Roulett

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2

"Aufschließen, Leo. Aber Vorsicht, ich bin hinter Ihnen. Sobald Sie eine falsche Bewegung machen ..."

"Tut mir leid, ich kann nicht die Hand vor Augen erkennen."

Das war gelogen, denn inzwischen konnte ich wieder einzelne Gegenstände unterscheiden. Siebzehn war meine Zimmertür, ein schiefhängendes, rotlackiertes Holzschild, unter dessen Ziffern jemand, vielleicht ein unzufriedener Gast, mit schwarzem Filzstift WC gemalt hatte.

Und irgendwo hinter uns im Hof saß Francesca, die Unnahbare, die Kindfrau, in französische Grammatik versunken oder auf einem fernen Eiland mit Kokospalmen verweilend, das ihr lüsterner Geographielehrer für sie beide als heimliches Refugium ausgewählt hatte.

Oder ließ sich das Fach einfach abwählen? War es ein tumber Mathematiklehrer, dem weiße Haarbüschel aus den Ohren sprossen?

Versuchte er sie in seine Gartenlaube am Stadtrand zu entführen? Wovon träumte sie gerade? Wie viel Millionen Kindfrauen hat es schon gegeben, die uns alten Kerlen den Kopf verdrehen!

Es ist, als bliebe die Nadel immer wieder in derselben Schallplattenrille hängen ...

"Geben Sie her." Er klapperte ärgerlich mit dem Schlüssel, und als er seinen Kopf durch den Türspalt steckte, bekam er prompt einen Hustenanfall wegen der abgestandenen Luft. Mamas Zimmer waren seit einem halben Jahrhundert weder gelüftet noch tapeziert worden. Sie hätten leicht in einem Museum für Wohnen um die Jahrhundertwende stehen können.

Die Fensterrahmen waren verschraubt, um Einbrechern und Zechprellern das Handwerk zu legen. Wenn man auf dem Bett lag, konnte man im einfallenden Sonnenlicht den Staub sehen. Er war wie eine miniaturisierte Galaxis, die immer wieder von unerklärlichen Kräften hoch- und durcheinandergewirbelt wurde (wie das echte Universum) und zu Boden sank, unaufhörlich, Millionen und aber Millionen Jahre lang.

So eintönig und monoton stelle ich mir das Leben des Spießbürgers vor. Es scheint völlig belanglos zu sein, ob er noch einmal wiedergeboren wird oder für immer in der feuchten Friedhofserde verschwindet.

"Leo, schlafen Sie nicht ein."

Langsam begann mir der schrille Klang seiner Stimme auf die Nerven zu gehen.

Ein Knarren war zu hören, als er die Schranktür öffnete – und weil sich das federnde Klavierband mitsamt den Schrauben von der Seitenwand gelöst hatte, schnellte es plötzlich vor und verfehlte nur knapp seinen Kopf. Er schnaufte ärgerlich.

"Ist das wieder einer Ihrer Tricks, Leo?"

Dann nahm er die gerahmte Korkplatte aus dem Fach, auf der meine Käfersammlung aufgespießt war. (Für den Laien gebrauche ich manchmal das Wort Käfer, obwohl Schaben mit Käfern eigentlich nicht näher verwandt sind.)

Er hielt sie schräg gegen das Licht, weil sich die Deckenlampe im Abdeckglas spiegelte …

Die meisten waren seltene Exemplare, zusammengetragen aus fünf Kontinenten, darunter ein paar prächtige Exemplare der "Amerikanischen Schabe", Periplaneta americana, und zwei mutierte "Orientalische Schaben", Blatta orientalis, bei uns auch Küchenschabe, Kakerlak genannt, die ihre gewöhnliche Größe von neunzehn bis fünfundzwanzig Millimetern aus unerklärlichen Gründen verdoppelt hatten.

In ihren Panzern steckten schwarze Nadeln. Als ich sie einmal in Nürnberg einem Experten zeigte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Seiner Meinung nach konnte ihr Riesenwuchs nur von der radioaktiven Strahlung aus Tschernobyl herrühren.

"Pfui Teufel, was ist das denn, Leo?"

"Sehen Sie einfach weg, wenn Sie's nicht aushalten können. Mein Pass liegt unter der Wäsche."

Er stellte die Platte so beiseite, dass ihre Sperrholzseite nach oben zeigte.

Als er sich vorbeugte, ließ ich meine Sammlung auf seinen spärlich behaarten Schädel niedersausen. Das Glas zersplitterte, und ein paar der hellbraunen Käfer fielen auf den Boden. Er sagte "Oh ..." und kippte zur Seite.

