand auf und reichte ihm die Hand. "Ich denke, Sie haben mir sehr geholfen, Eduardo. Es bleibt bei unserer Vereinbarung."

"Na fein. Warten Sie, ich begleite Sie zum Ausgang."

"Kann allerdings sein, dass ich Sie später noch mal in Anspruch nehmen muss."

Als wir die Halle passierten, stand Balwin neben einem der Spielautomaten und blickte uns sichtlich neugierig nach. Seine Handbewegung über dem Geldschlitz wirkte wie eingefroren, und wenn er dort stehen geblieben wäre, hätte er eine gute Reklamefigur für genau die Art von Spielern abgegeben, die in diesem Viertel ihr Taschengeld verhökern.

"Und Sie wissen nicht zufällig, wo ich das Mädchen vom Phantombild finde, Eduardo?“, fragte Linda, schon in der offenen Schwingtür stehend.

"Nein, sollte ich?"

4

Während wir zum Wagen gingen, versuchte ich Bilanz zu ziehen. Linda hatte in der Zeitung das Phantombild eines Mädchen gesehen und sich gefragt, warum die Polizei wohl so sparsam mit ihren Informationen umging, warum sie keine Angaben über die Art des Verbrechen machte. Das schien ihren journalistischen Ehrgeiz herauszufordern. Angeblich war die junge Frau Prostituierte oder Callgirl. Also hatte Linda sich kurzerhand einen Leibwächter zugelegt – und dieser Leibwächter war zufällig ich –, um mit ihm durch die einschlägigen Etablissements der Stadt zu ziehen.

Bei der Suche war sie auf ein anderes leichtes Mädchen gestoßen, das die Frau auf dem Phantombild kannte. Ihrer Meinung nach hieß sie Rosa Vanessa und hatte mit ihr im Eduardo zusammengearbeitet. Rosa hätte sich kürzlich einen Kerl namens Robert Elmond geangelt, einen wohlhabenden Rechtsanwalt, und sei mit ihm in ein Jagdhaus vor der Stadt gezogen. Also hatte Linda nach einen Jagdhaus in der Umgebung gesucht und einen Verwalter namens Horst Gerlach aufgetrieben, der ihr berichtete, Elmonds Frau Elvira habe vor ein paar Tagen wegen ihres Mannes Vermisstenanzeige aufgegeben, und wenig später hätte man eine bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche hinter Elmonds Jagdhaus gefunden. Deshalb zögere die Polizei noch, bei der Fahndung vom Tod des Rechtsanwalts zu sprechen. Mit diesen Informationen war Linda weiter durch die Etablissements getingelt und hatte herausbekommen, Rosa sei plötzlich über alle Berge, habe aber ein paar Tage vor ihrem Verschwinden noch vollmundig verkündet, sie werde bald das Eduardo übernehmen und den Geschäftsführer feuern.

Wie das? hatte Linda sie sich gefragt, wenn Eduardo doch der rechtmäßige Besitzer des Ladens war. Und so war sie auf den kleinen Bluff verfallen, Eduardo mit dem Hinweis auf seinen – vermuteten – Teilhaber aus der Reserve zu locken, um noch ein wenig mehr über die Hintergründe von Elmonds Tod und das Verschwinden des Mädchens Rosa erfahren.

So gut so schön, allerdings war mir nicht ganz klar, wieso sich Eduardo überhaupt so leicht von Linda hatte in die Enge treiben lassen.

"Und warum befürchtet Eduardo, sein toter Kompagnon Elmond würde jetzt noch irgendwelche Rechte gegen ihn geltend machen?“, fragte ich, als wir in den Wagen stiegen, um uns ein zweites Mal an Elmonds Jagdhaus umzusehen.

"Na, weil ich ihn deswegen in die Pfanne hauen könnte", sagte Linda. "Haben Sie eigentlich während der ganzen Zeit auf Ihren Ohren gesessen, Winger?"

"Jemand, der als Strohmann und wirklicher Inhaber auf Nummer Sicher gehen will, wird natürlich irgendwelche Vorkehrungen für sein Eigentum treffen."

"Eben – das Eduardo ist mit Bau und Grundstück ein paar Millionen wert. Robert wird es Eduardo kaum auf Treu und Glauben überlassen haben."

"Aber Eduardo steht als rechtmäßiger Besitzer im Grundbuch?"

