Trojanische Pferde

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5

Keißens Haus war nicht das, was ich erwartet hatte. Keine der protzigen Villen, die Leute mit seinem Einkommen aus der Portokasse finanzieren, sondern eine düstere Mietskaserne, eher Wohnblock als Haus, weil sie sich um zwei Straßenecken zog.

Am offenen Ende des Hufeisens befand sich ein verfallener Park, in dem gelbes Laub lag, und zwischen den Wänden des Innenhofs erstreckte sich ein ebenerdiger Flachdachbau, der über einzelne Gänge mit den Seiten des Hauptgebäudes verbunden war. In keinem der Fenster brannte Licht.

Die Fassaden sahen aus, als wenn sie ihren letzten Anstrich lange vor dem Untergang der Titanic erhalten hätten, und das war schließlich auch schon ein ganzes Weilchen her.

Ich zog an der altmodischen Türglocke, und es klang, als wenn ich um Mitternacht in einem verlassenen Kloster Einlass begehren würde. Genauso verloren, weit entfernt bimmelnd und vergeblich. Kein Schlurfen von Schritten aus der Ferne, kein mürrisch dreinblickender Mönch, der einem einsamen Wanderer das Nachtlager abschlug.

Als ich meinen Versuch zum drittenmal wiederholt hatte, entdeckte ich über mir das Kameraauge. Es war im Türrahmen eingelassen, da, wo sich einmal der Öffner für das Oberlicht befunden haben musste.

Ich hob ein vertrocknetes gelbes Blatt vom Boden auf, das die Straßenfeger beim letzten Großreinemachen übersehen hatten, feuchtete es mit Spucke an und klebte es auf das Objektiv …

Die Gegensprechanlage neben meinem Ohr knackte.

Einen Augenblick später ertönte der Summer. Ich drückte die Tür auf.

An der Decke über mir brannte eine armselige Glühbirne ohne Schirm, ungefähr so schummrig wie das Ding, das meinen Kühlschrank beleuchtete. Und dann noch mal eine über dem Treppenabsatz.

Keißen kam durch das hohe Treppenhaus herunter, eine Hand in der Tasche seines Sakkos. Als ich ihn sah, erinnerte ich mich wieder an seine Geschichte.

Sie war ein paar Mal mit den dazugehörigen Fotos durch die Lokalblätter und die Regenbogenpresse gegangen. Keißen war mal Schwimmchampion gewesen, bevor er es sich hatte leisten können, ein Imperium abbruchreifer Häuser zu erwerben, um damit möglichst viel Geld zu scheffeln. Er verlangte jedes Opfer von seinen Mitarbeitern und war gegen sie genauso hart wie gegen sich selbst.

Es kam mir merkwürdig vor, dass so einer sich auf seine alten Tage eine junge Thailänderin an Land gezogen haben sollte.

Er war jener Typ von Männern in vorgerücktem Alter, die alles für ihre Gesundheit und ein langes Leben tun. Ein hagerer hakennasiger Asket, der im Winter in vereisten Seen badete, um sich abzuhärten, und es ablehnte, bei Temperaturen unter Null wie gewöhnliche Senile einen Schal zu tragen. Seine Gesichtshaut sah aus, als habe der mongolische Wüstenwind daran schon mal zu Übungszwecken sein Mütchen gekühlt, und zwar mit gutem Erfolg.

“Hallo”, sagte er. “Ihr Scherz eben mit dem Blatt auf dem Objektiv hat mir gar nicht gefallen …”

“Ich würde Sie gern in einer Angelegenheit sprechen, die vor einiger Zeit die Polizei beschäftigt hat.”

Wir taxierten uns. Er hatte sympathische Augen aber einen etwas zu herben Zug um den Mund. Genau so streng, wie es sich für einen Mann in seinem Job gehörte.

“So? Na, da haben Sie Glück. Ich bin gerade dabei, für ein paar Wochen zu verreisen. Eine Kreuzfahrt durchs Eismeer.” Seine Stimme klang überraschend verbindlich. Ich nahm an, dass er fürs Eismeer schon seine Badehose eingepackt hatte, die Jahreszeit war günstig.