Ich suchte nach meiner Brille – sie lag unversehrt unter seinem Körper – und richtete mich auf, weil ich eine kaum merkliche Bewegung aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte ...

Gegenüber im Fenster des Treppenaufgangs stand Ernie und sah uns zu. Er hatte die Arme verschränkt und beobachtete uns wie ein erfahrener Wetter auf der Tribüne der Galopprennbahn, der sehen wollte, ob er aufs richtige Pferd gesetzt hatte. Ein anerkennendes Grinsen zog über sein Gesicht.

Ich grinste verhalten zurück. Was hätte ich auch anderes tun sollen? Er brauchte nur an die Rezeption zu gehen und die Polizei zu verständigen. Sie würden mich am Bahnhof oder an der Landstraße erwischen. Das Hinterland mit seinen Bergen, auf denen karge schwarze Rebstöcke und einzelne verfallene Bauernhäuser aus Felsstein standen, war um diese Jahreszeit feucht und unwegsam. Nach Monaco konnte ich nicht gehen, weil ich schon einmal wegen "Landstreicherei" ausgewiesen worden war (Landstreicher nennen sie dort jemanden, der momentan zu wenig Geld in der Tasche hat, um ihre horrenden Hotelpreise zu bezahlen).

Die Prozedur ist ungefähr folgende: Man wird gegen Mitternacht am Hafen von zwei Zivilen eingesammelt, die aussehen wie Mitglieder der Mafia, dann auf der Polizeiwache eine Stunde lang verhört – Dolmetscher gibt es nicht – und später in einen Polizeiwagen gesteckt und an die französische Grenze nach Menton verfrachtet.

Das Ganze hat Ähnlichkeit mit der Beförderung von Sondermüll.

Gnade dir Gott, falls du es wagst, dich zurückzuschleichen. Sie haben zwar keinen Grenzposten, aber ein Heer von wachsamen Nachtwächtern in Zivil, die selbst noch die Bewegung einer sanft schwirrenden Libelle registrieren würden.

Meine Leiche gab unverständliche Laute von sich – Grunzen oder schwache Hilferufe – und griff nach meinem Fußgelenk. Ich stellte das freie Bein auf seine weißgefleckte Albinohand.

3

Ernie kam durch den Hofeingang herein. Er war die Ruhe selbst. "Fassen Sie mit an", sagte er und packte seinen rechten Schuh. "Wir bringen Kramer erst mal auf sein Zimmer. Da können wir weitersehen."

"Glauben Sie, dass er wieder zu sich kommt? Ich musste ihm eins über den Kopf geben, weil er versucht hat, nach meinem Bein zu greifen."

"Seine Lippen sehen blau aus", sagte Ernie nachdenklich. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Ob Schlaganfall oder Kreislaufversagen. Er schob sein rechtes Augenlid hoch und betrachtete seinen Augapfel. "Hat Kramer Sie identifiziert?"

"Nein, er wollte meinen Pass sehen."

"Das haben Sie zu verhindern gewusst, was?" Ernie lächelte so breit, dass sein Schaukastengebiss blitzte und an einem Backenzahn ein kleines goldenes Emblem sichtbar wurde. Es sah aus wie ein winziger Adler, der seine Schwingen ausbreitete. Als wenn er gleich im Mund umherfliegen und sich auf der Zunge niederlassen würde, nachdem sich Ernies Lippen geschlossen hatten.

"Ich glaube, jetzt muss ich mir langsam Gedanken darüber machen, wie man ihn aus dem Weg schaffen könnte, oder?"

"Hm ..." Er wiegte nachdenklich den Kopf. "Meine Devise lautet: Niemals körperliche Gewalt anwenden. Gewalt erzeugt nur Gegengewalt, und zum Schluss werden wir auch noch um die Früchte unserer Arbeit gebracht. Das ist zwar eine Binsenweisheit, aber wir vergessen immer wieder, unsere Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Wir wollen nicht verstehen, dass wir früher oder später alle dem Untergang geweiht sind, wenn wir den alten Ratschlag Auge um Auge, Zahn um Zahn befolgen."

"Das schafft ihn mir nicht vom Hals", sagte ich.

"Sie müssen etwas mehr Geduld haben. Sie müssen nachdenken und Ihren Verstand einsetzen, Leo."

"Lassen Sie uns das Wrack einfach in den nächsten Bach werfen, vielleicht ist er Nichtschwimmer."