"So was regelt man leicht durch einen Sichtwechsel. Der ist undatiert und wird erst bei Vorlage fällig. Eduardo musste also jeden Tag damit rechnen, sein angeblich rechtmäßiges Eigentum zu verlieren. Wahrscheinlich hat er nicht mal die Hälfte, sondern überhaupt keinen einzigen Pfennig in das Geschäft investiert und profitiert nur durch seinen Anteil am Gewinn aus dem Laden. Die Zahlungsverpflichtung des Wechsels ist rechtlich gesehen vom Grund, aus dem die Schuld entstanden ist, unabhängig. Was wirklich hinter dem Geschäft steckt, danach kräht kein Hahn, das geht niemanden bei der Vorlage des Wechsels etwas an."

"Aber jetzt scheint Elmond tot zu sein?"

"Na, er wird sich natürlich für den Fall seines Todes abgesichert haben. Der Wechsel ist wahrscheinlich so ausgestellt, dass er ohne Probleme auf Elmonds Erben – seine Frau oder seinen Sohn – übergehen kann."

"Und bei einem Notar hinterlegt?"

"Zum Beispiel, ja."

"Dann verliert Eduardo seinen Laden auch, ohne dass Sie ihn deswegen in die Pfanne hauen, oder?"

Linda warf mir einen Blick zu, als hätte ich in der Hilfsschule meine Nachhilfestunden verschlafen – als zeuge meine Frage wieder einmal von meiner grenzenlosen Naivität in Sachen Geld. Aber schließlich ließ sie sich doch zu einer Antwort herab:

"Elmond wird natürlich ungern zugeben, in welchen Geschäften er seine Finger hat, auch gegenüber seiner Frau und seinem Sohn. Das hat ihm schon mal eine Niederlage bei der Wahl zum Oberbürgermeister eingetragen. Um den Wechsel beim Notar zu aktivieren, müsste jemand seine Ansprüche darauf anmelden. Da niemand außer uns beiden und Eduardo etwas davon weiß, bleibt er ein wertloses Stück Papier."

"Alle Achtung, so wird so was heutzutage gedreht?“, sagte ich nachdenklich.

"Stellen Sie sich eigentlich dümmer an, als Sie sind, Winger?“, fragte sie missbilligend und legte krachen den ersten Gang des Wagens ein. "Oder versuchen Sie sich mit ihren halbgaren Fragen bloß ins Geschäft zu bringen?"

"Ich finde, Misstrauen mir gegenüber ist ganz unangebracht", sagte ich. "Und wenn Sie die ganze Republik absuchen – Sie werden keinen Klienten finden, der mir nachsagen könnte, ich hätte ihn geschäftlich übers Ohr gehauen."

"Das sieht man an Ihrem Ein-Mann-Büro mit Klappliege", bestätigte sie abfällig.

"Ja, Ehrlichkeit zahlt sich nicht aus."

"Wenn Sie schon Ihre Fäuste gebrauchen, dann sollte auch etwas dabei herausspringen, finde ich."

Vor der Fahrt zu Elmonds Jagdhaus machten wir Halt an einem rustikalen Landgasthaus, in dem es noch alte Frankfurter Hausmannskost gab. Kein neumodisches Zeug mit "Dressing light" oder "Magermilchjoghurt", sondern ganz gewöhnliche Mayonnaisen aus Eiern von freilaufenden Hühnern, deren Treiben man hinter dem niedrigen Gartenzaun beobachten konnte. An den niedrigen Deckenbalken hingen Kessel und Pfannen, und im Gästezimmer stand ein gekachelter Küchenherd aus Omas Zeiten. Die Wirtin war fast genauso alt wie der Herd, aber immer noch eine Seele von Mensch, obwohl sie mehr gesehen haben musste in ihrem Leben, als man einem einzelnen Menschen zumuten sollte.

 

Während des Essens fiel Linda plötzlich ein, dass Elmonds Hausverwalter, früh zu Bett ging, und sie wollte sofort aufbrechen.

Ich überredete sie nur mit Mühe dazu, noch einen Abstecher zu meiner neuen Mainzer Detektei zu machen, damit ich mir den Posteingang ansehen und ein paar frische Hemden einpacken konnte. Wir brauchten fast eine halbe Stunde für die fünfzehn Kilometer Luftlinie, weil irgendein Autofahrer schneller als die anderen hatte sein wollen und frontal gegen einen Brückenpfeiler geprallt war.