“Worum geht's denn?”, fragte er, als ich keine Anstalten machte, weiterzureden. “Doch wohl nicht immer noch um dieses arme thailändische Ding, das in meinem Swimmingpool ertrunken ist? Ich dachte, die Sache sei längst ausgestanden? Aber lassen Sie uns lieber ins Wohnzimmer gehen, da ist es gemütlicher.”

Das Haus war trotz des beginnenden Winters ungeheizt und düster und ungefähr so gemütlich wie die Lagerhalle eines Möbelspediteurs. Beim Eintritt entdeckte ich am Kaminsims im Bilderrahmen den Ausriss einer Zeitung, auf dem zwei junge Schwimmchampions in die Kamera lächelten. Die Schlagzeile lautete:

Kann Keißen junior an die legendären Siege seines Vaters anknüpfen?

Sie waren so drahtig und durchtrainiert, wie man’s nur eine gewisse Zeit lang im Leben sein kann, etwa zwischen achtzehn und achtundzwanzig. Das Wasser auf ihren braunen Bizeps perlte, als seien sie eingeölt. Keißen junior hielt seine Trophäe ins Bild. Er hatte einen Igelhaarschnitt, und seine glatte hohe Stirn über den etwas zu engstehenden düsteren Augen hätte keinen Seelenklempner glücklich gemacht, was die Prognose für sein ferneres Leben anbelangte. Der Name des anderen Schwimmers, der vertraulichen Haltung nach vielleicht ein Freund Keißen juniors, sagte mir nichts: Fritz Marten.

Ich setzte mich in einen der kalten, knarrenden Sessel am Fenster, von denen aus man in den Innenhof mit seinem Flachdachgebäude blicken konnte. Ich nahm an, dass sich darin der Swimmingpool befand.

“Macht's Ihnen was aus, wenn Sie uns in der Küche einen Drink mixen?”, fragte Keißen. “Ich habe keine sonderlich glückliche Hand dabei. Meine Gäste beschweren sich immer darüber, dass ich nie die richtige Mischung treffe.”

“Gern.” Ich mixte uns nebenan einen Cocktail nach dem Rezept von “Stausee-Spezial”, das ich auf der Karte der Hotelbar gelesen hatte. Er sah genauso trübe aus wie das Wasser im See, obwohl die Schwermetalle und Schadstoffe durch Tequila und Fernet Branca ersetzt worden waren.

Als ich in den Salon zurückkam, war der Zeitungsausschnitt vom Kaminsims verschwunden.

Ich erzählte Keißen meine Geschichte. Ich beschrieb ihm, wie mich die beiden Anwälte aufgesucht hatten. Ich schilderte ihm Sum Nongs “Entführung” und dass sie aus dem Hotel verschwunden war. Ich machte auch keinen Hehl daraus, dass sie mir gestanden hatte, sie sei Nams Zwillingsschwester. Keißen hörte mir schweigend zu. Seine Hände zitterten manchmal, aber nur ganz unmerklich.

“Ich habe seit meiner Jugend ein Diplom als Rettungsschwimmer”, sagte er. “Ich hätte das Mädchen sicher an Land gezogen, wenn ich damals zur Stelle gewesen wäre. Nam war eine gute Gesellschafterin. Sie sprach zwar nur wenig Deutsch, und von meinem Schulenglisch ist nicht mehr viel übriggeblieben in all den Jahren, aber mir genügte es schon, dass sie da war.”

“Sie leben allein?”

“Seit dem Tode meiner Frau.”

“Ein ziemlich großes Haus für einen alleinstehenden Mann.”

“Ich bin ein Mensch, der das Gefühl braucht, es gebe keine Wände um ihn herum. Es gibt sie zwar, überall in der Welt gibt es Wände, solche und solche. Daran kann man wohl nichts ändern. Aber in irgendeiner Wand befindet sich eine Tür, die weiterführt. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?”

“Ehrlich gesagt, nein.”

“Ihre Antworten sind ziemlich unverblümt, Winger. Aber keine Sorge, ich mag das. Ich mag Menschen, die eine eigene Meinung haben.”

“Und was macht Sie so sicher, dass ich zu diesen klugen Knaben gehöre?”

“Manchmal reichen schon wenige Worte, um jemanden einzuschätzen.”