"Nein, dort würde man ihn finden. Die Agentur wird erst ihn und dann Sie finden. Ein Mord wäre nicht das, was Sie in Ihrer Lage brauchen können, Leo. Denken Sie mal nach."

"Hm, ich muss ihn loswerden. Er hat mich hier aufgespürt, und wenn er wieder zu Bewusstsein kommt, wird er den Polizeiposten am Hafen verständigen. Sie werden mich in eine dieser winzigen Zellen werfen, die auf den Misthaufen und die Abtrittbuden blicken. Ich bin zu sensibel, um das auszuhalten. Ich brauche Sonne und frische Luft."

"Und gutes Essen, nicht wahr? Sie sind ein Gourmet, Leo. Deshalb lassen Sie ja auch Ihre Krabbeltierchen laufen. Nach dem letzten Gang taucht so ein Teufelsbraten von Schabe aus Ihrer Trickkiste auf, läuft schnell wie ein Windhund durch das kalte Büfett, um sich an der Mayonnaise gütlich zu tun, und alle Gäste verlassen schreiend das Restaurant, ohne ihre Rechnungen bezahlt zu haben."

"Sie übertreiben."

"Zahlen Sie Ihre Rechnungen, Leo?"

"Nur, wenn ich muss. Anders als ein paar hysterische alte Damen pflege ich immer an meinem Tisch sitzen zu bleiben, bis der Kellner kommt."

"Mag sein, ja. Und aus welcher Terrine quillt ein ganzes Heer von Hausschaben, wenn man Ihnen die Rechnung präsentiert?"

"Blatella germanica. Sie sind nur dreizehn Millimeter groß. Kein Grund zur Aufregung."

"Aus Ihrer Terrine, Leo – immer aus Ihrer. Aus Ihren Salaten kraucht das Ungeziefer hervor. Hab ich die gleiche Geschichte nicht schon mal in einem Hollywood-Film gesehen?"

"Das war nur ein schwacher Vorläufer", sagte ich missmutig. "Meine eigene Idee ist viel ausgefeilter. Ich habe den Film erst später gesehen. Er war wirklich nicht der Rede wert."

"Natürlich wollen Sie das Recht des Erfinders für sich reklamieren?"

 

"Ruhm ist mir schnuppe, ehrlich gesagt. Ich würde kein Copyright dafür verlangen. Ich habe zu lange an diesem Trick gearbeitet, als dass ich mir darüber Gedanken machen sollte. Vielleicht werde ich eines Tages ein Lehrbuch über die Dressur von Kakerlaken schreiben, das in alle großen Sprachen übersetzt wird. Am dressurfreudigsten ist die Amerikanische Schabe, Periplaneta americana, rotbraun, dreiundzwanzig bis zweiunddreißig Millimeter lang. Bei guter Pflege wird sie sogar viereinhalb Zentimeter groß, ohne Fühler, versteht sich. Sie braucht viel Wärme und Zuneigung und dunkle, feuchte Plätze. Ein hellbeleuchtetes Büfett mit tellerklappernden Gästen ist nicht der Platz, an dem sie sich besonders wohlfühlt, aber man kann sie daran gewöhnen. Es sind sehr verständige Tierchen. Man muss nur wissen, wie man sie zu nehmen hat."

"Und jetzt sind Sie pleite und abgebrannt? Sie sind hier untergekrochen, weil kein Kellner in Europa mehr auf ihre Blatella germanica hereinfällt?"

"Blatta orientalis – die Hauptarbeit macht die Orientalische Schabe."

Nachdem wir seinen Zimmerschlüssel (Innentasche, Jackett) hatten, setzten wir ihn in den alten Frankfurter Ohrenbackensessel, den Goethe auf seiner Italienreise im Hotel vergessen haben musste, ein wurmstichiges Monstrum aus dampfgebogenem Eschenholz und dunklem Rindsleder, aus dessen Sitzpolster zwei stählerne Spiralen ragten.

Wie zum Beweis seiner Authentizität sah man darüber an der Wand auf einem Stich den Dichter malerisch hingeflegelt in fast dem gleichen Sessel mit Mütze und geknotetem Schal. Entweder stellte Kramer sich tot, oder die Spiralen waren weniger spitz als sie aussahen. Er verzog keine Miene. Die Bläue seiner Lippen hatte eine beängstigend dunkle Färbung angenommen.

"Glauben Sie, dass er noch mal zu sich kommt, Ernie?“, fragte ich skeptisch.

"Beten Sie zu den Urkräften des Universums dafür. Mord ist eine entscheidende Zäsur im Leben des Menschen. Sie werden nie wieder derselbe sein wie früher. Alles erscheint von da an im Lichte, fremdes Leben ausgelöscht zu haben.