"Großer Gott", jammerte sie, als wir an dem schwarzen Blechgerippe des ausgebrannten Wagens vorüberfuhren, und hielt sich bleich an meiner Schulter fest. "Sind wir eigentlich alle übergeschnappt? Was ist bloß mit diesem Land los? Sehen Sie sich nur die Heerscharen von Schaulustigen an."

"Das ist Unfall pur – echtes, unverfälschtes Schicksal ohne Kameratricks und Kommentatoren. So was wird nicht mal im Fernsehen geboten."

"Sind Sie etwa auch einer von diesen unausstehlichen kleinen Zynikern, die längst auf Spott statt Menschlichkeit umgeschaltet haben?"

"Nein, wenn Sie mich erst besser kennengelernt haben, werden Sie finden, dass ich ein ganz patenter Kerl bin."

Anscheinend war Linda nicht so hart im Nehmen, wie sie vorgab. Aber eine Viertelstunde später schien sie schon wieder fast die Alte zu sein. Sie spazierte durch das Apartment, stieß mit der Fußspitze gegen meine Klappliege, öffnete die Einbaukleiderschränke, wühlte ohne Hemmungen in ein paar Aktenstapeln und setzte sich dann auf einen der drei Besucherstühle, um spöttisch und mit übereinandergeschlagenen Beinen mein Treiben zu beobachten.

"Wo duschen Sie eigentlich, Winger?"

"Im Flur gibt es eine Gemeinschaftsdusche für die ganze Büroetage."

"Gemeinschaftsdusche, aha. Ist es überhaupt erlaubt, in seinem Büro zu wohnen?"

"Bis jetzt hat sich noch niemand darüber beschwert."

"Und warum haben Sie keine eigene Wohnung wie jeder normale Mensch?"

"Finden Sie nicht, dass das meine Privatsache ist?"

"Nehmen wir mal an, ich würde zu Ihnen ziehen ..."

"Ja?"

"Nur hypothetisch. Glauben Sie im Ernst, dass eine Frau in diesem Loch mit Ihnen zusammenleben könnte?"

"Ihre Fragen erinnern mich an die Sprüche der guten alten Briefkastentante, die für alles eine Lebensregel parat hat und auf alles eine Antwort weiß. Aber es gibt eine Menge Burschen hier im Lande, die unter Markständen übernachten und sich dabei ganz wohl fühlen."

5

Elmonds Jagdhaus lag weit draußen im Südosten hinter einem beschaulichen Viertel mit dem hübschen Namen Rosenhöhe. Wenn man die Landstraße zum Forsthaus entlangfuhr, wirkten die Hochhaustürme der Stadt beim Blick durch die Heckscheibe wie eine Fata Morgana – als schwebten sie über dem Smog und Dunst wie eine flirrende Luftspiegelung, die nach dem nächsten Wimpernschlag zerstieben könnte.

Aber sie waren realer als das meiste, was Klienten und Täter, Zeugen und Ermittler jemals als Meinung oder sogenannte "Tatsachen" in einem Fall mitteilen könnten – von der Absicht dreist zu lügen, ganz zu schweigen. Weil Meinungen und sogenannte Tatsachen in einem Mordfall nun einmal genauso unbeständig und flüchtig sind wie Luftspiegelungen.

Ein Zeuge, der jemanden aus fünfzehn Metern Entfernung dabei beobachtet, wie er auf sein Opfer mit einem Messer einsticht, wird bei der polizeilichen Vernehmung vielleicht plötzlich zu dem Schluss kommen, er habe sich von einem Schattenspiel in die Irre führen lassen, von einem Messer, das nur ein Füllhalter war, von einem drohenden Zeigefinger.

Und natürlich gibt es für diesen Sinneswandel Gründe. Die Suggestivfragen des Beamten, das Unbehagen, verhört zu werden, die Angst, vor Gericht aussagen zu müssen, die Furcht vor Rache, Bequemlichkeit, Müdigkeit, plötzliche Erinnerungslücken.

Es gibt so viele Gründe wie Menschen.

Deshalb war Lindas Absicht, noch einmal mit Robert Elmonds Hausverwalter Gerlach zu sprechen, gar nicht so abwegig. Angeblich hatte er die verbrannte Leiche hinter dem Haus beim Vergraben von altem Laub entdeckt. Aber der Wald um das Jagdhaus bestand aus Fichten. Linda war sich da ziemlich sicher, während ich glaubte, an der Ausfahrt zur Straße eine Wiese mit alten Laubbäumen gesehen zu haben.