“Bei Ihnen könnte ich das guten Gewissens nicht behaupten …”

Er lachte. Wir taxierten uns wie zwei Boxer im Ring, die nach einer Schwachstelle suchten. Die Magengrube? Ein Schlag in die Nieren? Oder aufs Glaskinn?

“Wieso?”, fragte er.

“Am Geld kann’s nicht liegen, dass Sie so zurückgezogen leben, hab’ ich recht?”

“Na, was man so zurückgezogen nennt. Mir ist es allemal lieber, meinen Dachgarten in Schuss zu halten, als mich mit den Verrückten da draußen herumzuschlagen. Die eigentlichen Geisteskranken stecken nicht in den Irrenhäusern, sondern machen Politik und Geschäfte. Oder laufen frei herum und verkaufen den Leuten ihre fixen Ideen als ewige Wahrheiten. Sehen Sie sich doch an, was in der Welt passiert. Giftgasanschläge auf die U-Bahn in Tokio, Bombardierungen von Kurdendörfern im Irak, und der Krieg in Jugoslawien nimmt kein Ende …”

“Sum Nong ist nicht zufällig bei Ihnen?”, erkundigte ich mich.

“Nein, warum sollte sie?” Seine alten Augen leuchteten vor Spott. Obwohl seine Hände nach dieser Frage wieder ganz leicht zu zittern begannen. Vielleicht, weil der Gedanke an Nam und die Idee, er könne sie durch ihre Zwillingsschwester ersetzen, ihn nicht ganz unberührt ließ.

“Wie haben Sie und Nam miteinander gelebt? Wie haben Sie den Tag verbracht? Das arme Mädchen aus einer anderen Welt und der Geschäftsmann? Trete ich Ihnen zu nahe, wenn ich danach frage …?”

“Sie meinen, wegen unseres Altersunterschieds? Das denkt man doch immer in solchen Fällen. Reicher alter Knacker kauft sich hübsches junges Ding, um das Gefühl zu haben, er sei noch nicht ganz aus dem Rennen. Normalerweise würde ich niemandem auf so indiskrete Fragen eine Antwort geben”, sagte er verächtlich. “Aber bei Ihnen ist das was anderes, Winger. Kommen Sie, ich zeige Ihnen meinen Dachgarten …”

Wir nahmen unsere Gläser mit nach oben, und als er mir die Hand auf die Schulter legte und die Eisentür zum Dach aufschob, hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, einen guten Freund gewonnen zu haben, bei aller Vorsicht, was solche Superlative anbelangt, weil er mich aus irgendeinem Grund, für den man niemals wirklich eine Erklärung findet, in sein Herz geschlossen hatte.

Obwohl ich das Gefühl nicht loswurde, dass sein Herz ein großer Eisklumpen war, so kalt wie das Wasser, in dem er schwamm, und dass ich eher auf der Oberfläche des Eises herumkrabbelte wie ein Käfer, der aufpassen musste, sich nicht die zarten Füßchen zu verkühlen.

Keißens Dachgarten war eine Sache für sich. Er nahm fast das ganze Flachdach des Traktes ein und hatte eine Länge von etwa sechzig mal fünfundzwanzig Metern. Wenn man an der Brüstung stand, konnte man die Masten der U-Bahn sehen, die hier für ein paar hundert Meter wegen der Bergbauschäden den Untergrund verließ und am Naturkundemuseum wieder im Boden versank.

 

Die meisten Gewächse standen in steinernen Kübeln und flachen Behältern, lediglich in der Mitte des Gartens war der Boden zu einer größeren Anbaufläche aufgeschüttet.

Ich hatte gar nicht gewusst, dass in unseren Breiten so viele tropische Pflanzen gedeihen. Aber dann entdeckte ich die Fußbodenheizung und sah, dass man die beiden Plastikkuppeln an den Seiten der Fahrstuhltürme bei schlechter Witterung ausfahren konnte. Auf diese Weise wurde sein Dachgarten zum Treibhaus.

“Hier arbeite ich fast jeden Tag bis spät in die Nacht”, erklärte er stolz. “Sehen Sie sich mal die Blütenpracht an, Ralf. Das ist die Frucht eines langen Lebens, dazu braucht es Liebe zu den Pflanzen und viel Wissen. Solche Blüten gibt’s nicht mal im exotischen Garten. Und das um diese Jahreszeit.