Ich rede nicht davon, dass Sie nachts aus dem Schlaf aufschrecken. Die Wirkungen sind subtiler. Auf subtile Weise gefährlich. Ihre Blickweise verändert sich. Sie müssen sich rechtfertigen. Sie werden sich selbst gegenüber entweder Ihre Schuld bekennen und daran zugrunde gehen oder aber Ausflüchte gebrauchen, die Ihre Seele verhärten und Sie zum Zyniker und Menschenverächter werden lassen – weil das, was Sie zerstört haben, unbedingt in ihrer Wertschätzung verkleinert werden muss."

"Weil die Schuld sonst nicht zu ertragen wäre?"

"Das ist der springende Punkt."

"Haben Sie selbst schon mal jemanden umgelegt, Ernie?"

Er saß auf der Couch und schlug seine Beine übereinander. Die Bügelfalten seines hellgrauen Sommeranzugs waren so scharf, dass man damit Papier schneiden konnte. Ein unmerkliches Lächeln ging über sein Gesicht.

"Nun, sagen wir mal – ich war leider dazu gezwungen, in jungen Jahren."

"Aber jetzt sind Sie, wie man so schön sagt, sauber?"

"Ich habe dafür bezahlen müssen, Leo. Ich habe für mein Gewissen einen hohen Preis bezahlt. Ich habe die Bürde auf mich genommen, über mich und das Leben nachzudenken, und das ist kein leichtes Geschäft, wenn man es professionell betreiben will. Ein Haufen kleiner und großer Narren hat sich daran schon blutige Nasen geholt."

Ernie versprach mir, er wolle die Sache in Ordnung bringen. Er sagte, er habe eine Idee, wie man Kramer loswerden könne. Am frühen Abend kam er mit einer Sofortbildkamera zurück, um ein Passbild von ihm anzufertigen. Seine echten Papiere verbrannten wir im Waschbecken.

Unser Meisterdetektiv war wieder zu sich gekommen. Bis auf seinen Hinterkopf, an dem sich zwei mittelgroße Beulen gebildet hatten, sah er aus wie jemand, der zwar verzweifelt durch die Nase zu atmen versuchte (wegen der beiden weißen Handschuhe, die in seinem Mund steckten), aber ohne deswegen auch nur für einen einzigen Augenblick seine gesunde Gesichtsfarbe zu verlieren. Er verfolgte mit weit aufgerissenen Augen unsere Vorbereitungen.

"Und wenn er herzkrank ist?“, fragte ich, während wir ihn im Schutze der Dunkelheit zu Ernies amerikanischem Straßenkreuzer zu bringen versuchten (aber das war im Indianerland leichter gesagt als getan), einem weinrot lackierten Unikum von Wagen mit Fenstervorhängen und Ladeklappe, auf dessen Kotflügeln kleine blaue Grablaternen montiert waren.

"Sie meinen ...?"

Neben meinem Kopf schlug einer von Amarillos Saugpfeilen in die Scheibe der Hoftür ein – der dazugehörende Indianer war nirgends zu entdecken, deshalb trugen wir Kramer eilig ins Treppenhaus zurück.

"Halt, setzen wir ihn mal ab ... ist das da oben im Fenster nicht Francesca?“, fragte ich, als wir den zweiten Versuch starteten, um Kramer zum Wagen zu bringen.

"Sie sollten jetzt lieber keine Gedanken an die Frauen verschwenden, Leo. Wir haben ernstere Probleme."

"Ich glaube, sie hat uns beobachtet."

4

Wir fuhren die Küstenstraße entlang. In den Tunneln nebenan verlief die Eisenbahnlinie nach Marseille, und manchmal hörte man die schrillen Warnpfiffe der Lok, weil ein Bahnübergang aus den Bergen zum Meer hinunterführte. Um diese späte Stunde, kurz nach Mitternacht, war die Grenzabfertigung bloß noch eine Farce.

Der Zöllner am Schlagbaum verließ nicht einmal sein Häuschen, er hob nur müde den Kopf und tastete nach seiner nicht vorhandenen Uniformmütze, als wir vorüberfuhren. Ernie grüßte freundlich zurück.

Kramer lag hinten auf der Ladefläche unter Francescas Pferdedecke, Hand- und Fußgelenke so eng zusammengebunden, dass er in den Kurven auf der Seite liegen musste.