Doch was noch schwerer wog: Gerlach hatte eine erstaunliche Vergangenheit für einen einfachen Hausverwalter. Er war lange Zeit Parteivorsitzender der Nationalen Vereinigung gewesen, einer rechtsradikalen Partei, die man wegen verfassungsfeindlicher Tendenzen verboten hatte.

Was brachte einen angesehenen Rechtsanwalt und konservativen Politiker wie Robert Elmond dazu, einen solchen Mann einzustellen?

Linda hatte nach ihrem ersten Gespräch mit Gerlach noch mehr über ihn herausgefunden: nämlich dass er kürzlich von der Polizei verwarnt worden war, weil er Elmonds Jagdhaus ein paar alten Parteigenossen für eine Tagung zur Verfügung gestellt hatte, die im Verdacht standen, das alte Gedankengut der Nationalen Vereinigung neu beleben zu wollen. Ohne Wissen Robert Elmonds allerdings, denn der Verdacht, rechten Gruppen nahezustehen, wäre ihm bei seinem politischen Comeback sicher hinderlich gewesen.

"Gerlach ist mir irgendwie unheimlich – bitte bleiben Sie lieber in der Nähe, wenn ich mit ihm spreche, ja?“, sagte Linda, als wir vor dem Gartentor in der Einfahrt hielten. Die Laubbäume auf der Wiese waren zwei armselige Birken, flankiert von einem Wäldchen hoher Fichten, und weiter hinten, nur durch zwei schmalere Wiesenstücke getrennt, wurde der Nadelholzwald so dicht, dass man nicht mehr hindurchsehen konnte.

"Kein Problem. Dafür bin ich schließlich engagiert worden."

"Haben Sie eine Waffe?"

"Nein, wozu?"

"Weil diese Burschen von der Nationalen Vereinigung hier im Wald angeblich schon zweimal Schießübungen abgehalten haben sollen."

"Wer sagt das?"

"Nachbarn, die nahe genug wohnen, um Schüsse hören."

"Dies ist schließlich ein Jagdhaus. Zu einem Jagdhaus gehört ein Jagdrevier. Wahrscheinlich gibt es oben am Hang ein paar Hochstände und Schneisen für den Ansitz. Wenn es da mal in der Nacht knallt, spricht das nicht gleich für Schießübungen rechtsradikaler Kommandos."

"Eben, es ist verdammt unverdächtig."

"Damit wollen Sie sagen, es ist so unverdächtig, dass es sich bestens für so was eignet?"

Das Gittertor war abgeschlossen, sonst wären wir bis zum Parkplatz gefahren. Da wir nicht in der Einfahrt parken wollten, fuhr Linda den Wagen über den abzweigenden Seitenweg zu einem asphaltierten Wendeplatz mit Streusandkisten. Glücklicherweise schien jemand vergessen zu haben, die kleine Tür für Fußgänger neben dem Haupttor zu schließen. Erst als ich einen Blick auf das Schloss warf, entdeckte ich, dass es kein Zufall war: In der Aussparung steckte ein Stück zerknülltes Papier.

Der Haupteingang lag auf der anderen Seite. Ich folgte Linda zum Bach und dann am Ufer entlang bis zu der Stelle, wo ein wackliger Holzsteg ohne Geländer zur Veranda führte. Linda blieb stehen und wandte sich nach mir um. "Und warum trägt ein Kerl wie Sie bei seinem Job keine Waffe?"

"Ich hatte mal eine, während meiner Zeit als Leibwächter. Aber als ich den Job hinschmiss, hat man mir den Waffenschein abgenommen."

"Sie waren Leibwächter? Das wusste ich nicht."

"Ich war schon so ziemlich alles, was irgend etwas mit Sicherheit und Ermittlungen zu tun hat. Fahrer eines Geldtransporters, Trainer für Nahkampftechniken in den Geheimdiensten, Bodyguard für Politiker."

"Weil Ihre Detektei nie genug abgeworfen hat?"