Die Botaniker kommen zu mir und lassen sich erklären, wie es geht. Aber bei ihnen klappt es nicht. Sie können meine Ergebnisse nicht reproduzieren, weil die Seele nicht dabei mitspielt”, sagte er und tippte sich an die Schläfe. “Es sind nur Techniker, Verstandesmenschen. Sie haben kein Herz für Pflanzen.”

“Beeindruckend”, sagte ich und stellte mein Glas auf dem Tisch ab. “Wirklich beeindruckend …”

“Nam und ich haben fast jeden Abend hier gesessen.” Er zeigte sichtlich betrübt auf eine Gruppe Liegestühle unter dem durchsichtigen Kunststoffdach. “Wollen Sie ein Foto von ihr sehen?”

“Nein, ich hatte bereits Gelegenheit, das ebenso ansehnliche Duplikat zu begutachten.”

“Ihre Schwester – ja, richtig. Nam war mein Leben. Sie stammte aus einem Dorf an der Küste. Ihr Vater arbeitete als Gärtner in einem Touristenhotel. Er fuhr jeden Tag über fünfundzwanzig Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit, um das Geld für den Bus zu sparen. Dabei sind die Buspreise in ihrem Land lächerlich billig.”

“Wie hat Nam denn all Ihren Reichtum verkraftet?”, fragte ich.

“Oh, sie war nicht sehr anspruchsvoll. Und Sie sehen ja, wie ich lebe. Ich mache mir nicht viel aus Möbeln und teueren Einrichtungen."

“Wie haben Sie den Tag verbracht?”

“Nam schwamm gern. Genauso wie ich.”

“Sie haben einen eigenen Pool, nicht wahr?”

“Es ist der große Flachbau da unten”, sagte er und zeigte in den Innenhof. ”

“Da ist sie ertrunken?”

“Seitdem kann ich es kaum noch ertragen, dort zu schwimmen.”

“Was halten Sie denn davon, dass der Gerichtsmediziner glaubt, sie sei kerngesund gewesen zum Zeitpunkt ihres Todes.”

“Glaubt er das?”

“War sie’s etwa nicht?”

“Oh, ich war sehr bemüht um ihre Gesundheit. Das Klima hier in unserem Land ist für Asiaten nicht besonders zuträglich. Sie leiden alle darunter. Es darf kalt oder warm sein, so kalt wie im Himalaja, das überstehen sie schon. Aber nicht ein halbes Jahr bedeckter Himmel und feucht.”

“Na, hier bei Ihnen ist’s ja auch nicht gerade anheimelnd, ich meine, was die Heizung anbelangt …”

“Weil die Anlage defekt ist. Diese Burschen schaffen es nicht, den Regler für die Luftzufuhr einzustellen. Ich prozessiere schon seit Wochen mit dem Hersteller.”

“Vielleicht sollte Sie einfach mal ‘ne Schippe Briketts nachlegen, Keißen?”

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig, als ich ihm unterstellte, er sei ein alter Geizkragen, der seine Mitmenschen lieber frieren ließ. Aber dann fand er wohl heraus, dass es nur eine gezielte Provokation war, um ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. Und er war nicht gewillt, sich diese Blöße zu geben. Er lächelte und taxierte mich, als sei ich ein abbruchreifes oder renovierungsbedürftiges Haus, mit dem er vielleicht einen guten Schnitt hätten machen können, wenn's ihn gerade an der Stelle gejuckt hätte. Aber es interessierte ihn nicht.

“Gehen wir wieder nach unten, ja?”

‘Nach unten’ war wohl nur die höfliche Umschreibung von ‘Jetzt aber raus, mein Lieber’. Auf der Treppe fiel ihm ein, dass er vor seiner Abreise noch ein paar wichtige Telefongespräche ins Ausland zu führen hatte.

“Sie sind doch mindestens genauso stark daran interessiert, etwas über Nams wahre Todesursache zu erfahren wie ihre Familie und die Polizei”, sagte ich. “Oder liege ich da falsch?”

“Hat Nams Familie Sie beauftragt?”, fragte er.

“Ich suche ein verschwundenes Mädchen, das ist alles.”

“Und für wen arbeiten die beiden Anwälte, die Sie engagiert haben?”