Er schnaufte unwillig, wenn sein Kopf gegen die gepolsterten Wände des Laderaums stieß. Das Gefährt schien früher als Leichenwagen gedient haben; in der Ablage über dem Schaltknüppel war ein kleine Madonna aus Porzellan montiert. Ernie hatte seine Verbindungen zur Unterwelt von Toulon und Marseille spielen lassen und einen richterlichen Einweisungsbescheid erwirkt. Er würde in der Pförtnerloge des Pflegeheims bereitliegen, das er für Kramer als künftiges Domizil ausgesucht hatte.

Dabei verlor er kein einziges Wort darüber, ob er gefälscht oder durch Bestechung erlangt worden war; es gehörte in den weitgezogenen Kreis seiner Betriebsgeheimnisse, die er mir erst viel später anvertrauen würde – wenn er das Gefühl gewonnen hatte, ich sei ein gelehriger Schüler und vertrauenswürdig genug, um zu lernen, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Hinter Antibes bogen wir in die Berge der Provence ab. Einmal sah ich schemenhaft aus dem Dunst neben der Straße das Hinweisschild Grasse auftauchen – die berühmte Parfümstadt. Als ich schon annahm, Kramers künftiges Heim liege mitten im Ort, umrundeten wir die von schwachen gelben Scheinwerfern angestrahlte Kathedrale. Es ging durch eine unbeleuchtete Toreinfahrt mit Regenpfützen, und gleich darauf befanden wir uns auf einer elenden Piste, die ein paar hundert Meter weiter zu einem von Pflastersteinen und Schlaglöchern durchsetzten Asphaltweg wurde.

Ernie stieg aus, seine auseinandergefaltete Straßenkarte in der Hand, um im Nieselregen den verschmierten Wegweiser über einem rosafarbenen Bougainvilleastrauch zu lesen. Er leuchtete das Schild mit der Taschenlampe an.

"Verfahren?“, fragte ich, nachdem er wieder eingestiegen war.

"Ich war zum letzten Mal hier, um meine Mutter abzuholen. Die alte Dame hatte sich wieder so weit gefangen, dass ich sie in ein Sanatorium am Zürichsee einliefern konnte. Die Pfleger in Südfrankreich verstehen ihr Handwerk. Es ist die mediterrane Ausgeglichenheit, die sie weniger unduldsam mit Kranken umgehen lässt als in unseren Breiten."

"Sie haben Ihre eigene Mutter in diese elende Gegend verfrachtet?"

"Weil sie die Provence liebte. Sie hatte ein Zimmer mit Blick aufs Meer. Es ist zwar weit entfernt, aber an klaren Tagen glaubt man die Küste von Korsika zu erkennen. Vielleicht sind es ja nur dunkle Wolken, die wie Berge aussehen", meinte er bekümmert, als übermanne ihn bei diesen Worten die Erinnerung.

Wir rumpelten weiter über den Asphaltweg. In den Kehren glommen unter uns die Lichter der Küstenstraße auf. Sie waren wie ein Bandwurm, der sich im Dunst der Halbinsel von Hyeres verlor.

"Verraten Sie mir Ihr Geheimnis, Leo – wie haben Sie das Ungeziefer abgerichtet?"

"Oh, wenn man ihre Zuneigung gewonnen hat, sind sie ganz lernwillig."

"Zuneigung bei Kakerlaken?" Er lächelte unmerklich.

"Ich glaube, sie mögen mich. Sie geben es mir dadurch zu verstehen, dass sie aufgeregt mit den Fühlern winken, wenn ich ihre Schachtel öffne. Bei Fremden würden sie in Panik geraten."

"Bewusstsein besteht immer aus der gleichen Substanz", sagte er. "Die Gefühle sind überall dieselben: Freude, Angst, Entsetzen ..."

"Ja, da mögen Sie recht haben. Eine bemerkenswerte Einsicht."

"Sobald wir das verstanden haben – ich meine, wirklich im tiefsten Innern realisiert und nicht bloß als kalte intellektuelle Einsicht wie ein Insektenforscher, der ein paar Fühler abtrennt, um hinter das Geheimnis ihrer Mechanik zu gelangen – werden wir die Tötung eines Tieres nur noch als Mord bezeichnen können."

"Deshalb leide ich mit ihnen, wenn sie krank sind oder im Restaurant vom Kellner zertreten werden."

"Sie sprechen mir aus der Seele, Leo. Aber diese ... Kakerlaken sind doch nicht Ihre Freunde geworden, weil Sie sie einfach als Partner betrachten? Sie müssen doch irgendeinen einen Dreh gefunden haben, um sie zu domestizieren? Erkennen die Viecher Sie überhaupt?"