Linda hatte eine spitze Zunge. Viele Frauen, die so aussehen wie sie und zugleich intelligenter als harmlose Modepuppen sind, scheinen zum Spott, ja sogar zum Zynismus zu neigen. Genau zu der Art von Zynismus, die sie mir eben noch selber hatte unterstellen wollen. Vielleicht liegt das daran, dass sie glauben, die Männer durchschaut zu haben, und das Ergebnis ist nun mal in aller Regel kläglich:

Sex, Geld, Macht, Ruhm – das klassische Vierergespann. Vielleicht auch noch ein wenig Imagepflege mit großen Häusern und schweren Schlitten. Vielleicht Maßanzüge oder irgendein exzentrisches Hobby. Das sind die Ingredienzien seiner Träume. Und manchmal schafft er es mit viel Ellenbogen und Skrupellosigkeit, sie zu verwirklichen. Man versteht sehr leicht, wie ein Durchschnittsmann funktioniert.

"Nein, weil mich die Menschen interessieren", sagte ich. "Und weil man nie auslernt in meinem Gewerbe."

"Ernsthaft? Sie machen das alles nur, um sich weiterzubilden?"

"Bildung wäre etwas zu hochtrabend. Auf einem Geldtransporter bekommt man einen Blick für verdächtige Situationen. Und die Burschen in den Geheimdiensten sind eine ganz besondere Mischpoke. Neigen zu Verfettung und Muskelschwund, leiden an Hämorrhoiden und Paranoia, trauen ihrer eigenen Großmutter zu, dass sie ihre vergessene Aktenmappe an den russischen Geheimdienst verhökern könnte."

Auf der Veranda wurde das Licht eingeschaltet, dann trat ein dickleibiger Mann mit blauem Einreiher und Weste aus der Tür, nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und schnippte den Rest in den Bach.

Er war höchstens fünfzehn Meter von uns entfernt. Er hätte uns sehen können, wenn er den Blick gehoben hätte. Aber er sah uns nicht. Vielleicht war der Schatten unter den Fichten dunkler, als es auf dieser Seite des Bachs den Anschein hatte. Oder er war zu sehr in Gedanken versunken, um überhaupt irgend jemanden und irgend etwas zu sehen. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder im Haus.

"Das ist doch nicht Gerlach", sagte ich.

"Nein, Gerlach war schlanker und nicht so alt."

"Ich habe ihm damals nur für ein paar Sekunden gegenübergestanden, aber er sieht ihm auch nicht ganz unähnlich, oder?"

"Hm, glauben Sie?" Linda spreizte unschlüssig ihre Unterlippe. "Er hat noch einen älteren Bruder. Vielleicht ist das Gerlachs Bruder? Aber der soll eigentlich wegen der Organisation eines Anschlags auf eine Grenzstation hinter Gittern sitzen."

"Auf eine Grenzstation?"

"Er hat ein paar Mitglieder der Jungen Nationalen dazu angestiftet, an einem bayrischen Übergang das Gebäude des Grenzschutzes in Brand zu setzen, weil man in diesem Bezirk angeblich zu nachlässig gegen Asylbewerber und illegale Grenzgänger vorging."

"Die Jungen Nationalen sind so was wie die Jungsozialisten oder Jungliberalen in der Nationalen Vereinigung?“, fragte ich.

"Rechter Pöbel, junge Arbeitslose, die ihren Frust abreagieren wollen, Schläger, Säufer, Fußballrowdys, in den Nationalsozialismus verliebte Psychopathen."

"Sie stehen eher auf der liberalen Seite, Linda?"

"Sehe ich aus wie jemand, der Molotowcocktails in Ausländerheime werfen würde?"

Ich hätte sie fragen können, wie das zu ihrer Arbeit für Walter Born passte. Darauf hätte sie wahrscheinlich geantwortet, dass Borns Zeitung mit diesem rechten Klüngel so wenig gemein hatte wie ein gepflegter Panther im Zoo mit einer streunenden, verwilderten Hauskatze. Die Verwandtschaft sei allenfalls dritten oder vierten Grades.

Im Verandafenster waren die Vorhänge zugezogen, doch man sah, dass dahinter Licht brannte. Und wenn man genau hinhörte konnte man leise Männerstimmen hören.

Wir gingen um das Haus herum. Auf dem Parkplatz standen schweren Wagen, die meisten aus der Umgebung, aber es waren auch ein paar norddeutsche und ostdeutsche Kennzeichen darunter.

"Scheint so was wie ein geheimes Parteitreffen zu sein", sagte ich. "Glauben Sie, dass Elmonds Tod etwas mit der Nationalen Vereinigung zu tun haben könnte?"

"Kann ich mir nur schwer vorstellen."

"Ich finde, unter diesen Umständen sollten wir unseren Besuch lieber verschieben."