“Keine Ahnung. Angeblich für einen Verein gegen den fortschreitenden Verfall der Sitten in der Stadt.”

“Das nehmen Sie ihnen ab?”

“Ich weiß nicht – ich weiß nicht, wem ich was abnehmen soll. Aber das ist in meinem Job schon fast so etwas wie eine Berufskrankheit …”

“Na, dann sehen Sie mal zu, dass Sie bald wieder von Ihrem Fieber genesen, Winger”, sagte er und reichte mir zum Abschied die Hand. Er brachte mich zur Haustür und ließ mich wissen, es sei zwecklos, noch einmal in derselben Angelegenheit vorzusprechen. Wegen des Eismeers.

Er hatte einen groben Fehler gemacht, und ich war fest entschlossen, herauszufinden, wieso.

6

Im Telefonbuch fand ich einen Fritz Marten, der draußen in der Gartenstadt wohnte. Als mein Taxi vor seinem Haus hielt, bellte hinter der Hecke ein Hund, und eine schlampig gekleidete junge Frau rief mir zu, ich solle mit den Schwulen im Nachbarblock anbändeln, sonst werde sie ihren Bullterrier auf mich hetzen. Ich erkundigte mich, ob sie Marten heiße, und als sie das bejahte, ob ihr Mann zu Hause sei.

“Sie wollen zu Fritz?”, fragte Sie. “Bitte entschuldigen Sie. Seitdem das neue Pissoir gegenüber gebaut wurde, treibt sich hier nur noch finsteres Gesindel herum.”

Marten saß unter einem Mahagonischrank voller Schwimmtrophäen. Er schien so ziemlich alles gewonnen zu haben, was es in der Branche zu holen gab, außer den Olympiamedaillen. Inzwischen war er leicht verfettet und hatte ein ungesund rotes Gesicht. Er rückte nur zögernd mit seinem Wissen über Keißen junior heraus. Es schien ein paar Dinge in ihrer gemeinsamen Vergangenheit zu geben, die ihm peinlich waren.

Erst als ich seine Frau bat, uns auf meine Kosten in der Gaststätte am Ende des Viertels etwas zu trinken zu besorgen, wurde er etwas redseliger. Er hatte Keißen junior in einem Internat kennengelernt, in das Keißen senior ihn gesteckt hatte, um ihn sich vom Halse zu schaffen. Alles, was Keißen an seinem Sohn interessierte, war einen ebenso asketischen und erfolgreichen Schwimmchampion aus ihm zu machen, wie er selbst einer gewesen war.

“Es geht darum, mehr über den Tod eines ertrunkenen Mädchens herauszufinden. Und über ihre Schwester, die vielleicht ebenfalls ertrinken könnte.”

Beim Wort “ertrunken” klappte Martens Unterkiefer herunter, als wenn ich einen unanständigen Witz gemacht hätte. Er sah mich auf eine merkwürdig starre Weise an, gefasst und zugleich peinlich berührt.

“Ich möchte nicht, dass meine Frau von den alten Geschichten erfährt.”

“Gab es Probleme mit Keißen junior?”

“Probleme … nein. Na ja, wie man’s nimmt. Haben Sie schon mal jemanden ohne Probleme gesehen …? Ich glaube … also, wenn Sie mich so direkt fragen …”

Die Art, wie er herumdruckste und meinem Blick auswich, gefiel mir nicht. So benahm sich nur jemand, der kein reines Gewissen hatte. Reines Gewissen relativ gesehen und was die schweren Verbrechen anbelangte, denn wir haben alle kein reines Gewissen – oder dürften zumindest keins haben bei all den hungrigen Mägen und klapperdürren Gespenstern in der Welt und unseren Fettbäuchen.

Schon die Anhäufung von mehr Geld, als man in einem langen Leben vernünftigerweise verbrauchen kann, ist unmoralisch. Es ist unmoralisch, jetzt nicht sofort etwas dagegen zu unternehmen, und es ist unmoralisch, lang und breit darüber zu reden und danach auch nichts dagegen zu unternehmen. Wäre ich ein Moralapostel, würde ich vorschlagen:

Erschießen wir uns gegenseitig! So bleibt das Verbrechen unter uns.