"Manchmal sind sie ungehorsam. Dann zeige ich ihnen meine Sammlung aufgespießter Artgenossen. Das bringt sie wieder zur Räson."

"Hallo, Schwester Annette", sagte Ernie weit vorgebeugt in das Glasfenster der Pförtnerloge hinein. "Das ist aber eine Überraschung, Sie altes Unikum immer noch unter den Lebenden zu sehen! Sind Sie denn gar nicht tot zu kriegen?"

Ein uraltes Mütterchen mit weißer Schwesternhaube trat aus der Tür, um einen Blick auf mich und Kramer zu werfen – auf Kramer, der, von grün-roten Pillen aus Ernies Handschuhfach betäubt, kraftlos zwischen uns hing und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ihr zahnloser Mund bewegte sich, um einen französischen Fluch auszustoßen – aber ihre alten Augen waren voller Wiedersehensfreude.

"Das ist unserer neuer Patient. Er weigert sich, französisch zu sprechen. Versucht den Leuten weiszumachen, er sei Deutscher. Kümmern Sie sich nicht darum! Von diesen Pillen täglich eine", sagte Ernie und legte das Glas mit den grün-roten Kapseln in Schwester Annettes Hand (ich bemerkte, dass darunter eine größere Franc-Note lag). "Vergessen Sie um Gottes willen nicht seine Pillen, es würde seine epileptischen Anfälle nur verschlimmern."

Ernie bekam einen Briefumschlag ausgehändigt, den ein Bote vor zwei Stunden mit dem Motorrad abgeliefert hatte. Er musterte die Tafel mit dem Namen des Bereitschaftsarztes, dann wurden wir in die Aufnahme geführt. Ich versuchte Kramer davon abzuhalten, aus dem ebenerdigen Fenster in die Rosensträucher zu springen.

"Haben Sie das gesehen, Dr. Musseau?“, fragte Ernie den jungen Arzt, der mit einem Stethoskop um den Hals hereinkam. "Der Ärmste versucht sich wahrhaftig das Leben zu nehmen." Er reichte ihm Kramers neue Papiere, den Einweisungsbescheid und ein psychiatrisches Gutachten, das aus Toulon stammte. "Willem phantasiert in fremden Sprachen. Kümmern Sie sich nicht darum. Sein Vater ist ein Gemüsehändler aus Marseille, seine Mutter stammt aus Holland."

"Wir werden ihn erst mal in die geschlossene Abteilung bringen", sagte Doktor Musseau. "Später kam man weitersehen."

Ernie nickte bekümmert und schlug eine Fluse von seinem Hosenbein. "Ich halte es für dringend erforderlich, ihn vor seinem eigenen Zerstörungsdrang zu beschützen. Willem macht momentan die schwierigste Phase seines Lebens durch. Er glaubt, er sei Detektiv. Er hat alles, was er bei sich selbst nicht akzeptieren kann, in seine Umwelt projiziert, und versucht es auf diese Weise – im Namen des Gesetzes, als Streiter irgendeiner dubiosen Agentur für Recht und Ordnung – zu bekämpfen."

"Wir hatten schon schwierige Fälle hier als ihn", sagte Doktor Musseau. Dabei versuchte er seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben, aber angesichts seiner Jugend – er schien eben dem Hochschulalter entwachsen zu sein –, wirkte sein Bemühen eher rührend als überzeugend. "Ist Willem Ihr Verwandter?"

 

"Ich versprach seinem Vater, meinem verstorbenen Freund, am Totenbett, für Willem zu sorgen."

"Was ist mit seinen Händen?"

"Eine ansteckende Hautkrankheit. Halten Sie ihn lieber von den anderen Patienten fern."

"Wir werden für ein schönes Zimmer im geschlossenen Trakt der Anstalt sorgen", sagte Doktor Musseau und griff freundlich nach seinem Arm. "Nicht wahr, Willem – mit Aussicht auf die Küste?"

Willem warf ihm einen düsteren Blick zu, der alles mögliche bedeuten konnte, aber sicher keine Zustimmung. Ich war überzeugt, dass er weniger als fünf Worte Französisch verstand.

Auf der Rückfahrt kamen wir am frisch renovierten Kasino vorüber. Ein weißer Würfel mit Begonien an den Seitenkanten und einem Portal wie ein orientalischer Torbogen. Ernies Kinn deutete zu den dunkel getönten Türscheiben. Er sagte, er würde gern auf unseren gemeinsamen Erfolg einen Perron-Perdon (irgendeine selbst erfundene Mischung) mit mir trinken, aber die Bar sei noch nicht wieder geöffnet. Sein Gesicht hatte beim Anblick des weißen Würfels einen geradezu heiligen Glanz bekommen – als sei er ein frommer Muslim, der sich der Kaaba näherte. Vielleicht war Ernie ja Spieler und nur hier um die Neueröffnung des Kasinos abzuwarten?