"Und warum warten wir nicht ab, bis das Treffen vorbei ist?"

"Wo denn, auf den Bäumen?"

"Nein, wir heben einfach ein paar Schützengräben aus, damit Sie hier kein Vietnamtrauma bekommen." Linda blickte sich suchend um. "Vielleicht drüben am Waldhang. Von da aus kann man die Einfahrt sehen. Sie haben keine Waffe, und Sie haben nicht mal Mumm, Winger. Warum glauben eigentlich alle, dass Sie so ein gefährlicher Bursche sind? Nur weil Sie sich mal an irgendeinem Kinn versehentlich die Faust blutig geschlagen haben?"

 

Auf diese von Herzen kommende Bemerkung blieb ich ihr lieber die Antwort schuldig.

In halber Höhe am Hang lagen ein paar umgestürzte Fichten, und wir setzten uns rittlings auf die Stämme, Linda leichtsinnig die nackten Beine angewinkelt, obwohl uns in der Dämmerung Insekten so groß wie Kaffeelöffel umschwirrten – und dabei entdeckten wir zu unserer Überraschung, dass man von hier oben bequem durch die beiden unverhängten Doppelfenster in Elmonds Salon sehen konnte.

Die Altherrenriege in dunklen Anzügen dort unten gehörte eher zur Kategorie "Trag meinen Bauch ins nächste Restaurant und reich mir die Speisekarte", als zum illustren Kreis stiernackiger Heil-Hitler-Schreier mit gescheiteltem Kurzhaar, wie man sie sich bei einer geheimen Versammlung rechtsradikaler Politiker vorstellte. Männer mit den graumelierten Köpfen von Aufsichtsräten und Managern. Das Kalte Büfett war fast so lang wie der Raum. Und wenn ich mich nicht irrte, kamen auf jeden Kopf mindestens anderthalb Flaschen Champagner.

Sie schienen sich sehr sicher zu fühlen, denn anscheinend gab es auf dem Gelände nicht mal einen Wachmann. Darauf deutete auch das Stück Papier im Schloss des Gartentors. Wer mit dem Wagen die Einfahrt heraufkam, wusste, was er zu tun hatte: aussteigen und durch die Tür für Fußgänger gehen, von innen den Riegel des großen Tors öffnen, den Wagen hereinfahren und das Tor wieder hinter sich schließen.

"Vielleicht sollten wir uns doch lieber die Wagennummern notieren", sagte ich. "Hier ist was Größeres im Gange, und irgendwann könnt's möglicherweise wichtig sein, das zu überprüfen."

"Übernehmen Sie das, Winger. Ich werd' mich mal um die alten Knaben kümmern."

"Vorsicht", sagte ich.

"Selber Vorsicht."

Ich sah ihr nach, wie sie den Hang entlanglief. Irgendwo schlug ein Hund an. Aber das war ein gutes Stück weiter draußen, noch jenseits der Landstraße oder im Wald. Als Linda das Haus erreicht hatte, verschwand sie in seinem Schatten, als habe es sie nie gegeben, und ich machte mich ebenfalls auf den Weg, hielt mich aber ein gutes Stück weiter links und arbeitete mich dann durch das Dickicht zum Parkplatz auf der anderen Seite der Einfahrt hinunter.

Ich nahm eine alte Kassenquittung über zwei Kisten Mouton Cadet Rothschild aus der Brieftasche und begann auf ihrer Rückseite die Wagennummern zu notieren. Als ich damit fertig war, schob sich der Mond über den Dachfirst und beleuchtete mich und mein Werk wie mit einer zu starken Taschenlampe – also kehrte ich lieber in den Schatten der Bäume zurück, um Lindas Rückkehr abzuwarten. Wahrscheinlich war sie jetzt hinter dem Haus. Am Fenster konnte man die Stimmen drinnen sicher hören, so laut, wie sie schon auf der Verandaseite gewesen waren.

Eine Tür schlug. Dann bellte wieder ein Hund, diesmal noch weiter entfernt. Die Geräuschkulisse erinnerte mich an etwas, das ich schon hundertmal oder noch öfter gehört hatte. Es ist das Vakuum, die Stille, in der alle Geräusche wie Vogelzwitschern, das Rauschen des Windes und das Knarren der Bäume nur noch zu Hintergrundgeräuschen werden – weil einem irgendein unerklärlicher, aber untrüglicher Instinkt sagt, plötzlich sei etwas faul im Staate Dänemark.