Marten nahm die Flasche, die seine Frau auf meine Kosten besorgt hatte, aus der Papiertüte – irgendein mit Wasser und viel künstlichem Aroma auf Trinkstärke herabgesetzter klarer Alkohol –, drehte den Verschluss ab und trank einen Schluck ohne Glas. Dabei blickte er verdrießlich zu seinem Schrank voller Schwimmtrophäen hinauf und murmelte etwas, das ich nicht verstand.

“Sie wollen mir zu verstehen geben, es sei irgend etwas falsch gelaufen mit Keißen junior, und Sie würden’s sich ja gerne von der Seele reden, weil ich schon mal da bin? Aber so einfach geht das alles nicht?”

“Robert war ziemlich unglücklich über die ehrgeizigen Pläne seines Vaters. Er ging ihm aus dem Wege. Keißen wollte immer nur Trophäen sehen. Was sonst noch in seinem Sohn vorging, hat ihn nie interessiert. Roberts Standardspruch, falls er sich überhaupt dazu herabließ, außerhalb der Schulstunden mit jemandem zu reden, war: ‘Hast du schon mal versucht, dir selbst beim Denken zuzusehen?’

Wenn sie mich fragen, war Keißen junior chronisch depressiv.”

“War oder ist?”

“Er starb bei einem Autounfall. Sein Wagen rollte während einer Kanalüberfahrt von der Fähre und versank zwischen Plymouth und Cherbourg im Meer.”

“Auch nicht der Tod, den sich ein Schwimmchampion wie er wünschen würde?”

“Das Wasser schien ihn magisch anzuziehen, eine Art Hassliebe, glaube ich. Wir trainierten zusammen im Swimmingpool des Internats. Man kann nicht sagen, dass ihm das keinen Spaß gemacht hätte. Aber seine Laune besserte sich erst, als wir ein hübsches neues Spiel entdeckten …”

Marten schwieg, weil seine Frau hereingekommen war. Sie nahm ein paar Gläser aus der Vitrine und stellte sie vor uns hin. Er wartete ab, bis sie wieder gegangen war und man sie in der Küche hantieren hörte …

“Ich hab’s noch keinem Menschen anvertraut. Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen.”

“Wäre ich einer meiner gewitzten Kollegen in der Branche, würde ich sagen, jetzt ist die beste Gelegenheit dazu, es nachzuholen. Aber Sie können sicher sein, dass ich Verständnis für Ihre Skrupel habe, einen langjährigen Freund in die Pfanne zu hauen, obwohl er ja inzwischen tot ist, wie Sie selber sagen. In dem Fall will ich auch nicht weiter in Sie dringen”, erklärte ich und erhob mich probeweise ein paar Zentimeter von meinem Stuhl – aber nur soviel, dass er noch genügend Zeit hatte, mich daran zu hindern.

“Nein, bleiben Sie ruhig sitzen”, sagte er. “Es ist nur … ich muss mich erst an den Gedanken gewöhnen.”

“Lassen Sie sich Zeit. Ich hab’s nicht eilig.”

“Meine Frau darf auf gar keinen Fall etwas davon erfahren”, wiederholte er.

“Warum sollte sie?”

“Das wäre sehr unangenehm für mich. Sie ist ziemlich empfindlich, empfindlicher als andere Frauen.”

“Sie können sicher sein, dass ich alles, was Sie sagen, vertraulich behandeln werde. Mord mal ausgenommen, weil uns das eine Menge Ärger einbringen könnte.”

“Nein, als Mord würde ich es nicht bezeichnen”, sagte er. “Es war kein Mensch, sondern ein Hund. Der Hund des Hausmeisters. Er kam oft zu uns in den Pool gesprungen. Wir haben ihn beim Tauchen an den Hinterpfoten unter Wasser gezogen, bis er … ja, bis er ertrunken war …” Marten machte eine Pause. “Ich fühlte mich ziemlich elend danach. Es war wie ein Rausch – der strampelnde Hund, der unter Wasser grässlich jaulte, die Luftblasen … Robert schien förmlich aufzuleben. Von dem Tag an war er wie verwandelt.”

“Sie wollen sagen, er hatte so etwas wie seine Passion entdeckt?”