"Da drinnen gibt es keine Uhren, Leo – und keine Fenster. Nur Glaskuppeln auf dem Dach, damit man in den Büros natürliches Licht hat. Die Spieler dagegen sind von der Zeit und vom Tageslicht abgeschnitten, um sich ganz ihrer Leidenschaft widmen zu können."

"Ich bin nicht sehr erfolgreich im Glücksspiel."

"Das lässt sich leicht ändern. Was halten sie davon, wenn ich Sie unter meinen Fittiche nehme und Ihnen ein paar kleine Tricks beibringe?" Er war rechts an den Bordsteinrand herangefahren. Vor uns lag das Portal des Kasinos. Die steinernen Löwen zu beiden Seiten der Treppe musterten uns in der Dunkelheit wie eine leicht zu jagende Beute.

"Vielen Dank für das Angebot, Ernie. Aber ich weiß nicht, ob ich zum Kasinolöwen tauge. Bei so vielen Menschen bekomme ich immer Platzangst."

"Wir sollten Sie gründlich durchstylen, Leo. Innerlich und äußerlich. Sie müssen neues Selbstvertrauen gewinnen, jetzt, wo Sie überall in Europa so erbärmlich aufgelaufen sind mit Ihrer Dressurnummer. Ich bin gerade in der glücklichen Lage, etwas Zeit für Sie erübrigen zu können – bis zur Eröffnung des Kasinos. Deswegen bin ich nämlich hier."

"Wenn Sie das für mich tun wollen ...?"

"Hand drauf."

Er stieg aus, und ich folgte ihm langsam um den Kasinobau. "Sehen Sie sich das an", sagte er, als wir an der Rückseite angelangt waren. "Glatte Wände, keine Fenster, keine Lieferanteneingänge. Nur ein paar Lichtkuppeln auf dem Dach. Die einzige Zufahrt außer dem Hauptportal ist über dem Häuschen des Wachpostens, wie bei einer mittelalterlichen Burgwache. Von dort aus wird das eiserne Schiebetor bedient. Ist man erst mal drin, dann sitzt man in der Mausefalle, weil die Betonwände der Einfahrt viel zu hoch sind, um wieder herauszukommen. Das Ganze ist besser gesichert als mancher sogenannte Hochsicherheitstrakt."

"Aber von vorn spaziert man einfach ungehindert hinein, oder?"

Er blieb stehen, musterte mich anerkennend und lächelte breit. Von einer der Dachlampen fiel etwas Licht auf sein Gesicht und seinen halbgeöffneten Mund und ließ den kleinen goldenen Adler mit ausgebreiteten Schwingen aufblitzen. "In die Kasinoräume, ja. Aber vor den Zugang zum Tresorraum haben die Götter die ausgefeilteste elektronische Sicherungsanlage des ganzen Kontinents gesetzt."

"Sind Sie denn auf den Tresor scharf, Ernie?"

"Na, sagen wir mal, es gehört zu meiner Lebensphilosophie, auf alles scharf zu sein, was mir einen sorgenfreien Lebensabend verschaffen könnte."

"Sie haben nichts in die Rentenversicherung eingezahlt?"

"Ich war zuviel unterwegs in der Welt. Außerdem widerspricht es meinem Grundsatz, dass jeder für sich selber sorgt. Sehen Sie mal, Ernie, ich habe lange darüber nachgedacht, warum das Nehmen zur vorherrschenden Haltung in unserer Zivilisation werden konnte. Es gibt nur drei Möglichkeiten: Geben, Nehmen und ein armer Schlucker sein. Der größte Teil der Menschheit gehört zur Kategorie drei, obwohl sie alle verständlicherweise wenig Wert darauf legen, dieser Klasse anzugehören. Geben kann man nur, wenn man hat. Also ist Nehmen Voraussetzung von Geben. Können Sie mir soweit folgen, Leo?"

"Ja, natürlich ..."