“Klingt scheußlich, nicht wahr? Aber das war es wohl, eine Passion. Wir vergruben die Hundeleiche im Internatsgarten. Ich schwor mir, so etwas nie wieder zu tun. Der Hausmeister schaffte sich einen zweiten Hund an. Er kam ein paar Wochen später auf dieselbe Weise um. Diesmal hatte Robert sich nicht mal die Mühe gemacht, seine Leiche zu vergraben. Er ließ das Tier einfach im Swimmingpool liegen.”

“Sie meinen, zu dem Zeitpunkt hatte er schon nicht mehr alle Tassen im Schrank?”

“Seine Leistungen in der Schule wurden immer besser, und er gewann seine erste Trophäe. Dadurch verbesserte sich auch die Beziehung zu seinem Vater. Ich stellte ihn wegen des Hundes zur Rede, aber er lachte nur und behauptete, er habe nichts damit zu tun. Robert wurde mir immer unheimlicher, weil er einen seltsamen Ehrgeiz entwickelte. Er trainierte seine Lunge, bis er minutenlang unter Wasser auf dem Boden des Pools sitzen konnte, mit einem Bleigürtel beschwert. Ich ahnte, wozu dieses Training dienen sollte. Sein Verhältnis zu Frauen war genauso zwiespältig wie zum Wasser. Er hatte Angst vor ihnen, und trotzdem zogen sie ihn magisch an.”

 

“Was heißt das, Sie ahnten, wozu dieses Training dienen sollte?”

“Ersparen Sie mir lieber den Rest”, wehrte er ab. “Ich glaube, ich kann mit niemandem darüber sprechen. Ich lebe nur noch für meinen Schwimmverein. Ich bin kein Aktiver mehr, sondern nur noch Trainer, seitdem es mit meiner Gesundheit bergab geht. Aber das Silberzeug da im Schrank verschafft mir immer noch ein gewisses Renommee bei den Schwimmern. Wenn wir genügend Geld durch Spenden zusammenbekommen, haben wir eine Chance, im Frühjahr an den Meisterschaften teilzunehmen …”

“Hm, was halten Sie davon, wenn ich Ihnen mit einem kleinen Obolus dabei behilflich bin?”

Ich nahm zwei Geldscheine aus Everdings Umschlag und legte sie zusammengefaltet unter den Ascher. Marten konnte die Farbe der Scheine durch das Glas erkennen, und seinem Gesicht war anzumerken, dass ihn meine Spende beeindruckte.

“Sie meinen, als Gegenleistung dafür, dass ich rede?”

“Nennen wir es lieber einen kleinen Vertrauensbeweis. Sie bekommen das Geld und die Zusicherung, dass Ihre Name bei meinen Ermittlungen keine Rolle spielen wird.”

“Und wer garantiert mir, dass ich Ihnen glauben kann?”

“Niemand, außer meiner Wenigkeit. Sehen Sie mir einfach in die Augen und versuchen Sie sich ein Urteil darüber zu bilden, ob ich’s ehrlich meine, Fritz. Viel mehr Sicherheit ist in dieser Welt nun mal nicht zu haben. Allerdings sollten Sie sich klarmachen, dass ich Roberts merkwürdigen Spielchen beim Schwimmen auch ohne Ihre werte Mitarbeit auf die Spur kommen werde.”

“So, was macht Sie da so sicher?”

“Ich bin nicht erst seit gestern in dem Gewerbe. Das nächste Opfer im Pool war eine Frau, hab’ ich recht?”

Marten starrte mich eine Zeit lang überrascht an, als könnte ich seine Gedanken lesen.

“Wie kommen Sie darauf? Ich habe noch mit keinem Wort erwähnt, dass Robert in irgendeiner Weise Menschen attackiert hat, geschweige denn Frauen”, protestierte er. “Das können Sie mir nicht unterstellen …”

“Will ich auch gar nicht. Regen Sie sich wieder ab, Fritz. Erzählen Sie mir einfach mehr über Ihre Vermutungen – nur über Ihre Vermutungen. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass Sie nicht direkt daran beteiligt waren?”

Marten schwieg, als sei er nicht ganz sicher – als denke er immer noch darüber nach, ob er mir die Sache wirklich anvertrauen konnte.

“Sagen Sie mir einfach, was Sie wissen. Reden Sie frei von der Leber weg.”

“Im Grund weiß ich noch viel zu wenig darüber. Nehmen Sie Ihr Geld wieder mit, meine Informationen sind keine zweihundert wert”, sagte er ohne besonderen Nachdruck.

“So? Na, wie Sie wollen …”

“Als eine junge Angestellte der Schule fast ertrank, weil sie beim Schwimmen von einem Unbekannten an den Fußgelenken unter Wasser gezogen worden war, bat ich meine Eltern, in ein anderes Internat zu wechseln. Das Mädchen kam mit dem Schrecken davon. Ich glaube, Robert spielte nur mit ihr. Er wollte sie nicht töten. Sie war nichts weiter als ein Spielzeug für ihn.”

“Sie haben sich nie dazu durchringen können, der Polizei von Ihrem Verdacht zu berichten?”

“Weil es keinen Grund dazu gab. Ich habe erst nach dem Unfall auf der Fähre wieder von ihm gehört.”

“Als man seine Leiche geborgen hatte?”

“Das Meer nördlich der Kanalinseln ist sehr tief. Der Boden besteht aus meterhohem Schlick. Die Kosten, um den Wagen zu heben, wären zu hoch gewesen. Aber es gab genügend Augenzeugen für seinen Unfall.”

“Was denn, Keißen junior wurde gar nicht …?”

Ich dachte an Nams erbärmliches Ende und dass Sum spurlos verschwunden war. Und wenn Robert Keißen noch lebte und schon wieder ein neues Spielzeug gefunden hatte? Nicht auszudenken, in welcher Gefahr Sum sich dann befand …

“Die Polizei geht davon aus, dass er damals am Steuer saß.”

“Und wieso?”

“Dafür gibt es wie gesagt genügend Zeugen.”

“Wie viele Zeugen denn? Drei, vier – oder zehn?”

“Zwei Londoner Angestellte. So stand es damals in den Zeitungen. Sie waren gerade dabei, etwas aus ihrem Kofferraum zu holen, deshalb hielten sie sich in unmittelbarer Nähe seines Wagens auf.”

“Sie haben diese alten Zeitungen nicht zufällig aufbewahrt, weil Robert Ihr Freund war?”, erkundigte ich mich.

“Wegen der Namen der Zeugen, meinen Sie? Doch, sie müssen noch dort oben im Schrank liegen, wenn mich nicht alles täuscht”, sagte er ohne das geringste Anzeichen von Bereitschaft, aufzustehen.

“Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern einen Blick auf die Artikel werfen.”

“Glauben Sie etwa, Robert wäre damals …?”

“Gar nicht ums Leben gekommen, wollen Sie sagen? Ich will nicht behaupten, dass ich das glaube, aber ich halte es für möglich. In meinem Gewerbe hält man fast alles für möglich, was nicht ausdrücklich gegen die Regeln der Logik verstößt. Haben Sie ein Foto von Robert?”

“Nur ein großes Zeitungsfoto, das uns beide während der Preisverleihung zeigt.”

Es war das gleiche Bild, das Keißen im Rahmen auf seinem Kaminsims stehen gehabt und noch während meines Besuchs eilig weggeräumt hatte. Die Lokalzeitung nannte zwei Namen von Zeugen: Brian Free arbeite für eine Londoner Agentur, Richard Hoyd sei in der britischen Atomrüstung tätig.

Keißens Wagen war über eine leichte Deckschräge am Ende der Fähre ins Rollen gekommen und hatte eine Planke durchschlagen, die provisorisch bei Reparaturarbeiten am Geländer angebracht worden war. Ein klarer Fall von Fahrlässigkeit der Schiffsbesatzung.

Ich fuhr mit den beiden Zeitungen und dem Foto Robert Keißens zum Thailändischer Freundschaftsverein. Doch bevor ich mich noch einmal in Helgas Etablissement wagte, rief ich von der Telefonzelle gegenüber die Anwaltskammer und ein paar Freunde bei der Konkurrenz an, um herauszufinden, für wen Everding und Kranz wirklich arbeiteten.

Kranz war früher in der Politik tätig gewesen. Aber ihre Hauptbeschäftigung, so erklärte man mir, schien jetzt darin zu bestehen, für Keißen ausstehende Mieten einzutreiben und lästige Mieter hinauszuklagen.

Dann wählte ich die Nummer der Kanzlei.

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