Wir umrundeten die Wasserspiele im Kasinopark. Er blieb zwischen den Heckenbögen stehen, zeigte über das blinkende Wasser der Teiche, in dem Seerosen schwammen, und fuhr fort: "All diese Reichtümer hätten niemals von einem allein angehäuft werden können. Aber sie gehören einem einzigen Menschen: Sheila Annaxos. Seit ihr Mann, der bekannte griechische Reeder, bei einem Sturm in der Karibik ertrunken ist, darf sie sich seines großen Vermögens erfreuen. Dieses Kasino ist nur ein neues Stück von vielen in ihrer Perlenkette. Und was schließen Sie daraus, Leo?"

"Dass Sheila Annaxos eine gute Partie gemacht hat?"

"Bleiben wir lieber bei meiner Definition. Sie muss es sich genommen haben. Genauer gesagt: sie hat es von ihrem Gatten bekommen, und der hat es sich genommen. Er hat genommen, was er kriegen konnte.

Niemand zahlt für ein Schiff voller Container oder eine Ladung Öl so viel, dass man dadurch zum Tankermillionär werden könnte. Er hat es sich auf andere Weise genommen. Durch Spekulationen und weil er seine Konkurrenten in den Ruin trieb. Durch Druck, Nötigung, durch Verpflichtungen, die andere ihm gegenüber besaßen, durch Absprachen.

Das Prinzip des Nehmens beherrscht die Welt, Ernie. Nicht der Wille zur Macht, wie mal jemand behauptet hat, der sich für klüger als alle anderen hielt. Das Nehmen ist die wahre metaphysische Struktur der Wirklichkeit.

Und nun sind wir schon einen guten Schritt weiter in unseren Überlegungen!

Etwas zu bekommen für etwas anderes wäre ein bloßes Tauschgeschäft. Arbeit für Ware, Geld für geleistete Arbeit, Äpfel für Birnen. Jemand benötigt ein Fahrrad und gibt dafür einen Anzug her.

Resultat: Man bleibt immer auf dem gleichen Stand. Nur die Art der Besitztümer ändert sich. Erst wenn wir mehr nehmen als wir gegeben haben, gelangen wir zu Reichtum. Aber woher stammt dieses Mehr eigentlich, Leo? Der andere ist in Not, sein Verlangen ist größer als seine Sparsamkeit. Also gibt er, mit oder gegen seinen Willen, etwas von dem her, was er hat, und der andere profitiert davon. Hier haben wir die letzte, die eigentliche Struktur des menschlichen Zusammenlebens. Es wird gegeben und genommen."

"Waren Sie mal Philosophieprofessor, Ernie?"

"Nein, ich hatte einen Lehrstuhl für Theologie in Frankfurt. Man warf mich aus dem Dienst, weil ich im Bahnhofsviertel ein paar Pferdchen laufen ließ."

"Kein Wunder, das verträgt sich nicht mit einem so gottesfürchtigen Beruf."

"Meine damalige Geliebte entdeckte, dass sie unter meinem Schutz sicherer arbeitete als ohne mich. Ich meinerseits begriff endlich, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Aber da ich deswegen noch lange nicht bereit war, meiner Liebe abzuschwören, als wenn das vom Beruf eines Menschen abhinge, kamen bald noch ein paar ihrer Freundinnen hinzu, die dringend desselben Schutzes bedurften."

"Getreu dem christlichen Motto, keine ausgestreckte Hand zu übersehen?"

"Das Bahnhofsviertel ist wirklich der reinste Raubtierkäfig."

"Sie waren ein waschechter Zuhälter, Ernie?"

"Nur im platonischen Sinne. Ideell, nicht materiell. Als Lehrstuhlinhaber für katholische Theologie war ich nie auf ihre Einnahmen angewiesen."

Wir stiegen in seinen Leichenwagen mit der kleinen Madonna aus Porzellan über dem Schaltknüppel, um rechtzeitig zu "Mamas Mitternachtspizza" im Salerno einzutreffen. Ein besonderer Service des Hauses, der die Traditionen der Armen im Lande weiterführt: Resteverwertung wie der Ursprung der ersten Pizza in Neapel. Ich wusste, dass Francesca – die göttliche, die unerreichbare Madonna – um diese Zeit das Essen servierte, während Mama sich mit dem Backkamin abplagte und Ströme von Schweiß über den gerollten Teig, die Salami und den geriebenen Käse vergoss. Ernie sagte, er wolle sich mal ansehen, wie ich mit Frauen umginge (warum ich so wenig Chancen bei Madonna hätte, um es genau zu sagen) und mir dann das Ergebnis seiner Analyse mitteilen. Ich dachte, es werde nicht viel zu analysieren geben dabei, außer dass ich mich in ihrer Gegenwart in ein stotterndes Wrack mit rotem Kopf und feuchten Händen verwandelte.

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